Ifiethion - Aus der Finsternis [Novelle]



  • Zitat

    Die Weltenwanderer Firondhir und Margil, der junge Weltenläufer Ydrir und die seherisch begabte Drukhari-Bestienmeisterin Ànathuriel sind nach ihrer Flucht aus Commorragh und ihrem Kampf gegen die Bestien des Kabalen-Prinzen Quisar nach ZarAsuryan heimgekehrt. Die Sicherheit des Weltenschiff vergönnt den IstuKarunRast und Erholung von den Gefahren, die sie durchgestanden haben, während Ànathuriel ihre ersten Schritte auf dem Pfad des Sehers wagt. Doch nicht alle Wunden und Verluste kann die Ruhe heilen. Vor allem nicht für den jungen Ydrir, der in der dunklen Stadt seinen Bruder verlor.

    Ifiethion

    Aus der Finsternis


    2. Fassung 08/2022 - pdf

  • Die Brücke


    Auf der schmalen Brücke herrschte heilloses Chaos. Hunderte Geschöpfe, Aeldari, Chem-Pan-Sey, Tau und zahllose andere namenlose Spezies, hasteten in blanker Panik durcheinander, stießen sich gegenseitig nieder und trampelten übereinander hinweg. Über und unter ihnen, um sie herum kreisten Harpyien in bronzen glänzenden Rüstungen auf schwarzen Schwingen wie von riesigen Vögeln oder Fledermäusen. Immer wieder stießen die fliegenden Drukhari auf die Sklaven herab, griffen einzelne Unglückliche heraus und erhoben sich mit ihnen in die Lüfte.


    Die fünf IstuKarun waren gefangen inmitten der kopflosen Masse, die willkürlichen Bewegungen trieben die Aeldari auseinander. Dann packte eine der Harpyien Ydrir mit ihren dünnen Klauenhänden am Arm und versuchte, ihn aus der Menge zu ziehen. Einen Schrei vor Überraschung und Schreckens entfuhr ihm. Das Mischwesen aus Aeldari und Vogel schwebte mit weit ausholenden Flügelschlägen direkt über ihm. Das bleiche Gesicht mit der unnatürlich langen, gebogenen Nase starrte so voll Verachtung auf ihn herunter, dass der Blick ihn schier lähmte, ihn unfähig machte, sich selbst gegen seinen Angreifer zur Wehr zu setzen.


    Ydrirs Schrei ließ Margil und Ydril sich nach ihm umwenden. Der blonde Weltenwanderer erkannte sofort die Lagen und eilte herbei, sich einen Weg durch die umherirrenden Körper bahnend. Ydril schrie entsetzt auf, zog seine Shurikenpistole aus dem Halfter und feuerte auf das Unwesen, das im Begriff war, seinen Zwillingsbruder mit sich fortzureißen. Die Klingenscheiben prallten an der bronzenen Rüstung ab oder blieben in den Platten stecken. Angsterfüllt drängte er sich durch die Massen, Sklaven zur Seite stoßend, bis es ihm schließlich gelang, Ydrir zu erreichen. Mit einem Satz umklammerte er die Beine seines Bruders. Die Harpyie starrte mit bösartig gelbgrün leuchtenden Augen auf die beiden Asuryani herab und gab ein drohendes Kreischen von sich.


    Während Ydril mit der Harpyie um ihre Beute rang, zog Margil ein kurzes Wurfmesser unter seinem Mantel hervor und rammte es der Kreatur zwischen die Panzerplatten am Oberschenkel. Sie stieß einen Schrei wie ein Raubvogel aus, ließ von ihrem Fang ab und schwang sich in die Höhe. Die drei Weltenläufer fielen zu Boden.


    Ydril rutschte über die Kante der Brücke und hielt sich an einem der rippenförmigen Bögen der unteren Tragekonstruktion fest. Unter ihm gähnte eine bodenlose Tiefe aus waberndem, giftgrünem Nebel. Er richtete seinen Blick nach oben. Über ihm schwebte die Harpyie mit weit ausgebreiteten schwarzen Flügeln, wie ein ins Unheil verkehrtes Abbild der Faolchú stieß sie auf ihn nieder.


    Doch sie kam nicht weit. Ohne Vorwarnung fuhr eine gleißende Klinge durch ihren linken Flügel und trennte ihn sauber am Mittelgelenk ab. Vor Wut und Schmerz schreiend stürzte sie an dem Weltenläufer vorbei und verschwand im grünen Dunst. Heulend sauste ein Antigravgleiter über die Brücke hinweg. Der Hellion darauf johlte, schwang triumphieren seine Gleve und hielt seine schwarz gefiederte Trophäe in die Höhe.


    Ydril schlang die Arme um den Träger und versuchte verzweifelt, die Beine hinaufzuschwingen, um besseren Halt zu haben doch der erste Versuch misslang. Er wandte den Kopf und sah sich um. Der Luftraum um die Brücke herum war zu einem Schlachtfeld geworden. Mehrere Dutzend Hellions rasten auf ihren mit bunten Mustern verzierten Antigravgleitern in halsbrecherischen Manövern umher und lieferten sich wilde Verfolgungsjagden mit den Harpyien. Diese verteidigten sich mit ihren Splitterkarabinern, deren Geschosshagel ihre Gegner von ihren Boards fegten. Die Hellions hingegen ließen ihre Gleven willkürlich auf jedes Ziel niedersausen, das in ihre Reichweite kam, seien es Harpyien oder die Sklaven auf der Brücke. Immer wieder stützten einzelne von ihnen über die Brüstung, in der Panik heruntergestoßen oder von den fliegenden Drukhari mitgerissen.


    Inmitten des Tumults versuchte Ydrir, die Orientierung wiederzuerlangen. Er war hart auf die Lauffläche aufgeschlagen, als die Harpyie losgelassen hatte. Um sich herum sah er nur die trampelnden Füße der Sklaven. Hilflos versuchte er, ihnen auszuweichen und nicht niedergetrampelt zu werden. Dann ergriff ihn etwas am Arm. Er hob seinen Kopf. Margil war wieder da. Der blonde Weltenwanderer zog ihm mit sich und zog ihn durch die Menge hindurch zum Rand der Brücke.


    Verzweifelt versuchte Ydril, einen Blick auf seinen Bruder oder einen der anderen zu erhaschen, doch aus seiner Position war das unmöglich. Dann entdeckte er Margil, wie er einige Dutzend Schritte entfernt von der Brücke in das Tragegerüst glitt und Ydrir mit sich zog. Dem Weltenwanderer gelang es, Ydrir bis zum Mittelstrang unterhalb der Brücke zu hieven, an dem die Stützrippen wie an einer Wirbelsäule aufgereiht waren. Ydril konnte nicht erkennen, ob sein Bruder sich noch bewegte, doch zu seiner Erleichterung hörte er durch das Tosen und Kreischen des Kampfes über ihm, wie Margil ihn ansprach: „Blieb hier und lass nicht los.“


    Ydrir klammerte sich krampfhaft an dem Träger fest. Einen kurzen Moment nur hatte er einen Blick auf die bodenlose Tiefe unter ihm erhascht. Fest schloss er die Augen und versuchte, die grauenvollen Geräusche um ihn herum aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. ‚Ydril hatte recht gehabt‘, schoss es ihm verzweifelt durch den Kopf. ‚Was habe ich mir nur eingebildet, diese Reise anzutreten?‘ Alles in ihm drängte, seinem Bruder zu Hilfe zu kommen, doch die Furcht machte ihn unfähig, sich zu bewegen.


    Statt seiner machte der blonde Weltenwanderer sich auf den Weg. Von einer Rippe zur nächsten arbeitete Margil sich vor, während Ydril sich weiter mühte, die Beine hochzuschwingen, um auch mit den Füßen Halt zu finden. Nur noch eine Armlänge, dann würde Margil ihn erreicht haben.


    Ein schneidender Schmerz fuhr durch Ydrils Rücken. Von irgendwo her war ein Hellion herangesaust, jagte mit fast senkrecht gekipptem Board über die Weltenläufer hinweg und hieb dabei seine Gleve auf den hilflosen Aeldari ein. Überrascht stieß er einen erstickten Schrei aus. Seine Arme verloren ihre Kraft. Er löste sich von dem Bogen und fiel hinten über. Von seinem schwarzen Chameolinmantel umweht, tauchte er in den grünen Nebel ein. Noch während er fiel, zerstreute sich der Schmerz der tödlichen Wunde. Sein Bewusstsein tauchte in eine schützende Hülle aus orangerotem Licht ein, die jede Wahrnehmung der wirklichen Welt von ihm abschirmte. Dann empfand er nur noch Stille.



    Ydrir öffnete die Augen und starrte ins Dunkel. Diesmal war es anders. Die Trauer und die Schuldgefühle waren die gleichen, ein schwarzer Schleier auf seiner Seele, wie jedes Mal, wenn die Bilder aus seiner Erinnerung auftauchten. Und seit ihrer Rückkehr aus der Dunklen Stadt der Drukhari war kaum ein Tag vergangen, an dem sie das nicht taten. Jetzt mischte sich eine neue Empfindung darunter. Eine, die ihn frösteln ließ. Und er spürte, dass nicht er selbst es war, der diese Kälte empfand. Er atmete tief durch und versuchte, seinen Geist zur Ruhe zu bringen und nur auf diese Empfindung zu fokussieren. Sein Verstand warnte ihn. Er hatte die Gabe des Geisterblicks, aber nicht die Ausbildung, sie einzusetzen. Bisher hatte er sein Talent nur einmal bewusst genutzt und vielleicht war es eine glückliche Fügung gewesen, dass Ànathuriel und er es schadlos überstanden hatten. Doch sei’s drum, er musste dem auf den Grund gehen.


    Was auch immer Ydrir erwartet oder erhofft haben mochte, es war nicht das, was ihm mit einem Mal gegenüberstand: ein grausames, finsteres Bewusstsein, das auf ihn herabschaute, wie ein riesiges Raubtier auf seine winzige Beute, beide wissend, dass der junge Aeldari ihm nichts entgegenzusetzen hatte. Und genau diese Gewissheit ließ Ydrir auf eine seltsame Weise völlig ruhig bleiben und seinem Gegenüber eine einzige Frage stellen: „Wo ist mein Bruder?“

  • Dainnar


    Mit untergeschlagenen Beinen saß Ànathuriel im Gras und lauschte auf das sanfte Wispern der Blätter im leichten Wind. Die Haltung war immer noch ungewohnt. Inzwischen dauerte es zwar schon länger, doch irgendwann in den nächsten Minuten würde das Brennen und Kribbeln der eingeklemmten Nervenbahnen wieder einsetzen. Aber das war Teil der Übung. Und nichts im Vergleich zu den reißenden Schmerzen im Kopf und der Brust, die der unkontrollierte Gebrauch ihrer Psikräfte verursachte.


    In der linken Hand auf ihrem Schoß lag ein hühnereigroßer, ovaler Edelstein, orangerot und matt schimmern. Sie spürte sein Gewicht auf ihrer Handfläche. Behutsam legte sie die recht Hand darauf und umschloss den Stein. Sie konzentrierte sich auf seine glattpolierte Oberfläche, die ungewöhnliche Wärme, die von ihr ausging. Der Druck in den Beinen war da, doch sie nahm ihn hin, ohne ihn weiter zu beachten. Die Laute des Gartens verschwanden aus ihrem Bewusstsein, bis vor ihrem inneren Auge das Bild des Edelsteins erschien.


    Ein leises, sanftes Lachen durchbrach die Ruhe. Ànathuriel sah auf. Ihr gegenüber saß Eathalvaén, der Erste Runenprophet von ZarAsuryan. Seine Augen waren geschlossen, seine von feinen Linien des Alters durchzogenes Antlitz völlig entspannt. Die feingliedrigen Hände lagen ineinander verschränkt auf den Falten seiner mitternachtsblauen Robe, der himmelblaue Sehermantel ihm herum ausgebreitet. Nichts deutete darauf hin, dass er irgendeinen Laut von sich gegeben hätte. Ànathuriel wurde bewusst, dass sie ihn nur in ihren Gedanken vernommen hatte.


