Kapitel I
Der scharfe Blick des Weltenwanderers durchmaß das Rund der Versammlungshalle. Die IstuKarun hatten sich eingefunden, Ausgestoßene, die, der Pfade überdrüssig, ihr Weltenschiff verlassen hatten. Ob auch nur einer von ihnen sich hatte träumen lassen, was sie da draußen, in der vermeintlichen Freiheit des weiten Sternenmeeres, wirklich erwartete? Immerhin, bisher hatten sie überlebt, und sie waren hierhergekommen. Das machte sie zu den besten unter ihresgleichen. Wenn Zar Asuryan rief, kehrten seine Ranger zurück.
Mehrere hundert saßen auf den aufsteigenden Stufenrängen der Halle. Manche plauderten oder begrüßten lang nicht mehr gesehen Gefährten. Sicherlich prahlten auch einige mit ihren Abenteuern. Aber keine noch so fantasievoll ausgeschmückte Geschichte konnte heranreichen an die Fährnisse, die einen Wanderer tatsächlich auf dem Pfad des Ausgestoßenen erwarteten.
Firondhir und Illurayon hatten wahrscheinlich schon mehr erlebt als all die jungen Aeldari hier zusammen. Aber die Reise, die ihnen jetzt bevorstand, sollte alles Bisherige in den Schatten stellen. Mehr allerdings wusste Firondhir auch nicht. AreIdain Eathalvaën hatte nichts mehr als vage Andeutungen gemacht, als er sie zu sich gebeten hatte. Die Zukunft des Weltenschiffes Zar Asuryan würde eine neue Wendung nehmen, zum Guten oder zum Schlechten. Das hinge nun von ihnen ab.
Aber war es nicht immer so, wenn die Runenpropheten die Ranger heimriefen und den Kriegsrat sich versammeln ließen? Allerdings, Autarchen und Exarchen waren hier und heute nicht anwesend. Und auch von der anhaltenden Spannung, die das Bewusstsein eines Weltenschiffes durchströmte, wenn der Avatar Kaela Mensha Khaines seine Kräfte sammelte, war nichts zu spüren. Krieg stand nicht bevor. Nicht für die Bewohner des Weltenschiffes, nicht für die Aspektkrieger der Schreine der Asurya. Eine Aufgabe für die Ranger lag an. Heimliche Suche, stille Jagd.
Illurayon war der Vorausschauendere von ihnen beiden, und mehr als das. Seit sie sich kannten, hatte er stets so etwas wie die Führungsrolle übernommen. Und wohl deshalb war er es nun auch, den Eathalvaën zu einem vertraulichen Gespräch zu sich gebeten hatte. Aber sein Weggefährte hatte ihm noch nie etwas verheimlicht. Deshalb machte sich Firondhir darüber keine großen Sorgen.
Eathalvaën wandelte über die verschlungenen Wege des weitläufigen Parks unter der Kuppel der Seher. Der regelmäßige Lichtwechsel in den Biodomen des Weltenschiffes hatte grade die Hälfte der Dunkelphase überschritten. Auf einem Planten hätte man die Zeit wohl Mitternacht genannt. Das Fehlen des Tageslichts erlaubte den Blick auf die Sterne, deren weiß glänzende Lichtspitzen die hauchdünne, klare Kristallhaut der Kuppel durchdrangen. In der tiefblauen Dämmerung hatten zahlreiche Nachtblumen ihre großen, goldenen und purpurroten Kelche geöffnet und verströmten einen schweren, angenehmen Duft. Nächtliche Falter, samtviolett und groß wie Singvögel, gaukelten von einer Blüte zur anderen. Heimchen zirpten leise ihr Nachtkonzert. Irgendwo hinter diesem Gemälde der Sinne war für den empfindsamen Geist ein sphärischer Klang zu vernehmen, eine lautlose, auf und abschwellende Melodie wie das Rauschen des Meeres, ein Meer aus Sternen, das die weit verstreuten Inseln des Lebens der Aeldari trennte und zugleich miteinander verband. Nächte in den Gärten eines Weltenschiffes hatten ihre ganz eigene Magie.
Neben dem Runenpropheten schritt schweigend eine selbst für einen Aeldari hochgewachsene Gestalt in einem langen, schwarzen Mantel. So bedacht und kontrolliert waren seine Bewegungen, dass man ihn in der Dunkelheit erst auf den zweiten Blick wahrnahm.
„Hörst du das Meeresrauschen?“ fragte Eathalvaën.
