Guten Morgen!
Wie versprochen anbei mein kleines Geschenk für die Community.
Der Federkiel kratzt vernehmlich über die pergamentene Seite des Buches, in das der Librarius seine Eintragung vornahm. Sie haben die Außenbezirke erreicht. Das Grummeln, dass seit den frühen Morgenstunden zu vernehmen war, war beständig lauter geworden, und nun waren die Einschläge und Detonationen so nah gekommen, dass man sie auch spüren könnte. Jetzt wird es nicht mehr lange dauern. Ob ER die Wahrheit erkennen wird?
Eine weitere Detonation ließ den Boden erzittern und die raumhohen Bücherregale wackeln, so dass ein paar schlecht eingeräumte Exemplare zu Boden stürzten. Die marmorne Tischplatte zitterte unter seinen Händen und ließ einen Tintenklecks auf dem beinbeigem Vellum entstehen. Irgendwo splitterte Glas und ein Scherbenregen, der über den Marmorboden tanzte, machte von sich hören, als eine weitere Detonation mehrere Oberlichter eindrückte. Sie sind schon fast hier.
Asha Varun saß, nur mit einer Kutte aus Leinen bekleidet, hinter dem großen Naalholztisch am Kopf der Libraria Mundana. Von diesem Platz aus konnte man den ganzen langen, von hunderten Bücherregalen gesäumten Gang bis zu den vergoldeten Eingangstoren sehen, sehen wie der stahlblaue Himmel durch die Oberlichter zum greifen nah war und das Sonnenlicht über den weißen Marmorboden blitzte. Er hatte den Ort bewusst gewählt. Hier gab es keine Arkana, das Wissen dieser Bibliothek war rein, auch in den Augen der Angreifer unbefleckt. Die tausenden Bücher dieses Ortes enthielten keinerlei Rituale, magische Praktiken oder Anleitungen, sondern Aufzeichnungen zur Geschichte und Historie der größten Unternehmung der Menschheit. Der Wiederherstellung des Imperiums. Alles wird zu Staub werden.
Der Schreibtisch mit seinen imperialen Intarsien und der Gold geäderten Marmorplatte erschien Asha als passender Ort um der Kulmination der Schicksalsfäden beizuwohnen. Als hochrangiges Mitglied der Corvidae war ihm bewusst, dass schon immer alles auf diesen Punkt hinausgelaufen war, und er hatte es deshalb sauber vorbereitet. Gleich wird er kommen. Nur wie ER sich entscheiden würde, dass blieb ein Geheimnis des Schicksals.
Auch wenn die Schicksalsfäden unbeirrt zusammenliefen, konnte man ihren Lauf doch hin und wieder beeinflussen. Deshalb hatte sich Asha für die Tunika entschieden und seine Rot-goldene Servorüstung auf dem Ständer zur linken des Schreibtisches belassen. Seine alte Volkite Pistole lag zerlegt am Rande der Tischplatte. Sein Psi-Stab, an dessen Spitze die ewige, rauch-, geruchs- und hitzelose Flamme der Wahrheit loderte, steckte in ihrem Ständer drei Schritte zur Rechten des Schreibtisches – außer Reichweite. Er ist fast da. Asha wendete die Seite seines Tagebuchs – es war die Letzte. Ein Lächeln stahl sich über sein makelloses, edles Alabaster-Gesicht. Wie passend, dachte er. Weitere Detonationen ließen das Gebäude erzittern und weitere Folianten von unschätzbarem Wert stürzten zu Boden. Glas regnete vom Dach. Mit einem dumpfen Knall zerbarst das Tor am anderen Ende der Bibliothek. Asha nahm eine letzte Eintragung vor. Jetzt ist er hier. Ulf ist hier. Wie wird er sich entscheiden? Dann schloss er das Buch, legte den Federkiel weg, klappte das Tintenfass zu und wartete auf sein Schicksal.
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