    Verzeih mir, ich habe dich abgelenkt‘, hörte sie seine Stimme in ihrem Geist.


    Nein, ArdIdainn. Ich habe mich ablenken lassen‘, entgegnete sie auf die gleiche Weise.


    Suche die Fehler anderer nicht bei dir selbst. Ich sollte inzwischen alt genug sein, mich nicht von Gefühlen aus der Ruhe bringen zu lassen.


    Das Bild des Edelsteins schwebte zwischen ihnen.


    „Du hast einen außergewöhnlichen Fokus für deinen Kräfte gewählt“, sagte er, nun mit seiner leisen, aber durchdringenden Stimme.


    Ànathuriel spürte die Wehmut, die in den Worten mitschwang. Illurayons Wegstein, ein leerer Seelenstein. Die Seele von Eathalvaéns ehemaligem Schüler war für immer verloren. Aber zuvor hatte er sie hierher, auf das Weltenschiff geführt.


    „Du fragst dich, warum ich lache“, fasste der Runenprophet ihre Gedanken in Worte. „Von allen möglichen Pfaden des Schicksals ist es euch gelungen, den bestmöglichen zu beschreiten. Alles, was euch widerfahren ist, selbst das Schreckliche und Schmerzliche, hat zum Gutem geführt. Ist das kein Grund zur Freude?“


    Ànathuriel war sich nicht sicher, ob sie diese Haltung teilen konnte. So viel war geschehen, so viel war verloren gegangen, ehe sie und ihre Freunde ihre neue Heimat erreicht hatten. Der Runenprophet spürte ihren Zweifel. Aber er war nicht hier und es war nicht sein Anliegen, sie von seiner Sichtweise zu überzeugen. Die ehemalige Drukhari-Bestienmeisterin stand erst am Anfang ihrer Reise auf dem Pfad des Sehers. Und zu welchem Ziel sie ihn beschreiten mochte, würde nur die Zeit zeigen.


    „Nun gut, lass uns fortfahren“, sagte er.


    Ànathuriel schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Wegstein. Alle Gedanken verließen ihren Geist. Auch wenn sie es nicht sehen konnte, nahm sie wahr, wie Eathalvaén in den Beutel an seinen Gürtel griff und nacheinander verschiedene Runen hervorholte. Als leuchtende Sterne stiegen die filigranen Gebilde aus elfenbeinfarbenem Phantomkristall eines nach anderen auf und blieben zwischen ihnen stehen. Dann begannen sie, sich in Bewegung zu setzen, umeinander zu kreisen und Gruppen zu bilden. Ànathuriel kannte noch nicht alle ihre Bedeutungen, doch eine, die ihr sehr vertraut war, erregte ihre Aufmerksamkeit: die Rune des Wanderers zwischen den Sternen. Sie richtete ihre ganze Konzentration darauf. Die Rune begann zu schimmern, dann immer heller zu leuchten. Ein gleißend weißer Lichtstrahl entsprang einer der Formen und traf auf eine andere. Diese sandte ihrerseits einen Strahl aus, die von einer dritten Rune aufgefangen wurde, bis schließlich ein leuchtendes Netz vor Ànathuriels innerem Auge schwebte. Ausgehend von der Rune des Wanderers versuchte sie den leuchtenden Fäden zu folgen und einen Sinn in den Verbindungen zu finden.


    Ein Gefühl der Einsamkeit überkam sie, des Verloren Seins in der Dunkelheit, völlig unerwartet. Das Runengeflecht hatte eine Lücke. Etwas fehlte, das nicht hätte getrennt sein dürfen. Sie folgte den Fäden und suchte nach dem Ursprung. Er war ihr bekannt und unbekannt zugleich. Er lag in der Vergangenheit. Und in der Zukunft. Sie konnte sich noch kein klares Bild machen, aber in einem war sie sich sicher: Es war ein Hilferuf. Ànathuriel strengte ihren Geist an, diesen Strang des Schicksals weiter zu verfolgen. Eine leichte Anspannung breitete sich in ihren Schläfen aus. Der Seelenstein kribbelte in ihren Händen. Sie spürte, dass der Runenprophet sie genau beobachtete. Aber sie musste selbst darauf achten, dass sie nicht zu weit ging.


    Das Bild blieb dunkel und diffus. Nur in einem erlangte sie Gewissheit: Wo dieser Pfad seinen Anfang nahm. Die Rune der Seelentrinker, ihre Arme nicht grade wie die der anderen, sondern drohend geschwungen, spitz zulaufend und scharfkantig wie ein Gebilde aus Klingen. Und dann kam die Kälte, unnatürliche, tödliche Kälte, die nicht nur den Körper, sondern auch die Seele gefrieren ließ. Wo sie sich ausbreitete, war nur Dunkelheit, die jedes Licht verschlang.


    Ànathuriel sprang auf und schwankte einen Moment mit steifen Knien. Ihre tauben Waden wurden unter der plötzlichen Bewegung wie von tausenden Nadelstichen durchbohrt.


    „ArdIdainn“, sagte sie laut und verneigte sich kurz. „Ich fürchte, diese Reise ist noch nicht zu Ende.“


    Dann wandte sie sich ab und eilte davon.

  • Training



    Firondhir taxierte seinen Gegner und hielt das lange Jagdmesser abwehrend vor sich. Mit selbst für einen Aeldari erstaunlicher Geschwindigkeit hieb sein Gegenüber mit seinem gebogenen Kurzschwert auf ihn ein, vollführte Angriffe aus verschiedenen Richtungen und Winkeln. Seine Gestalt, in einen ultramarinblauen, mit an seine Körperformen angepassten Platten verstärkten Kampfanzug gekleidete, verschwamm beinahe vor seinen Augen.


    Die Ausweichbewegungen des Weltenwanderers wirkten dagegen geradezu schwerfällig. Die raschen Schläge zu parieren, gar einen Gegenangriff auszuführen, daran war nicht zu denken. Doch schon nach wenigen Augenblicken ließ sein Gegner von ihm ab und sprang einige Schritte zurück, so dass er außerhalb seiner unmittelbaren Reichweite war.


    „Für den Anfang nicht schlecht“, sagte Margil und strich sich eine seiner schulterlangen, blonden Locken aus dem Gesicht. „Zumindest ausreichend, um nicht sofort umgebracht zu werden. Aber damit kannst du dich nicht begnügen, wenn du dich zukünftig noch einmal mit einem Drukhari-Prinzen anlegen willst.“ Er hob sein Schwert in Abwehrhaltung und sah seinen Freund herausfordernd an.


    Firondhir folgte der Aufforderung und richtete das Messer auf Margil aus. Mit kurzen Schritten, immer wieder innehaltend, näherte er sich seinem Gegner. Der direkte Angriff war nicht die Kampfweise der Weltenläufer. Ihre Waffe war das Jagdgewehr, verborgen im Schatten. Ihre Mäntel, die die Farbe jeder Umgebung annehmen konnten, machten sie unsichtbar. Selbst wenn ein Gegner seine Position ausmachte, verhielt ein IstuKarun sich ruhig und konnte sicher sein, nicht entdeckt zu werden. Firondhir hatte sich bisher stets auf diese Fertigkeiten verlassen können. Im Nahkampf hatte er wenig Übung, und vor nicht allzu langer Zeit wäre ihm das beinahe zum Verhängnis geworden.


    Margil wartete. Seine Ausbildung als Aspektkrieger im Schrein der Rächer Asuryans hatte ihn gelehrt, sich bis zum rechten Moment zu gedulden. Und der folgte im nächsten Augenblick, als Firondhir vorsprang, einen Angriff auf seine Brust vortäuschte und dann einen Stich gegen seine rechte Flanke zu setzen versuchte. Margil drehte sich zur Seite, wehrte das Messer ab und führte mit der Bewegung, mit der er sein Schwert zurück vor seinen Körper holte, einen angedeuteten Schnitt gegen Firondhirs Bauch aus.


    Der Weltenwanderer hielt inne und ließ die Arme hängen. „Das hat doch keinen Sinn. Deine Reichweite ist viel größer.“


    „Meine Ritualklinge ist nicht viel länger als dein Messer“, gab Margil zurück. „Wie groß ist erst die Reichweite eines tatsächlichen Schwerts.“


    Firondhir trat einen Schritt zurück und atmete tief durch. Dann, ohne Vorwarnung, warf er sich Margil entgegen. Der machte einen Satz nach hinten und ließ seinen Angreifer ins Leere laufen, nur um dann wieder vorzuspringen. Weniger als eine Armelänge war er von Firondhir entfernt, als er ihn mit seiner Klinge berührte.


    „Du hast diesen Angriff erwartet“, sagte Firondhir.


    „Natürlich habe ich das“, entgegnete der blonde Weltenwanderer.


    „Du denkst wie ein EsikCaman, Margil“, mischte sich eine dritte Stimme ein. „Aber dein Freund ist ein IstuKarun.“


    Ein Ring aus einzelnen, elliptischen Steinblöcken umgab den ovalen, weiß gepflasterten Platz inmitten des weitläufigen Gartenhofs des Aspektschreins wie die Steine eines Brettspiels. Trotz der gewölbten Oberseite hatte am Kopfende des Platzes, vor der großen Trainingshalle des Schreins der Klingensterne, eine Frau in dunkelblauer Rüstung auf einem der Steine platzgenommen und sie schweigend beobachtend. Nun erhob sie sich in einer einzigen, fließenden Bewegung aus dem Schneidersitz und schritt zu den beiden Weltenwanderern hinüber. Die rein weiße, mit der Rune der Rächer Asuryans bestickte Schärpe wallte um ihre Beine. Zahlreiche perlmuttschimmernde Edelsteine zierten ihren Aspektrüstung. Ihren hohen, silbernen Helm mit weißem Helmbusch und tiefschwarzem Visier hielt sie unter dem Arm. Die rotblonden Haare hatte sie am Hinterkopf zu einem strengen Knoten gebunden. Mit ernstem Blick sah sie von einem zum anderen.


    „Ein IstuKarun, der sich im Nahkampf überraschen lässt, hat einen Fehler gemacht. Ein IstuKarun, der einen Gegner direkt angreift, hat das Wesen seines Pfades nicht verstanden.“


    Firondhir senkte betroffen den Blick. Einmal hatte er sich dazu hinreißen lassen, in Wut und Verzweiflung. Und wäre Margil nicht gewesen, hätte er teuer für diesen Fehler bezahlt.


    „Ein IstuKarun agiert im Verborgenen“, fuhr die Exarchin fort. „Und so verborgen muss er sich verteidigen. Offenbare dem Gegner nicht deine Wehrhaftigkeit, denn dann wird er entsprechend reagieren.“


    „Mit Wehrhaftigkeit ist es bei mir nicht weit her“, räumte Firondhir ein.


    Die Exarchin schritt um ihn herum. „Du unterschätzt deine Fertigkeiten, IstuKarun. Du bist schnell und gewandt. Und du hast Kraft. Das hast du deinem Freund voraus.“


    Sie wies mit der rechten Hand auf Margil und bedeutete ihm, Firondhir gegenüberzutreten und sich angriffsbereit zu machen. Er folgte der Aufforderung.


    „Du kannst seine Schläge nicht abwehren, du kannst seine Abwehr nicht durchdringen“, raunte sie dem Weltenwanderer zu. „Weiche aus, und versuche dabei, ihm näher zu kommen. Erst wenn du nahe genug bist, ziehe deine Waffe.“


    Die Exarchin trat zurück und senkte die Hand. Margil hob sein Kurzschwert und tat einen Schritt auf Firondhir zu. Der Weltenwanderer wich zurück. Margil wiederholte das Manöver. Dann, unvermittelt, sprang er auf Firondhir zu und führte einige schnelle Streiche aus. Firondhir glitt zur Seite und tauchte unter dem Schlag hinweg. Margil wirbelte herum, um ihm zu folgen, doch Firondhir war schon wieder einen Schritt weiter. Margil wich zurück, um seinem Gegner keine Möglichkeit zu geben, ihm zu nahe zu kommen. Firondhir unterließ es, ihm nachzusetzen. Margil erkannte eine Chance, stürmte wieder vor und ließ sein Schwert von oben auf seinen Gegner hinunterfahren. Firondhir warf sich zu Boden, so dass Margils erster Schlag ins Leere ging. Doch sofort setzte er zum zweiten an. Firondhir hatte die Zeit genutzt und sich so aufgerichtet, dass er Margils Schwertarm zu fassen bekam und ihn festhielt. Das genügte, um Margil aus dem Schwung zu bringen. Schon Augenblicke später konnte er sich wieder losmachen, doch hatte Firondhir derweil sein Messer gezogen. Mit der flachen Seite seiner Klinge schlug er Margil gegen die Rippen.