„Es sind nur die sanften Wellen, die unsere Küsten umspielen“, antwortete der Weltenwanderer. „Die wilde See liegt woanders, und mögen sich ihre Wellen nie an unseren Mauern brechen. Ich habe mich schon lange nicht mehr dort hinausbegeben.“
„Das Sternenmeer wird diesmal nicht euer Weg und euer Ziel sein, Illurayon.“
„Ihr wisst Eathalvaën, welchen Weg auch immer einzuschlagen Ihr mich bittet, ich werde ihn beschreiten.“
„Diesmal wage ich nicht, dich zu bitten. Auch Firondhir nicht. Keinen von euch. Ich werden euch eröffnen, was die Runen mir eröffnet haben, und dann mag jeder selbst entscheiden, ob er bereit ist, an jenen Ort zu gehen, den kein Wesen betritt, ohne von seinen Bewohnern dorthin gezerrt worden zu sein.“
Illurayon schwieg kurz. Diese rätselhafte Art zu sprechen zeichnete Runenpropheten mitunter aus, mochte es nun sein, dass sie selbst den Runen keine klareren Begriffe hatten entlocken können, sei es, weil sie das, was sie gesehen hatten, nicht auszusprechen wagten. Doch Illurayon kannte den Ersten Runenpropheten von Zar Asuryan schon sein halbes Leben lange. Eathalvaën sprach offen, offener als es dem Rat der Propheten zuweilen recht war. Wenn er solche Formulierungen gebrauchte, dann nicht, weil er das fürchtete, was er nicht beim Namen nennen wollte. Er fürchtete um den, zu dem er sprach. Eine leichte Beklemmung beschlich den Weltenwanderer, denn er wusste die dunkle Rede wohl zu deuten.
„Eathalvaën, sprecht nicht in Rätseln zu mir, zumal ich einen Teil ohnehin schon erraten habe.“
Der Runenprophet lächelte.
„Deiner Gabe entzieht sich wenig, Illurayon. Deswegen fällt es mir umso schwerer, dich auszusenden, denn sie ist der vornehmliche Grund, dass du der Einzige bist, der diese Mission zum Erfolg führen kann.“
„Was ich weiß und was ich kann, habt Ihr mich gelehrt. ArdIdainn, Ihr sendet uns in die Dunkle Stadt, nach Commorragh.“
Der Runenprophet hielt in seinen Schritten inne, wandte sich dem Weltenwanderer zu und sah ihn an. Illurayon schrak zurück vor dem Blick in seinen grüngrauen Augen. Zehntausend Jahre, die man Eathalvaën sonst nicht ansah, lagen auf seinem Gesicht. Aus dem Blick allein, ohne dass Eathalvaën ein Wort hätte sprechen müssen, wusste Illurayon, was ihm auf der Seele lastete: ‚Du wirst nicht zurückkehren.‘
Sein Inneres schnürte sich zusammen. Das Leben eines Weltenwanderers war niemals sicher. Er hatte sich dafür entschieden, in dem Augenblick, da er den Pfad der Aeldari verlassen hatte. Aber der Tod war ein Risiko, das man mit Geschick und Vorsicht meiden konnte. Und Firondhir und er, sie waren sehr gut darin – bisher.
Eathalvaën richtete seinen Blick zu den Sternen auf. Wie oft in den letzten Jahrhunderten hatte er schon dem Jungen König diese Botschaft überbracht. Selten, im Vergleich zu anderen Weltenschiffen, und doch viel zu oft. Doch Illurayon war kein Exarch, der dafür lebte, sich selbst im Dienst seines Gottes aufzugeben. Er hatte sich für die Freiheit des Sternenmeeres entschieden. Nur wenige Schritte davon entfernt, sich in der ewigen Verdammnis zu verlieren, hatte Eathalvaën sich seiner angenommen. Auf dem Pfad des Sehers hatte auch er ihn nicht halten können, doch hatte er ihn gelehrt, seine Begabung unter Kontrolle zu halten.
Wofür?
„Ihr sagtet, Ihr würdet mich nicht bitten“, hörte er den Weltenwanderer sagen. Seine Stimme, wie vom anderen Ende des Universums hinüberdringend, war gefasst, doch ließ die Furcht in ihr sich nicht verbergen. „Aber es muss einen Grund geben, warum Ihr grade an mich herangetreten seid.“
Eathalvaën sah ihn wieder an.
„Ohne dich wird die Reise fehlgehen. Keine Vision, die ich je hatte, war klarer, gleich welche Pfade der Zukunft ich verfolgt habe.“
Illurayon holte tief Luft.
„Ihr wollt mich nicht bitten. Aber eine Wahl bleibt mir trotzdem nicht.“
„Du kannst fortgehen“, entgegnete der Runenprophet.
„Und nie mehr zurückkehren. Weil es nichts zum Zurückkehren geben wird. Eine Ewigkeit durch die Sterne zu wandern ohne eine Heimat, um beizeiten Ruhe zu finden. AreIdain, ich weiß, dass Euch nichts mehr bedeutet als das Weiterbestehen Zar Asuryans.“
Eathalvaën sah einen Sekundenbruchteil zur Seite. „In einem irrst du.“
Eine Weile gingen die beiden schweigend weiter, bis schließlich die gewaltige Kuppel der Halle der Seher sich bläulich schimmernd gegen den Sternenhimmel erhob.
Bevor sie eintraten, blieb Eathalvaën noch einmal stehen.
„Du fürchtest dich, Illurayon. Vor der Entscheidung, und vor den Folgen, die sie nach sich ziehen wird, gleich wofür du dich entschließt.“
„Es existiert wirklich keine Möglichkeit, die Dinge in eine andere Richtung zu lenken?“
Eathalvaën lachte leise.
„Ich gebe zu, auch ich bin nicht allwissend und unfehlbar. Und zeigt sich auch nur die kleinste Hoffnung, so ergreife sie und halte sie fest. Vielleicht findest du einen Weg, den ich übersehen habe. Doch bitte ich dich: Wenn du die Tore der großen Halle durchschreitest, habe deine Entscheidung getroffen.“