    Der Kampf war entschieden. Gemäß den Ritualen des Schreins der Klingensterne streckte Margil Firondhir den Griff seines Schwerts entgegen, verneigte sich und schob die Klinge dann in die Scheide an seinem Oberschenkel. Firondhir steckte das Jagdmesser weg und hob seinen Mantel auf.


    „Ich sehe, du hast verstanden“, sagte die Exarchin.


    Schritte und das Rauschen weiter Gewänder erklang im Hof. Firondhir wandte sich um. „Dainnar!“ rief er mit freudiger Überraschung aus.


    Ànathuriel hatte den Platz betreten, gekleidet in das lange Gewand eines Sehers, aus türkisen schimmernder Seide, gehalten von einer breiten, purpurnen Schärpe um die schlanke Taille, den Saum mit silbernen Runen bestickt. Auf der Brust schimmerte ihr eigner Wegstein von tiefstem Mitternachtsblau. Die leuchtend kastanienbraunen Haare reichten ihr schon wieder bis zu den Schultern. Nur die äußersten Spitzen zeigten noch das Purpurrot, das sie früher getragen hatte, sonst wies nichts mehr auf die einstige Bestienmeisterin aus Commorragh hin. Ihr bezaubernder Anblick fesselte ihn jedes Mal aufs Neue.


    Sie lächelte ihren Freunden zu. Die Exarchin des Schreins der Klingensterne verneigte sich kurz. Ànathuriel erwiderte die Geste. Firondhir drehte sich wieder zu Margil um – und fand die Schneide seines Kurzschwertes einen Fingerbreit von seiner Kehle entfernt.


    „Was soll das?“ keuchte er. „Du hast den Kampf beendet.“


    „Denkst du, ein wirklicher Gegner schert sich um Rituale? Er wird jede Gelegenheit nutzen, die du ihm bietest.“


    Die Exarchin nickte. Margil steckte das Schwert weg. „Genug Lektionen für heute“, sagte sie. „Dainnar, ich verabschiede mich.“ Sie dreht sich um und verschwand im Inneren des Schreins.


    Ànathuriel hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. „Wisst ihr, wo Ydrir ist?“


    Die beiden Weltenwanderer sahen sich an. Sie hatten ihren jungen Gefährten schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.


    „Ist etwas nicht in Ordnung?“ fragte Firondhir.


    „Das erzähle ich euch auf dem Weg. Kommt!“

  • Über dem Fluss


    Ydrir lehnte am Geländer einer niedrigen Brücke, die sich über einen breiten Kanal spannte, einer jener Vielzahl von Wasserläufen, die die Biodome des Weltenschiffs durchzogen und für ein angenehmes Klima unter den Kristallkuppeln sorgten. An den Ufern erhoben sich die hohen Wohntürme. Mit ihren elfenbeinweißen, flaschenförmigen Stämmen imitierten sie die mächtigen Adansonia-Bäume jener verlorenen Welt, die das Volk ZarAsuryans vor so langer Zeit verlassen hatte.


    Das türkisblau schimmernde Wasser zog gemächlich dahin, ohne Eile, ohne Widerstände. Schwärme bunt schimmernder Fische mit langen, wehenden Flossen ließen sich durch die sanfte Strömung treiben. Zwischen den langen, dunkelgrünen Blättern der Uferpflanzten tanzten rot und blau schimmernde Libellen.


    Gedankenverloren beobachtete der jungen Aeldari das kräuselnde Wasser. Irgendwo führte es hin, vereinigte sich mit anderen Wasserläufen und ergoss sich in eine der großen Kavernen in den Tiefen des Weltenschiffes, um von dort wieder zurück in die Wasserkreisläufe geleitet zu werden. Die Fische aber folgten ihm nicht. Sie schwammen ein Stück mit, hielten dann inne und kehrten wieder zurück zu ihrem angestammten Platz zwischen den Steinen am Grund.


    „Ydrir!“ erklang eine Stimme. Im ersten Moment schien sie ihm aus weiter Ferne zu kommen. „Ydrir, bleib da stehen!“


    Verwundert sah er auf. Einige Schritte entfernt standen die beiden Weltenwanderer in ihren schwarzen Mänteln. Zwischen ihnen leuchtete Ànathuriels türkisenes Sehergewand beinahe in der gleichen Farbe wie das Wasser.


    „Bleib stehen“, wiederholte Firondhir und kam auf ihn zu.


    „Was denkst du, wo ich hingehen sollte?“ entgegnete Ydrir erstaunt.


    Firondhir hielt verdutzt inne. In diesem Moment war er sich selbst nicht mehr sicher, woran er gedacht hatte. Es war albern, er machte sich zu viele Sorgen um den Jungen.


    „Ànathuriel, du hast es auch gehört?“ fragte Ydrir unvermittelt. „Den Ruf aus dem Wasser.“ Sein Gesicht hatte wieder jenen entrückten Ausdruck, bei dem er mit glasigen Augen durch sie hindurchzusehen schien. „Deswegen seid ihr doch hier.“


    Die Weltenwanderer wechselten hilflose Blicke. Die Weise, wie Ànathuriel sich mit dem ebenfalls seherisch begabten Jungen verstand, war ihnen nicht zugänglich. Die Seherin trat an seine Seite.


    „Aber nicht dieses Wasser“, fuhr er fort und blickte wieder hinunter. „Jener Fluss fließt an einem anderen Ort.“ Dann sah er wieder auf und die beiden Weltenwanderer an. „Ich bin bereit. Wir können aufbrechen.“


    „Aufbrechen? Wohin?“ fraget Margil verständnislos.


    „Nach Commorragh“, erwiderte der Junge, als wäre dies das selbstverständlichste der Welt.


    Margil und Firondhir verschlug es einen Moment die Sprache. Vor wenigen Wochen erst waren sie aus der Dunklen Stadt der Drukhari zurückgekehrt. Jeder von ihnen hatte tiefe Verwundungen und bittere Verluste erlitten, Ydrir vielleicht am schwersten. Und noch dazu hatten sie den Zorn eines Drukhari-Prinzen auf sich gezogen, der, sollte er ihrer habhaft werden, keine Gnade würde walten lassen.


    „Das kann nicht dein Ernst sein“, entfuhr es Margil.


    „Dainnar, hast du ihnen nicht gesagt, was du gesehen hast?“ fragte Ydrir zweifelnd.


    „Was ich gesehen habe, ergab kein klares Bild“, antwortete sie ruhig. „Du warst am Anfang – und am Ende. Worum es geht, wusste ich nicht. Aber nun fügt es sich zusammen.“ Dann wandte sie sich den beiden Weltenwanderern zu. „Damals musstet ihr Ydril zurücklassen. Jetzt hat er nach seinem Bruder gerufen. Unsere Reise ist erst beendet, wenn er auch wieder zuhause ist.“


    Margil und Firondhir sahen erst Ydrir, dann einander an. Margil zuckte mit den Schultern. Es war seine Natur, die Dinge so zu nehmen, wie sie kamen, und das bestmögliche herauszuholen. Außerdem hatte er nicht vergessen, vor welch grauenvollem Ende Ydrir ihn während ihrer Flucht bewahrt hatte.


    Auch Firondhir scheute Gefahren nicht, doch er war nicht einer jener waghalsigen Ausgestoßenen, die sie willentlich suchten. Aber er konnte nachempfinden, was den jungen Aeldari bewegte. Es hieß, Zwillinge seien eng verbunden, selbst über den Tod hinaus. Wie eng mochte diese Bindung erst bei einer feinfühligen Seele wie Ydrirs sein? Verlorene Seelenstein wiederzufinden, gehörte zu den Aufgaben, zu denen die IstuKarun ausgesandt wurden, denn jede einzelne Seele war wertvoll für das Weltenschiff. Und für wen, wenn nicht Ydrir, würden sie eine solche Reise unternehmen?


    „So wird es geschehen, Dainnar“, stimmte der Weltenwanderer zu. „Wir werden gehen. Aber du wirst hierbleiben, Ydrir“, fügte er bestimmt hinzu. „Noch einmal begibst du dich nicht in diese Gefahr.“


    „Das hat schon einmal jemand versucht, mir auszureden“, entgegnete Ydrir gelassen.


    „Und du weißt, wie es für ihn ausgegangen ist“, konterte Margil.


    Betroffen sank Ydrir in sich zusammen. Die Worte rührten seine dunkelsten Selbstvorwürfe erneut auf. Aber war fest entschlossen, sich davon nicht abhalten lassen.


    Ànathuriel spürte seine Regung. Ermutigend legte sie ihm ihre Hand auf die Schulter und warf dem blonden Weltenwanderer einen missbilligenden Blick zu. Nicht nur sie selbst, auch Margil verdankte es auch dem Jungen, dass sie den Drukhari lebend entkommen waren. Und nach allem, was Firondhir ihr erzählt hatte, war es Ydrils Entscheidung entgegen der Weissagung der Runen gewesen, seinen Bruder nicht alleine gehen zu lassen. Ydrir vor dem zu bewahren, was ihm letztendlich widerfahren sollte, dazu hatte er nicht mehr die Möglichkeit gehabt.


    „Dies wird die letzte Reise des verlassenen Zwillings im Mantel der Weltenläufers sein“, ließ sich nun eine andere Stimme vernehmen, leise, doch durchdringend, ernst und wohlwollen zugleich. Der Erste Runenprophet von ZarAsuryan trat von der Brüstung zurück. Wie es ihm gelungen war, die ganze Zeit, in der sie miteinander gesprochen hatten, hinter der schmalen Gestalt des Jungen verborgen zu bleiben, blieb sein Geheimnis.


    Die Weltenwanderer verneigten sich überrascht. „AreIdainn“, sagte Firondhir, „Eure Worte klingen wenig zuversichtlich.“


    Eathalvaén lächelte. „Ànathuriel hat Ydrir bereits den Mantel abgenommen. Den Pfad des Ausgestoßen hat er hinter sich gelassen, seinen neuen wird er noch finden.“ Er holte einen sorgfältig zusammengefalteten Ballen blauschwarzen Stoffes unter seiner Robe hervor und reicht ihn dem Jungen. „Einmal wirst du ihn noch tragen, dann nicht mehr.“


    Ydrir nahm den Mantel entgegen und nickte ehrerbietig.


    „Ich lasse euch nun allein", sagte der Runenprophet. „Ihr habt Wichtiges zu planen.“

  • Unten am Fluss


    Firondhir und Ànathuriel spazierten den Damm längs des Kanals entlang. Der Lichtzyklus des Weltenschiffs näherte sich der Dunkelphase und tauchte die Kuppel in ein blauviolettes Dämmerlicht. Die Schilfblätter am Ufer wiegten sich leicht in der warmen Luft. Nächtliche Insekten tanzten über dem ruhig dahinziehenden Wasser.


    Rund um die Stämme der Phantomkristallbäumen flammten die Lichter der Wohnbereiche auf. Hoch über dem Boden ragten mehrere Ebenen waagerechter, weit verzweigter Äste aus, verbanden die Türme miteinander wie geschwungene Brücken und trugen die hohe, silbern schimmernde Kuppel wie ein gemeinsames Blätterdach. Dort leuchteten Reihen einzelner Gebäude wie Blütendolden: Läden, Werkstätten, Schulen, Orte, an denen die Aeldari den Tätigkeiten ihrer Pfade nachgingen und die Früchte ihre Arbeit der Allgemeinheit zur Verfügung stellten. Jeder Baum war wie eine eigene, kleine Stadt.


    Eine ganze Weile schwiegen sie, obwohl Ànathuriel genau spürte, dass Firondhir etwas auf dem Herzen lag.


    „Àniel“, begann er schließlich, sprach aber nicht weiter.


    „Du bist ruhelos“, ergriff sie das Wort. „Man muss kein Seher sein, um das zu erkennen. Dich hält es nicht lange an einem Ort.“


    „Ich war schon zu lange auf dem Pfad des Ausgestoßenen. Ich hatte den festen Entschluss gefasst, ihn zu verlassen, aber er lässt mich nicht los. Ganz gleich, was ich tue, meine Gedanken sind nie ganz bei der Sache. Das war schon früher so. Deshalb habe ich mich nie auf einem Pfad halten können.“


    Sie ergriff seine Hand. „Ganz gleich, was du tust? Den Eindruck hatte ich bisher nicht.“


    Der Weltenwanderer lächelte. „Es ist so, wie du einmal gesagt hast: Wenn ich bei dir bin, ist kein Platz für irgendetwas anderes.“


    „Aber das ist nicht von Dauer, das sehe ich.“


    Firondhir schlug die Augen nieder. Ànathuriel blieb stehen und legte zärtlich ihre Hand auf seine Wange. Die leichte Berührung genügte, um seine innere Zerrissenheit zu spüren.


    „Ich bin hier, wann immer dein Weg dich zurückführt.“


    Er atmete auf. „Wenn du mich gebeten hättest, zu bleiben, ich hätte nicht gewusst, wie ich das hätte ausschlagen sollen.“


    Sie lachte. „Ich würde sogar mitgehen. Wir alle verdanken Ydrir mehr, als wir je wieder gut machen können.“


    Mit einem Mal wurde der Weltenwanderer ernst. Er fasste sie an den Schultern. „Denke nicht einmal daran! Dafür habe ich dich nicht aus der Dunklen Stadt herausgeholt.“


    Sie machte sich los. „Du hast mich herausgeholt?“ gab sie energisch zurück. „Ohne Ydrir und Margil, vor allem ohne Ydrir, wären weder du noch ich hier.“


    Firondhir trat einen Schritt zurück. Natürlich hatte sie recht. Doch sie wieder an diesem grauenvollen Ort zu wissen, wo ihre Gabe erneut zu einer Gefahr werden würde, dieser Gedanke war ihm unerträglich. Er nahm eine Haltung ein, die Zustimmung, Beschwichtigung und Entschuldigung ausdrückte. Ànathuriel fiel es immer noch schwer, die subtile Körpersprache der Asuryani zu deuten. Aber sie spürte seine Absicht.


    „Ich habe mein halbes Leben in Commorragh verbracht. Nach Ynnealidh, in die unteren Stadtbezirke, wagt sich niemand. Dort leben Geschöpfe, die selbst von den Kabalen gefürchtet werden. Ihr werdet alle Kunst der IstuKarun brauchen, um eure Suche zu vollenden und sicher heimzukehren. Und diese Fähigkeiten habe ich nicht. Ich wäre euch keine Hilfe.“


    „Kehren wir denn sicher heim?“


    Ànathuriel schwieg einen Moment. Sie hatte nicht viel gesehen, und was sie erfahren hatte, hatte sie ihren Freunden schon mitgeteilt. Alles, was noch blieb, war eine Ahnung, die sie nicht in Bilder oder Worte fassen konnte. Schließlich sagte sie: „Wenn du wüsstest, dass einem deiner Freunde etwas schreckliches widerfahren wird, würdest du versuchen, es abzuwenden?“


    Firondhir stutzte. „Selbstverständlich.“


    „Auch gegen seinen Willen?“


    Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Du sprichst schon genauso in Rätseln wie die Runenpropheten.“


    „Weil ich auch nicht mehr weiß“, entgegnete sie ruhig. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, alle möglichen Stränge des Schicksals auf einmal zu sehen, und das auch nur für die, die einem am nächsten stehen und nur für die kommenden Stunden. Es überwältigt dich. Damals hatte ich einen Geist, der mich geleitet hat, auch wenn ich es nicht wusste. Jetzt muss ich den Pfad allein finden. Ich weiß schon, wo er hinführt. Eathalvaén meint, das hätte ich anderen voraus. Aber es birgt auch die Gefahr, dass ich mich zu schnell vorwage. Und was dann passiert, auch das haben wir schon erfahren.“


    Firondhir nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. Schaudernd dachte er zurück an die Nacht in Ànathuriels Suite in der Kabalenfestung, als selbst er hatte spüren können, wie Sie, die Dürstet nach ihrer Seele gegriffen hatte. Und der Kampf auf dem Hügel, als sie zwei Dutzend Kabalenkrieger mit ihrem Geist niedergesteckt hatte. Wie sie wie erstarrt niedergesunken war und erst Ydrir es gelungen war, sie zurückzuholen. Auch der Pfad des Sehers war gefährlich, vielleicht der gefährlichste von allen. Aber hier war sie sicher, unter der Anleitung des Ersten Runenpropheten und dem Schutzschirm der Unendlichkeitsmatrix des Weltenschiffes.


    Ànathuriel spürte seine Besorgnis. „Mach dir keine Sorgen um mich“, sagte sie beruhigend. „Ich kann auf mich aufpassen. Vergiss nicht, ich war eine Drukhari.“


    Firondhir musste lachen. „Du warst, zum Glück.“


    „Aber ich habe nicht vergessen, was es ausmacht, eine zu sein“, entgegnete sie. Dann fuhr sie fort: „Mehr kann ich dir nicht sagen. Mehr wollte Eathalvaén mir nicht sagen, auch wenn ich sicher bin, dass er mehr gesehen hat als ich. Aber er hat seine Gründe, und das wohl zurecht.“ Wieder lachte sie. „Illurayon hat mir anscheinend ein großes Zutrauen in den ArdIdainn mitgegeben.“


    Firondhir küsste sie auf die Wange. „In deiner Gegenwart erscheinen selbst die schweren Dinge leicht.“


    Ànathuriel lächelte gedankenvoll, während sie Hand in Hand weiter spazierten. Noch vor Monaten, in Commorragh, hätte es sie nicht im Geringsten gekümmert, ob sie jemand anderem etwas bedeutete. Genauso wenig, wie ihr niemand anderes etwas bedeutet hatte. Ein Drukhari lebte allein für sich selbst und verschwendete keinen Gedanken an andere. Der Eigennutz, das uneingeschränkte Vergnügen standen ihm über allem. Dann war sie auf Firondhir, auf Margil und auf Ydrir getroffen, und auf Illurayon. Wahrscheinlich hatte seine Gegenwart während der ganzen Zeit überhaupt erst ihren Geist dafür geöffnet, über die Selbstsucht ihres Volkes hinaussehen zu können. Nie hätte sie geglaubt, nie hätte sie erfahren, wie viel mehr die Verbundenheit mit anderen ihr gebracht hatte. Und was sie dafür bis zur Selbstaufgabe zu tun bereit gewesen war.


    „Eins musst du unbedingt beherzigen“, ergriff sie wieder das Wort. „Vertrau auf Ydrirs Entscheidung, egal wie sehr sie dir widerstrebt.“


    „Was soll das bedeuten?“ fragte er.


    „Das ist das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß“, antwortete sie. „Im entscheidenden Moment wird er die richtige Entscheidung treffen. Lass dich nicht davon abbringen.“


    „Woher weiß ich, wann dieser Moment sein wird?“


    „Dadurch, dass du sie zurückweisen wirst.“


    Firondhir seufzte. Erneut sprach sie in Rätseln. Dabei war ihm der Junge zu wichtig, als dass er sein Schicksal an undurchschaubaren Orakelsprüchen festmachen wollte.


    Ànathuriel spürte den Ärger in ihm aufwallen. Tief in seinem Inneren war der Weltenwanderer immer noch verwundet, und wenn an dieser Verletzung gerührt wurde, konnte selbst sie nicht vorhersehen, was er tun würde. Sie stellte sich vor ihn und legt ihre rechte Hand auf seine Schläfe, die Linke auf seine Brust. Es war, als würde seine Erregung auf sie übergehen und von ihr abfließen wie Wasser von einem Lotosblatt.


    „Vertraust du mir?“ flüsterte sie.


    „Bedingungslos.“


    „Dann versprich mir, worum ich die gebeten habe.“


    „Ich verspreche es.“


    Sie waren am oberen Ende des Kanals angekommen. Das Wasser ergoss sich in mehreren Kaskaden aus einer niedrigen Öffnung in der Seite der Kuppel. Die Lichter in den Wohnbäumen ließen den Sprühnebel wie einen Sternenregen funkeln. Ein breiter, gewundener Steg führte hinauf zu einer hohen, mit Runen und Ornamenten geschmückten Toröffnung.


    Firondhir blieb stehen, küsste Ànathuriel auf die Stirn und wollte sich abwenden.


    „Wo willst du hin?“ fragte sie und griff nach seiner Hand.


    „Zum Hafen, in das Haus der Wanderer“, antwortete er verwundert. „Margil und Ydrir werden mich dort erwarten.“


    „Die können auch weiter warten“, sagte sie. „Komm mit mir.“


    Firondhir sah sie erstaunt an. „In die Häuser der Seher? Das scheint mir unangemessen.“


    Sie legte die Arme um seine Schultern und zog ihn zu sich heran. „Und du denkst, eine ehemalige Drukhari kümmert, was angemessen ist?“

  • Aufbruch


    Längs des Rückens des Weltenschiffes ragten die silbernen Türme des Außenhafens von ZarAsuryan in das Sternenmeer hinaus. Jede Turmspitze war ein Ankerplatz für eines der zahlreichen Schiffe, die das Weltenschiff umkreisten. Einzelne hatten angelegt und ruhten mit zusammengefalteten Sonnensegeln an den Molen.


    Weiter unten, am Fuß der Türme, reihten sich die verschiedene Häuser der Händler-, Schiffsbauer- und Sternenschifferpfade aneinander. Etwas abseits fand sich hier auch das Haus der Wanderer. Weltenläufer und Weltenwanderer waren auf ZarAsuryan willkommener als auf vielen anderen Weltenschiffen, wo das ungebundene Wesen der Ausgestoßenen misstrauisch beäugt wurden. Der Grund mochte sein, dass die IstuKarun ZarAsuryans ihrem eigenen Codex folgten, der den Pfaden nicht unähnlich war. Ein Teil davon war, die jungen Aeldari, die es hinaus in die Sterne zog, anzuleiten und über kurz oder lang sicher auf die Pfade des Weltenschiffes zurückzuführen. Trotzdem zogen viele, vor allem jene, die nicht von ZarAsuryan stammten, es vor, unter sich zu bleiben.


    Margil und Ydrir betraten die Außenterrasse. Sie hatten ihre Ausrüstung schon bereit gemacht. Ydrir trug den schwarzen Mantel der IstuKarun, als wäre er ihm zu klein geworden, ein notwendiges Kleidungsstück, das aber nichts mehr mit seiner Identität zu tun hatte. Auf das Jagdgewehr hatte er verzichtet. Lediglich eine Shurikenpistole steckte in dem verschlossenen Holster an seiner Hüfte. Margil dagegen hatte sich eine neue Waffe besorgt. Firondhir hatte ihn darum gebeten, sein altes Gewehr behalten zu dürfen, nachdem es ihm bei ihrem letzten Abenteuer so gute Dienste geleistet hatte.


    Die Hafenbereich lagen nicht unter einer festen Kuppel wie die Biodome weiter unten. Stattdessen schirmte ein silbriges Energiefeld die Häuser von der Leere des Weltraums ab, die das Weltenschiff umgab. Das langsam anschwellende Tageslicht wurde blassrosa zurückgeworfen wie die Morgensonne auf einer Wasserfläche.


    Firondhir, ebenfalls in Mantel und Reiseanzug, lehnte an dem geschwungenen Geländer der Terrasse. Das zusammengeschobene Gewehr hatte er in einem Futteral zu seinen Füßen abgelegt. Versunken spielte er auf seiner silbernen Flöte eine einfache Melodie. In den hellen Tönen schwangen Melancholie, aber auch Hoffnung und Vorfreude mit. Das Lied kam Margil vertraut vor, doch die Klänge schienen ihm angesichts des Zieles ihrer Reise zu zuversichtlich.


    Neben dem dunkelhaarigen Weltenwanderer stand Ànathuriel in einem schlichten, hellblauen Gewand, die schulterlangen, braune Haare offen über den Rücken fallend, und beobachtete die ohne Hast dahinziehenden, blauen Schiffe mit ihren ausgefalteten silbernen Fächern gleichenden Sonnensegeln. Nichts an ihrer Erscheinung wies auf ihre Stellung und ihren Pfad hin. In dieser schlichten Kleidung hätte sie eine Dienerin sein könne, eine Händlerin – oder eine Ehefrau, die ihren Gemahl verabschiedete. Margil und Ydrir wechselten bedeutungsvolle Blicke.


    „Ist das ein angemessener Ort für eine Dainnar, um sich hier aufzuhalten?“ fragte Margil. Firondhir unterbrach das Flötenspiel. Ànathuriel drehte sich um und sah den blonden Weltenwanderer belustigt an.


    „Jetzt fängt er auch noch damit an“, sagte sie an Firondhir gewandt. Der lächelte, glitt von dem Geländer und hob sein Gewehr auf.


    „Bist du überhaupt ausgeschlafen genug, um aufzubrechen?“ wollte Margil von ihm wissen.


    „Immerhin waren wir eher hier als ihr beide“, gab Firondhir zurück. Margil lachte. Ohne ein weiteres Wort setzten die vier sich in Bewegung und steuerten den Fähranleger an. Ein Landungsschiff wartete bereist. Der blaue Rumpf ähnelte einem Raubvogel mit weit nach vorne gerichteten Schwingen. Auf den Flügeln und dem doppelten Heckleitwerk leuchteten eine große goldene Sonne und drei silberne, die sie umgaben, die Erschaffung des Phönix-Juwels, das Zeichen von ZarAsuryan.


    Bevor die drei die Fähre bestiegen, umarmte Ànathuriel einen nach dem anderen, zuletzt Firondhir. Dabei nahm sie seine rechte Hand und legte etwas hinein. Als sie die ihre zurückzog, erkannte er, dass es eine Haarsträhne war, leuchtend kastanienbraun, nur die äußersten Spitzen purpurrot, eingefasst in eine türkisenen Kristallperle. „Als Glücksbringer“, flüsterte sie ihm zu.


    Als das Schiff abgelegt und den silbernen Schleier durchquert hatte, wandte Ànathuriel sich ab und eilte in Richtung der Kuppel der Seher davon. Sie hatte noch etwas vorzubereiten.

  • Abstieg


    Die Möglichkeiten, heimlich nach Commorragh zu gelangen, waren begrenzt. Die Kabalenfürsten bewachten das Kommen und Gehen durch die Netzportale akribisch und eifersüchtig. Auch wenn es Firondhir missfiel, hatte Margil es für sicherer gehalten, diesmal heimlich an Bord eines fremden Korsarenschiffes zu reisen. Die Farben ZarAsuryans waren nach ihrem letzten Abenteuer in der Dunkeln Stadt zu bekannt, als dass die Anhrathe OteshNovas sie gefahrlos hätten herbringen können – auch wenn ihr Autarch keine Sekunde gezögert hätte. Wie Margil den Ersten Maat dazu gebracht hatte, sie hinter dem Rücken seines Kapitäns einzuschleusen, blieb sein Geheimnis.


    Nun standen die drei erneut an jener Stelle, an der ihr letztes Abenteuer seinen Anfang genommen hatte: die Brücke aus schwarzem Metall, die die Untergeschosse der Kabalenfestung von DorchaKerun mit dem benachbarten Turm verband. Mit ihrem Tragwerk aus gebogenen Rippen glich sie dem auf den Rücken gedrehten Skelett einer riesigen Schlange, das sich, ohne Kopf oder Schwanz, von einem Bauwerk zum anderen wandte. Die Konstruktion schwankte kaum merklich an ihren langen Metallkabeln, mit der sie an der darüber liegenden Plattform befestigt war.


    Firondhir stand zwischen den spitz aufragenden Enden der Rippen, die eine Art Geländer längs der Lauffläche bildeten, und sah hinunter. Ein leichter, warmer Windzug trug einen fauligen Gestank aus der Tiefe hinauf. Giftgrüner Nebel waberte schon wenige Längen unter seinen Füßen. Es war unmöglich zu erkennen, wie tief es hinunterging, geschweige denn, was am Grund lang.


    Allzulange konnten sie sich hier allerdings nicht aufhalten. Die Brücke wurde benutzt. Sie führte die Sklaven, die für die Kabalen von DorchaKerun bestimmt waren, zu einem schmucklosen Tor im Sockel des Festungsturmes. Die Unglücklichen, die dort hindurchgeführt wurden, kamen selten wieder daraus hervor. In einem waghalsigen Unternehmen hatten die Weltenwanderer sich beim letzten Mal auf diesem Weg in die Festung eingeschlichen. Alles, was danach geschehen war, das Gute wie das Schlimme, alles, was sie gewonnen und verloren hatten, war durch diesen Weg vorherbestimmt gewesen. Davon war Firondhir inzwischen überzeugt, und er hatte es angenommen.


    Er dreht sich zu seinen Gefährten um. Ydrir stand einige Schritte hinter ihm. Er hatte den Kopf leicht gesenkt und die Augen geschlossen, als würde er über etwas nachsinnen oder auf etwas lauschen. Auf eine seltsame Art bewahrte er völlige Ruhe, selbst an diesem verfluchten Ort. Bisher hatte der Jungen weder ihm noch Margil erzählt, was er damals von den Ereignissen auf der Brücke mitbekommen hatte. Nicht einmal Ànathuriel hatte er sich anvertraut, die für ihn wie eine Schwester geworden war, vielleicht auch etwas mehr. Dieser letzte Gedanke rief einen Anflug von Eifersucht in dem Weltenwanderer hervor, doch er schob ihn als grundlos beiseite. Hier ging es um wichtigeres. Firondhir war sich sicher, dass Ydrir mit seiner seherischen Begabung inzwischen alles erfahren hatte, auf die eine oder andere Weise.


    „Um dort hinunterzukommen, braucht man Falkenflügel“, kommentierte Margil.


    „Sag nicht, du warst auch noch ein MaerNovas?“, entgegnete Firondhir ungläubig.


    „Nein“, antwortete Margil. „Ich habe Flugangst.“


    Firondhir schüttelte den Kopf. Er zog eine messingfarben glänzenden Metallkegel aus einer seiner Taschen und befestigte ein dünnes, silbernes Seil daran. Dann kniete er am Brückengeländer nieder und ließ es hinab. Das Lot taucht in den grünen Nebel ein und war nach wenigen Augenblicken nicht mehr zu sehen. Immer weiter und weiter spulte das Seil sich ab, bis es an sein Ende gelangt war. Firondhir bewegte es leicht hin und her. Das Seil war lang genug, um die höchsten Bäume in den Wäldern der Exoditenwelten zu erklimmen, doch schien es nach wie vor in der leeren Luft zu hängen. Es wieder einzuholen, dauerte etliche Minuten.


    Inzwischen war Margil die Brücke von einem Ende zum anderen abgelaufen. „Die Mauer des gegenüberliegenden Turms eignen sich nicht zum Klettern“ berichtete er. „Die Oberfläche ist wie die Rinde von Schuppenbäumen. Die Spitzen würden uns aufspießen.“


    Firondhir seufzte. Er hatte nicht vorgehabt, dem Turm von DorchaKerun noch einmal so nahe zu kommen. Aber wie es aussah, mussten sie ihren Weg hinunter über die übereinandergeschichteten Granitsäulen der Turmfundamentes nehmen.


    Der Abstieg zog sich endlos und monoton dahin. Wie viele Male sie schon ihre Seile gelöst und neu gesichert hatten – sie hatten aufgehört zu zählen. Anfangs waren sie noch in andauernder Wachsamkeit gewesen, um nicht von Hellions oder Harpyien überrascht zu werden. Doch die geflügelten Kreaturen hielten sich in den Höhen rund um die Turmspitzen auf, in die Tiefen der Häuserschluchten zog es sie nicht. Und auch die wilden Banden auf ihren Flugboards hatten hier offenbar nicht ihr Jagdrevier. Wie auch, der grüne Dunst machte es fast unmöglich, mehr als eine Armlänge weit zu sehen. Je tiefer sie kamen, um sich dichter schien er zu werden, und umso stärker wurde der Gestank, bis er den Aeldari den Atem raubte und sie zwang, ihre Helme zu schließen.


    Schließlich, ob nach Stunden oder sogar Tagen vermochten sie nicht zu sagen, lichtete sich der Dunst und die drei Weltenläufer stellten zu ihrem Erstaunen fest, dass sie sich nur noch wenige Längen über dem Grund befanden. Unter ihnen zog sich ein grün schimmernder Fluss träge zwischen grauenvioletten Ufern entlang. Ab und an bildeten sich Blasen an seine Oberfläche, platzten auf und entließen Schwaden weißgrünen Dunstes, der aufstieg und die Nebelwolken nährte. Die Fundamente der Kabalentürme, hier unten massiv wie ganze Städte, formten eine Schlucht so tief, dass auch ohne die Dunstdecke das trübe Licht der Ilmaea nicht bis hier herunter dringen würde. Doch die unbestimmbare Flüssigkeit des Stromes strahlte selbst ein diffuses grünes Leuchten aus, das die öde Landschaft zu einem Zerrbild aus Licht und Schatten machte.


    Kurze Zeit später hatte die Gefährten den Grund erreicht. Von den einzelnen, aufsteigenden Nebelschwaden abgesehen war die Luft klar, doch der Gestank, der von dem Fluss ausging, durchdrang sogar die Luftfilter der Helme, so dass sie nicht wagten, sie wieder zu öffnen. Sie lauschten, aber es war kein Laut zu hören – nichts, was auf die Anwesenheit von irgendetwas Lebendem hindeutete. Nicht einmal das Strömen des Flusses erzeugte ein Geräusch.


    Margil ließ seine Zieloptik vor das linke Auge fahren und suchte die Ufer ab. Der Boden schien bedeckt von Staub und Steinsplittern. Einzelne größere Bruchstücke ragten hier und dort hervor. Um was genau es sich handelte, woher sie ihren Ursprung hatten, darüber mochten die Aeldari nicht genauer nachdenken.


    In einiger Entfernung entdeckte der Weltenwanderer eine Gestalt am Boden liegen, ein regloser, schwarzer Körper, wie es schien. Er bedeutete seinen Gefährten, an Ort und Stelle zu bleiben, und tastete sich Schritten für Schritt vorwärts. Instinktiv reichte seine rechte Hand zu seiner Ritualklinge der Rächer Asuryans, die er in einer Scheide am Oberschenke trug. Firondhir blieb bei Ydrir zurück. Versichernd legte er dem Jungen die Hand auf die Schulter. Dann löst er das Futteral vom Rücken, nahm das zusammengeschobene Jagdgewehr heraus und machte die Waffe mit wenigen Griffen schussbereit. Er ging in den knienden Anschlag. Durch das Zielfernrohr sucht er nach Margil, um seinen Gefährten gegen mögliche Angreifer abzusichern.


    Margil erreichte sein Ziel. Sein erster Verdacht bestätigte sich. Es war der Körper eine toten Aeldari. Doch es war nicht der, den sie suchten. Der verkrümmte Leichnam eines Kabalenkriegers lag im Staub. Die geborstenen Platten der schwarzen Rüstung schimmerten im spärlichen Licht in Orange und Dunkelgrün wie die Deckflügel eines zertreten Käfers. Der Unterleib war aufgebrochen, das Fleisch faulig und schwarz. Teile der Innereien fehlten.


    Der Anblick rief bei Margil wenig Regung hervor. Als IstuKarun auf dem Pfad der Ausgestoßenen hatte er Schlimmeres gesehen, als Aspektkrieger in den Schreinen des Skorpions und der Todesfee schlimmeres angerichtet. Aber ein anderer Gedanke beunruhigte ihn. Irgendetwas musste hier sein, das den Toten so zugerichtet hatte. Und vor dem nahmen sie sich besser in Acht, was immer es sein mochte. Er versuchte, mit seiner Zieloptik die Schatten zu durchdringen, wechselte mittels Gedankenimpulse die Einstellung auf verschiedene Lichtwellenlängen. Doch er konnte nichts entdecken. Ohne die Umgebung aus den Augen zu lassen, richtete er seinen Geist auf Firondhir aus und teilte ihm, verstärkt durch die psionischen Kommunikationsschaltkreise in seinem Helm, seine Beobachtungen mit.


    Firondhir antwortete knapp. Auch er hatte bisher nichts entdecken können. Er schulterte das Gewehr und schritt zu Margil hinüber. Ydrir folgte ihm.


    Firondhir beugte sich nieder und untersuchte den toten Kabalenkrieger.


    „DorchaKerun“, sagte Margil.


    Firondhir nickte. Dann fiel sein Blick auf einen metallenen Gegenstand neben dem Körper. Es war ein Dreieck aus bronzenen Stäben, gerade so große wie seine Handfläche. Er hob das vermeintliche Schmuckstück auf und betrachtete es genauer. Schwache psionische Energie schien durch die Streben zu fließen. Er steckte den Gegenstand in eine seiner Taschen.


    Der Anblick des toten Drukhari jagte Ydrir einen Schauer über den Rücken.


    „Ob er bei dem Überfall der Hellions hier heruntergestürzt ist?“ fragte er.


    Margil schüttelte den Kopf. „Von diesem Kampf müssten mehr Überreste hier sein. Aber hier unten bleibt nichts so lange liegen.“


    Gerade formte sich eine Vorstellung in seinem Geist, was mit dem Körper seines Bruders geschehen sein mochte, als ein eisiger Hauch Ydrir erzittern ließ, als wäre ein kalter Windstoß direkt durch ihn hindurch gefahren. Er zitterte heftig und zog den Mantel um sich. Firondhir fasste ihn am Arm.


    „Ydrir, was ist los?“ fragte er besorgt. Doch schon im nächsten Augenblick fühlt auch er eine beißende Kälte.

  • Nurakh


    Ein heiseres Lachen, eher einem Keuchen gleich, durchdrang die dämmrige Stille. „Was ihr sucht, ist nicht mehr hier", sagte eine tiefe, schneidende Stimme.


    Die drei sahen sich um. Der Ursprung der Worte war nicht auszumachen, bis sich, vielleicht zwei Dutzend Schritte entfernt, eine gebeugte Gestalt im Schatten einer Wand abzeichnete, als wäre sie dort eben erste in die Wirklichkeit getreten. Die drei Aeldari rückten näher zusammen. Die reine Präsenz der Gestalt flößte jedem einzelnen eine unbestimmbare Furcht ein. Ydrir jedoch war beinahe wie gelähmt. Firondhir nahm seinen Zustand wahr und stellte sich schützend vor den Jungen.


    „Wer bist du?“ fragte Margil.


    Die Gestalt trat noch einen Schritt weiter vor. Mit angewinkelten Knien und gekrümmten Rücken hockte sie am Boden. Ihr Körper war in einen weiten, groben Mantel aus roher Haut gehüllt, die im grünen Leuchten des Flusses leichenhaft schimmerte. Die Kapuze war tief über den Kopf gezogen. In der Schwärze darunter war kein Gesicht auszumachen, nur einige Strähnen langer, grauweißer Haare fielen hervor und hinab auf seine hängenden Schultern. Die Gestalt hatte ihre Arme auf den Knien abgelegt. Die Hände und bloßen Füße, die aus dem Kleid herausragten, waren dürr und knochig, die Nägel lang wie Krallen und die Haut schien kohlschwarz.


    Die Gestalt kicherte wieder. „Du darfst mich Nurakh nennen, IstuKarun.“


    „Und was willst du von uns?“


    „Du stellst die falsche Frage, IstuKarun. Was wollt ihr von mir?“


    Die drei sahen einander verwirrt an. „Wir wollen nichts von dir, alter Mann“, erwiderte Margil.


    „Oh doch“, zischte der Fremde. „Ihr seid auf der Suche nach eurem Freund. Und ihr wollte sicher nach Hause zurückkehren. Ohne mein Einverständnis wird euch nichts davon gelingen.“


    „Wie willst du uns daran hindern?“ fragte Margil forsch. Firondhir bedeutete ihm, sich zurückzuhalten. Für gewöhnlich ließ er sich von dem scheinbar Unerklärlichen nicht schrecken. Aber an diesem Fremden war etwas Unnatürliches, nicht greifbares. Wozu er fähig sein, wie er reagieren mochte, ließ sich nicht ermessen.


    Der Fremde antwortete nicht, sondern lachte nur heiser.


    „Was kannst du uns sagen?“ fragte Firondhir mit Ruhe.


    „Was bist du bereit, zu zahlen?“, entgegnete Nurakh, trat einen Schritt näher und richtete sich kaum merklich auf.


    „Wir haben nichts von Wert“, räumte Firondhir ein. Auch wenn er keine Augen sehen konnte, spürte er, wie der kalte Blick des Fremden sich auf ihn richtete. Ihm war, als würde eine Klinge aus Eis sein Herz durchbohren. Er rang nach Luft.


    „Du hast etwas von großem Wert“, widersprach Nurakh. Er streckte seine knochige Hand aus. Sein ausgestreckter Finger deutete auf die kastanienbraune Haarlocke, die Firondhir unter seinem Mantel am Gürtel trug.


    Firondhir erschrakt. Eine düstere Ahnung beschlich ihn. Es war nur ein Schmuckstück mit romantischem, keinem realen Wert, nicht einmalig und ohne irgendeine Fähigkeit - zumindest keine, die Ànathuriel ihm mitgeteilt hätte. Dennoch sagte eine innere Stimme ihm, dass es Unheil bedeuten würde, wenn er dem Fremden die Haarlocke überließ.


    „Also doch von großem Wert. Sonst würdest du es mir ohne weiteres geben.“


    „Ich sehe immer noch nicht, warum wir dir überhaupt etwas geben sollten“, mischte Margil sich ein. „Wie du sagtest, wir sind IstuKarun. Wir finden unseren Weg.“


    Firondhir wollte etwas einwerfen, um die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen. Doch Nurakh lenkte selbst ein.


    „Nun gut, IstuKarun, wie ihr wollt“ sagte er eisig. „Ihr findet euren Freund dort.“ Seine Hand wies auf das Fundament der Kabalenfestung. „Folgt einfach dem Fluss. Aber ich habe euch gewarnt. Am Ende wird der Preis höher sein.“


    Die drei Weltenläufer schauten in die angezeigte Richtung. Die grüne Flüssigkeit verschwand in einem weiten Spalt zwischen den Granitsäulen. Als sie sich wieder dem seltsamen Alten zuwandten, war er fort. Sie sahen sich aufmerksam um, doch von ihm war keine Spur mehr zu finden, als hätte er sich in den Schatten aufgelöst, aus denen er herausgetreten war. Langsam verzog sich auch die Kälte aus ihren Gliedern.


    Firondhir wandte sich Ydrir zu. Auch ohne das kreidebleiche Gesicht unter dem Helm zu sehen, spürte er, dass die Begegnung den Jungen schwer mitgenommen hatte. Nur langsam löst er sich aus seiner Erstarrung. Firondhir legte ihm die Hände auf die Schultern.


    „Geht es dir besser?“ fragte er. Ydrir nickte schwach.


    „Was hältst du davon?“ wollte Margil von Firondhir wissen.


    Der Schüttelte mit dem Kopf. „Ich weiß nur eins: Wir sollten nichts und niemandem hier unten trauen. Aber der Fluss fließt in diese Richtung. Was immer in seine Strömung gelangt, wird dorthin fortgetragen. Also folgen wir ihm.“ Er zögerte einen Moment. „Bist du einverstanden, Ydrir?“


    „Das war kein Wesen von dieser Welt“, sagte Ydrir und schüttelte sich.


    „Du meinst es war eine Kreatur des Sha’eil?“ fragte Margil. „Hier?“


    „Nein, kein Dämon. Aber auch kein Drukhari. Irgendetwas dazwischen. Firondhir hat recht, wir dürfen ihm nicht trauen. Ich wünschte, sie hätten nicht bemerkt, dass wir hier sind.“


    „Sie? Denkst du, es sind mehr als dieser eine?“


    Ydrir nickte. Die Erinnerung an seine Vision, an jenes monströse, finstere Bewusstsein kehrte schlagartig zurück. Doch was er empfunden hatte war größer, weit größer gewesen als die gebeugte Kreatur, der sie eben begegnet waren. Er konnte sich noch keinen Reim drauf mache. Und solange er sich selbst nicht sicher war, wagte er nicht, seine Freunde mit seinen Ahnungen zu behelligen.


    „Dann sollten wir dafür sorgen, dass wir vor ihnen verborgen bleiben“, sagte Firondhir. „Lasst und gehen.“


    Die Weltenläufer näherten sich dem Spalt. Schon bevor sie die Wand erreicht hatten, begannen die sechseckeigen Granitsäulen wie versteinerte Schachtelhalme aus dem Ufer aufzuragen, erst vereinzelt, dann immer dichter und höher, bis schließlich kein Durchkommen mehr möglich war. Den Asuryani bleib nichts anderes übrig, als durch das grüne Wasser zu waten. Schließlich zwängte der Fluss sich träge wallend durch die Öffnung und war schon wenige Schritte dahinter, trotz seines eigenen schwachen Leuchtens, nicht mehr zu sehen. Firondhir blieb einen Moment stehen und sah seine Gefährten an. Margil und Ydrir bedeuteten Zustimmung. Dann tauchten die drei in die Finsternis ein.

  • Salamander


    Hinter dem Eingang schien der Tunnel etwas breiter zu werden. Zumindest waren im schwachen Licht keine Wände zu erkennen. Margil, der vorweg ging, streckte prüfend eine Hand aus. Etwas mehr als eine Armlänge entfernt berührten seine Fingerspitzen den Fels. Das Wasser – oder was immer es war – war nicht mehr als knietief und schien außer dem Gestank keine weiteren Auswirkungen zu haben. Außerdem waren die Anzüge der Weltenläufer gegen äußere Einflüsse abgeschlossen. Daher entschlossen sich die drei, zunächst keinen Weg an Land zu suchen.


    So folgten sie dem Flusslauf wahrscheinlich schon mehrerer Stunden. Der Tunnel hatte wenig Gefälle, wand sich aber in zahlreichen Kurven und Schleifen zwischen dicken Bündeln von Granitsäulen hin und her, sodass die tatsächliche Distanz, die sie zum Eingang gewonnen hatten, weitaus geringer sein mochte. Rasch verloren sie jedes Zeitgefühl und Margil war der Einzige von ihnen, der überhaupt noch eine Vorstellung von ihrer Richtung hatte. Insgesamt, so versicherter er, bewegten sie sich auf das zu, was das Zentrum des Sockels unterhalb der Kabalenfestung sein musste.


    Zu Anfang hatte Firondhir noch mit höchster Aufmerksamkeit versucht, die Umgebung wahrzunehmen. Von ihrer Bekanntschaft vor dem Tor oder möglichen seiner Artgenossen wollte er hier nicht überrascht werden. Doch in der tiefen Finsternis des Tunnels regte sich kein Anzeichen von Leben. Inzwischen war auch das Leuchten des Flusses so weit geschwunden, dass selbst die Nachsichteinstellung der Helmoptik nicht mehr als grünliche Schemen hervorbrachte. Das leise Plätschern, dass ihre Schritte im Wasser verursachten, klang dumpf und trug kaum weiter als bis zu seinem eigenen Ohr. Ihm war, als hätte die Dunkelheit ihn verschluckt und alle seine Sinne von der Außenwelt abgeschnitten. Mehr und mehr formte sich ein Gedanke in seinem Geist. Ob Ydrir so empfunden haben mochte, als der Ath-NaranKuras…


    Unvermittelt stieß er mit Margil zusammen. Der blonde Weltenwanderer war stehen geblieben. Im schwachen, grünen Dämmerlicht konnte Firondhir seine Umrisse erkennen. Er hatte den Kopf gesenkt, als würde er nach unten schauen.


    Was ist los?‘ fragte er ihn in Gedanken.


    Firondhir fühlte mehr, als dass er sah, wie Margil nach unten auf das Wasser wies. Dann zuckte er zusammen, als hätte ihn etwas gebissen. Als nächstes hörte er, wie Ydrir einen Laut der Überraschung von sich gab und wandte sich um.


    Um die Füße des Jungen wanden sich ein halbes Dutzend armlanger, wurmartiger Kreaturen. Ihre farblosen Körper leuchteten und flackerten in violetten Blitzen. Mit langen, stumpfen Schnauzen und kurzen, stummelartigen Vorderbeinen klammerten sie sich an seine Beine.


    Ydrir versuchte, die Tiere abzuschütteln, doch sie hatten sich festgesaugt wie Egel. Ihm wurde schwindelig und sein Blick verengte sich. Es war, als würde die Geschöpfe seinem Körper Energie entziehen. Die Beine versagten ihm den Dienst, er schwankte und stürzte der Länge nach ins Wasser. Firondhir packte ihn am Kragen und zog ihn hoch, ungeachtet, dass sich zwei der Kreaturen nun um seine Arme wanden.


    Margil war es indessen gelungen, einen seiner Angreifer zu fassen zu bekommen und von seinem Bein loszureißen. Der Wurm wand sich in seiner Faust und schlug mit dem langen, spitz zulaufenden Schwanz um sich. Selbst durch den Handschuh konnte der Aeldari die psionische Leere des Geschöpfes spüren. Seine Hand begann, taub zu werden. Diese Würmer waren quaarinish, sie absorbierten psionische Energie. Kein Wunder, dass sie vor allem Ydrir angingen, er war der psionisch stärkste von ihnen dreien. Angewidert schleuderte Margil die Kreatur gegen einen Felsen. Es prallte ab und landete platschend auf dem Wasser.


    Noch ehe es in den grünen Fluten versank, durchbrach ein flacher, halbrunder Kopf, umgeben von einem Kranz aus Kiemenbüscheln, die Oberfläche. Das Tier sperrte sein großes, fast die gesamte Kopfbreite umfassendes Maul auf und packte den Wurm, schüttelte ihn einige Male hin und her und verschlang seine Beute mit wenige Bissen.


    Erschrocken zog Margil sein Kurzschwert. Doch das Tier tauchte schon wieder ab, das Wasser mit seinem flachen, flossengesäumten Schwanz aufpeitschend. Im nächsten Moment war es bei Firondhir, der versucht, Ydrir wieder aufzuhelfen. Margil hechtete hinterher. Die Würmer bemerkten das Nahen des Raubtiers und ließen von den Aeldari ab, doch zu spät. Blitzschnell setzte die Kreatur ihnen nach, packte einen nach dem anderen und biss sie in Stücke. Mehr als die Hälfte der Würmer hatte das Tier bereits vertilgt, ehe die restlichen die Flucht ergriffen. Kurz verfolgte es seine Beute, dann drehte es um und kehrte zu den Aeldari zurück.


    Firondhir hatte Ydrir inzwischen wieder aufgeholfen und ebenfalls sein Messer gezogen. Angespannt beobachteten sie das Wasser. Dann war das Raubtier wieder da. Es erinnerte an einen riesigen Molch, mit flachem Kopf, gedrungenem Körper, vier kurzen, kräftigen Beinen und einem langen, seitlich abgeflachten Schwanz. Der Flossensaum zog sich über den Rücken bis zum Nacken. Seine Haut, soweit sie es in der Dunkelheit erkennen konnten, war fahl weiß. Weit vorne, an den Seiten des halbrunden Kopfes saßen zwei große, helle Augen und am Ende der stumpfen Schnauze runde Nasenlöcher. Vom Kopf bis zum Schwanzende war es halb so groß wie ein Aeldari.


    Die Amphibie hielt auf sie zu. Margil hielt seine Klinge vor sich und ging in die Knie, bereit, auf das Raubtier einzustechen. Doch kurz bevor es ihn erreichte, drehte das Tier ab, paddelte mit peitschendem Schwanz um ihn herum, sprang aus dem Wasser und drehte sich um seine eigene Achse wie ein verspielter Otter.


    Firondhir lachte und steckte sein Messer weg. „Es scheint, als hättest du einen Freund gefunden.“ Auch wenn er sein Gesicht nicht sehen konnte, so konnte er doch spüren, dass Margil von dieser Aussicht nicht besonders angetan war.


    „Hast du nicht gesagt, dass wir hier nichts und niemanden trauen können?“, wandte Margil ein, immer noch das Schwert in der Hand und das Tier misstrauisch beobachtend.


    „Wenn Tiere dich täuschen wollen, dann täuschen sie Schwäche vor, nicht Verspieltheit“, entgegnete Firondhir. „Außerdem hast du ihn gefüttert.“


    „Hoffentlich erwartet er nicht, dass wir ihm noch mehr verschaffen. Auf eine weitere Begegnung mit diesen Biestern kann ich verzichten.“


    „Wenn er zumindest diese Geschöpfe von uns fernhalten kann, ist er eine große Hilfe“, warf Ydrir ein. Er fühlte sich, als wäre ihm ein Teil seiner Lebensenergie ausgesaugt worden.


    „Brauchst du noch einen Moment Ruhe?“ fragte Firondhir, selbst auch noch etwas benommen von der Begegnung.


    „Es wird gehen“, antwortete Ydrir.

  • Verloren


    Die drei setzten ihren Weg fort, nun in der Begleitung des Salamanders. Mit gemächlichen Schwanzschlägen glitt die Amphibie voran durch das trübe Wasser, ab und an mit der Nase die Oberfläche durchstoßend, um Luft zu holen. Der Fluss war immer noch flach, doch schien die Strömung abgenommen zu haben. Gleichzeitig glaubte Margil, mehr Raum um sich herum zu spüren, vielleicht sogar einen Luftzug. Sein Eindruck bestätigte sich. Je weiter sie gingen, umso mehr öffnete sich der Tunnel in verschiedene Grotten und Kavernen. Die Granitsäulen formten einen Wald aus senkrechten, astlosen Stämmen. Der Fluss verteilte sich in mehrere Arme, das Wasser sammelte sich hier und da in kleinen Tümpeln. Wann immer sie einen Fuß hineinsetzten und es aufwirbelten, flammte ein gelblichgrünes Leuchten auf. Der schwimmende Salamander zog eine Spur aus kaltem Licht hinter sich her.


    Die neue Form der unterirdischen Landschaft bereitete Margil Unbehagen. Die Strukturen waren selbst für ihn verwirrend. Im Dunkel ließen sich keine Wegmarken ausmachen. Und das Wasser folgte kaum noch einer Fließrichtung, sondern breitet sich aus wie in einem versteinerten Sumpfwald. Er versuchte, sich an der Gruppierung einzelner Säulen zu orientieren, an der vermuteten Größe und Lage der Tümpel und den Windungen der Wasserarme. Doch alles versank nach wenige Schritten in tiefen, undurchdringlichen Schatten. Zunehmend machte sich das beklemmende Gefühl in ihm breit, dass sein Gespür für Richtung ihn hier im Stich ließ.


    Eben kamen sie an einer Gruppe von fünf Steinbäumen vorbei, die in einer beinahe graden Reihe aus dem Wasser eines Teiches ragte, nur wenige Schritte von Ufer entfernt. Margil blieb stehen. Er war sich beinahe sicher, dass sie eine solche Formation vor geraumer Zeit bereist passiert hatten. Doch ob es die gleiche oder eine ähnliche war, konnte er nicht sagen. Ihm fehlten die Anhaltspunkte der weiteren Umgebung. Und hier unten, ohne Licht, ohne Geomagnetfeld, ohne Tages- oder Nachthimmel halfen auch keine Orientierungsgeräte.


    Firondhir und Ydrir waren auf seine Fähigkeit angewiesen. Wenn er versagte, wenn er sie die ganze Zeit nur im Kreis führte, waren sie verloren. Sie würden hier nie wieder herausfinden, vom Erreichen ihres Ziels gar nicht zu reden Die fünf Steinsäulen erschienen Margil wie die drohenden Klauenfinger Morai-Hegs[1], darauf lauernd die drei Wanderer zu ergreifen und festzuhalten, bis sie schließlich in der Finsternis zu Grunde gingen.


    Die Unsicherheit, die er die letzten Stunden zu unterdrücken versucht hatte, drang mit umso größerer Gewalt wieder hervor und begann, sich in Scham und Hilflosigkeit zu wandeln. Er konnte nicht einen weiteren Schritt tun, aus Furcht, sie damit nur noch weiter in die Irre zu führen. Sein eigenes Schicksal anzunehmen, wenn er sehen konnte, dass es keinen Ausweg gab, lag in Margils Natur. Die Aussicht aber, seine Freunde mit ins Verderben zu ziehen, ließ ihn verzweifeln.


    „Ist etwas nicht in Ordnung, Margil?“ hörte er Ydrir verunsichert fragen. Es konnte gar nicht anders sein, die empfindsamen Sinne des Jungen musste seine Verzweiflung wahrgenommen haben. Er wusste nicht, was er ihm antworten sollte.


    Firondhir trat hinzu. Sein Orientierungssinn war weniger ausgeprägt als Margils, doch er war schon lange genug ein Weltenwanderer, dass seine Erfahrung ihm genügte, um zu erkennen, dass sie in ernsthafte Schwierigkeiten geraten waren. Der seltsame Alte am Eingang kam ihm wieder in den Sinn. Und Margils selbstbewusste Worte. Hatte der Fremde am Ende doch recht gehabt? War dies ein Labyrinth, das selbst die IstuKarun nicht meistern konnten? Unwillkürlich begannen seine Finger mit der Haarsträhne an seinem Gürtel zu spielen.


    „Du hättest besser daran getan, sie ihm zu geben“, sagte Margil düster, ließ sich mit dem Rücken an einer Steinsäule niedersinken und senkte den Kopf auf die Knie.


    Er wusste nicht wieso, doch diese Worte ließen Zorn in Firondhir aufwallen. Eben noch hatte er die feste Absicht gehabt, keine Worte des Vorwurfs an Margil zu richten, doch nun brachen sie ungezügelt aus ihm heraus: „Das sagt der große Wegfinder jetzt, nachdem er versagt und seine Gefährten in den Untergang geführt hat!“


    Margil sprang wieder auf. „Ja, das sage ich!“ gab er erregt zurück. „Bin ich ein Seher? Konnte ich vorhersehen, wie es in dieser Gruft aussieht? Du hättest verhindern könne, dass wir so hier enden! Du hättest dem Alten geben können, wonach er verlangt hat! Es wäre ein kleiner Preis gewesen.“


    „Wir kannst du dir so sicher sein?“ mischte Ydrir sich ein. Seine Stimme war außergewöhnlich fest, fast bestimmend. „Du weiß nicht einmal, was er war. Weißt du, was er damit will? Weißt du, ob er nicht sogar Ànathuriel damit schaden kann? Willst du das riskieren?“


    Firondhir fuhr zusammen. Genau dies war auch seine Befürchtung gewesen. Nun, da Ydrir, der mehr von diesen Dingen verstand als sie beide, sie offen aussprach, war er umso mehr überzeugt, richtig gehandelt zu haben, allen bitteren Konsequenzen zum Trotz.


    „Und du halte dich zurück!“ wandte Ydrir sich nun an Firondhir. „Margil Vorhaltungen zu machen, bringt uns einer Lösung unseres Problems nicht näher.“


    Firondhir war sprachlos vor Überraschung. Und freudig beindruckt, wobei er nicht umhinkonnte, dies durch seine Körperhaltung auszudrücken. Es war das erste Mal, seit er ihn kannte, dass er den Jungen mit solch einer Autorität sprechen hörte. Margil dagegen ließ sich in seiner Verbitterung nicht beeindrucken.


    „Aber du, junger Seher, weißt dies alles selbstverständlich“, sagte er mit tiefem Sarkasmus.


    Doch diesmal, ermutigt durch Firondhir Zuspruch, ließ Ydrir sich von Margils spitzen Worten nicht verunsichern.


    „Ich weiß eines ganz sicher“, entgegnete er mit Nachdruck, doch ohne jeden Zorn. „Und du weißt es genauso, denn du hast es auch gespürt. Diese Kreatur wollte uns nicht helfen. Er hätte uns ins Verderben geschickt, zu seiner eigenen Freude.“


    Margil verstummte. Er konnte nicht leugnen, dass auch er die tödliche Kälte und das lähmende Entsetzen empfunden hatte, die von dem Alten ausgegangen waren. Doch machte das einen Unterschied, nun, da das Ergebnis offenbar dasselbe war?


    „Das Wasser muss irgendwohin abfließen. Sonst würde es steigen. Und das tut es nicht, richtig?“ fragte Ydrir.


    „Das stimmt“, bestätigte Firondhir.


    „Also müssen wir nur die Fließrichtung wiederfinden.“


    „Woher willst du überhaupt wissen, dass das, was wir suchen, nicht irgendwo in dieser Höhle ist?“ warf Margil ein.


    Ydrir schwieg. Die Frage war berechtigt. Was der Fluss bis hierher getragen hatte, musste in diesem versteinerten Sumpf gestrandet sein. Vielleicht lagen Ydrils Körper und sein Seelenstein irgendwo in den Tümpeln. Ydrir hatte angenommen, ihn spüren zu können, wenn es so war. Aber er empfand nichts und konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob wirklich nichts da war, oder nur seine Wahrnehmung nicht genügte. Wenn es so war, wenn sein Bruder irgendwo hier war, ohne dass er dessen gewahr wurde, musste es an ein Wunder grenzen, zufällig auf ihn zu stoßen.


    Firondhir seufzte. „Wann haben wir zuletzt geschlafen?“ fragte er.


    Weder Margil noch Ydrir wussten eine Antwort.


    „Wir sollten uns ausruhen“, sagte er. „Dieser Ort ist so gut wie jeder andere. Vielleicht sehen wir danach klarer.“


    Margil zuckte resigniert die Schultern, ließ sich wortlos in einer Nische zwischen den Granitsäulen nieder und zog die Kapuze seines Mantels tief ins Gesicht.


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    [1] Schicksalsgöttin der Aeldari in Gestalt einer uralten Frau

  • Aus dem Dunkel


    Ydrir stand im knöcheltiefen Wasser. Um ihn herum breitete sich einer der trüben Weiher aus. Die Wasserfläche war so groß, dass ihre Ufer sich in der Dunkelheit verloren. Er sah sich nach seinen Gefährten um. Sie waren nicht da.


    Er hätte erwartet, dass diese Entdeckung Furcht in ihm auslöste. Doch dem war nicht so. Stattdessen empfand er Verwunderung. Wohin waren Margil und Firondhir verschwunden? War ihnen etwas zugestoßen? Anders wäre es nicht möglich, dass sie ihn hier allein zurückgelassen hätten.


    Hier? Dies war ein ganz anderer Ort als der, an dem sie Rast gemacht hatten. Es gab keine, Wände, keine Säulen, keine Strukturen. Hier war einfach nur finstere Leere, nach allen Richtungen gleich.


    „Firondhir? Margil?“ rief er. Nichts. Seine Stimme schien kaum bis an sein eigenes Ohr zu reichen. Er begann, vorwärtszugehen, blieb aber schon nach wenigen Schritten wieder stehen. Auch wenn er einen Fuß vor den anderen setzte, hatte er das Gefühl, nicht von der Stelle zu kommen. Allmählich kam ihm eine Ahnung. Er war nicht mehr in der Höhle an den Wurzeln des Turms von DorchaKerun. Er war an überhaupt keinem realen Ort.


    Was war das letzte, an das er sich erinnern konnte? Firondhir hatte sie aufgefordert, sich auszuruhen. Er war dem nachgekommen. Was war davor gewesen? Margils Frage, ob sie Ydril hier überhaupt finden würden. Sie hatte Zweifel und Ratlosigkeit in ihm gesät.


    Im selben Moment, in dem ihm diese Erinnerung in den Sinn kam, ging diese Saat auf. Schwarze, dornige Ranken durchbrachen die Wasseroberfläche, schlang sich um seine Knie und tasteten sich seine Beine hinauf. Er stieß eine Laut der Überraschung aus und versuchte die Triebe abzustreifen. Doch sie zogen sich immer fester um ihm und durchstießen seinen Anzug mit ihren fingerlangen Dornen, die sich langsam und schmerzhaft in sein Fleisch drückten. Je mehr er sich wehrte, umso schneller wurde das Wachstum und umso dicker wurden die Äste. Schon wickelten sie sich um seine Brust und begannen, ihm den Atem abzuschnüren.


    Gefangen in einem Netz aus Pein und kurz vor dem Ersticken gab er schließlich jeden Widerstand auf. Sein Geist entschwand hinaus in die endlose Finsternis und überließ sich völlig dem Gedanken an seinen Bruder. Doch wohin er auch trieb, er fand nichts außer Leere. Und diese Leere gab ihm die Gewissheit, die er suchte: Ydril war nicht hier. Also mussten sie ihn auch nicht in den Kavernen suchen. Sie mussten ihren Weg fortsetzen, dem Fluss folgen.


    Je weiter er die Leere erforschte, desto mehr lösten sich die Ranken und fielen welkend von ihm ab, bis er frei und völlig in sich ruhend dastand. Eben glaubte er, das Dunkel in seiner ganzen Ausdehnung erfasst zu haben, als am Rande seines Bewusstseins etwas Neues erschien. Wild, fremdartig. Gefährlich.


    Eine unsanfte Berührung am Arm holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Jemand rief seinen Namen. „Ydrir, wo warst du?“


    Ydrir fand sich auf dem feuchten Boden liegend wieder, Firondhir über sich gebeugt. Er holte ein, zwei Mal tief Luft. Die Enge war verschwunden. Er stützte sich mit den Armen ab und setzte sich auf.


    „Du hast im Schlaf nach uns gerufen“, hörte er den Weltenanderer sagen. „Und dann sah es aus, als könntest du nicht atmen.“


    „Hier, überall“, sagte er mit noch leicht entrückter Stimme, auf die erste Frage antwortend. „Er ist nicht hier. Ydril. Er ist nicht in dieser Höhle. Ich weiß nicht, wo. So weit konnte ich nicht sehen. Aber nicht hier. Wir müssen weiter.“


    „Womit wir wieder bei dem gleichen Problem wären“, seufzte Margil. Die Rast hatte ihn zur Ruhe gebracht, aber nicht zu einer Lösung.


    Ydrir überlegte, ob er Firondhir von seiner letzten Wahrnehmung erzählen sollte. Nur, was sollte er ihm sagen? Mehr als eine vage Ahnung, das da draußen irgendetwas war, hatte er nicht erhalten. Und das dürfte an diesem Ort nichts Außergewöhnliches sein, im Gegenteil. Eher war es schon beinahe verwunderlich, dass sie bisher auf nichts weiter als die widerwertigen Würmer und den großen Salamander gestoßen waren.


    Gedankenverloren ließ er seinen Blick über den Tümpel schweifen. Schon nach wenigen Metern verlor sich die Wasserfläche in der Dunkelheit. Ebene tauchte ihr amphibischer Begleiter wieder auf. Er musste den Halt genutzt haben, um auf die Jagd zu gehen, denn er war noch dabei, sich irgendein unförmiges Gliedertier einzuverleiben. Der Anblick weckte in Ydrir grauenhafte Erinnerungen. Ein Zittern durchlief seinen Körper.


    Dann bemerkte er das grüne Glimmen, wo der Salamander das Wasser aufgewühlt hatte. Die leuchtenden Schlieren schienen zu treiben, langsam, aber stetig, in eine Richtung, bis sie irgendwann nach kurzer Zeit erloschen. Ydrir trat an das Wasser heran, ging in die Hocke und rührte es ein wenig mit der Hand auf. Erwartungsvoll beobachtete er, wie sich das Leuchten bewegte. Er hatte richtig gesehen, es zog von ihm weg, in die gleiche Richtung wie beim ersten Mal.


    „Das ist es", wisperte er, mehr zu sich selbst. Dann rief er die beiden anderen: „Schaut her!“


    Ydrir steckte seine Hand ins Wasser und bewegte sie einige Male hin und her. Das Wasser leuchtete auf und schon wenige Augenblicke später begannen die gelbgrünen Schlieren davonzutreiben.


    „Dort ist die Strömung“, sagte er. „Wir müssen nur dem Glühen folgen. Ydril ist nicht in dieser Höhle. Also müssen wir einen Weg hinausfinden. Und dies hier weist ihn uns.“


    Seine Stimme war so voll Überzeugung, dass selbst Margil nicht mehr zu widersprechen wagte. Firondhir legte dem Jungen anerkennend den Arm auf die Schulter. „Der Pfad des Wanderers mag nicht der deine sein, die nötigen Fähigkeiten hast du trotzdem.“


    Verlegen sah Ydrir zur Seite. „Genau genommen hat er mir die Lösung gezeigt.“ Er wies auf den Salamander, der ruhig am Ufer knapp unter der Wasseroberfläche lag und scheinbar vor sich hindöste.


    Firondhir lachte. „Genau das meine ich.“


    Ydrir lächelten. Er verstand nicht ganz, was der Weltenwanderer damit sagen wollte. Aber einerlei, wichtig war, dass sie einen Ausweg gefunden hatte. Die drei nahmen ihre Ausrüstungsbündel auf uns machten sich daran, ihre Reise fortzusetzen.

  • Die Vorratskammer


    Ydrirs Strategie ging auf. Es war ein mühseliges, kleinschrittiges Vorankommen. Schnell hatte sie festgestellt, dass sie mit ihren Schritten behutsam in das Wasser eintauchen mussten. Zu heftige Verwirbelungen trieben das Leuchten auseinander, so dass es verglomm, ehe sie erkennen konnte, in welche Richtung es davonzogen. Immer wieder mussten sie Pausen einlegen und dem Wasser Zeit geben, zur Ruhe zu kommen, um dann behutsam den Weg wieder aufzunehmen. Zumindest behinderte der Salamander sie nicht. Auf irgendeine unerklärliche Art musste das Tier erkannt haben, was die Aeldari mit ihrer seltsamen Fortbewegungsweise bezweckten. Die meisten Zeit schwamm er ruhig hinter ihnen.


    Es mussten wohl einige Stunden verstrichen sein, als die Tümpel begannen, schmaler und tiefer, die Bündel aus Granitsäulen dichter zu werden, bis sie sich wieder zu Pfeiler und Wänden zusammenschlossen, zwischen denen langsam strömende Kanäle einher zogen. Auf eine bizarre Art erinnerten die Tunnel Firondhir an die Wohnkuppeln auf ZarAsuryan – ein finsteres Gegenbild des Weltenschiffs.


    Die ganze Zeit hatte Ydrir mit einem Ohr – oder welchem anderen Sinn auch immer - in die Dunkelheit gelauscht. Jenes Echo am Rande seiner Vision hatte ihn nicht mehr losgelassen. Aber auch hier schienen sie völlig allein zu sein.


    Unvermittelt trat er auf irgendetwas weiches, so dass er beinahe ausgeglitten wäre. Mit dem nächsten Schritt stieß sein Fuß gegen etwas am Boden. Die Fußspitze drückte den Gegenstand ein wenig ein, wurde dann aber von etwas härterem aufgehalten. Verwundert richtete er seinen Blick nach unten und schrak von Grauen und Abscheu zurück.


    Der Körper eines Aeldari lag vor ihn – oder zumindest das, was davon übrig war. Die Gliedmaßen lagen im Umkreis einiger Schritte um den von der Hüfte bis zur Brust geöffneten Torso verteilt. Die Rippen ragten weit auseinander. Einige der Organe, welche genau konnte Ydrir nicht bestimmen, waren neben dem Körper aufgereiht, als hätte sie jemand dort ausgelegt. Die leeren Augen des eingefallenen Gesichts starrten ins Nichts. Ydrir stieß einen unterdrückten Schrei aus.


    Die beiden Weltenwanderer kamen hinzu. Firondhir betrachtete den Leichnam genauer. Es war schwer zu sagen, ob der Körper auseinandergerissen oder mit einem Werkzeug zerlegt worden war. Wenn das zweite zutraf, musste es sich um eine stumpfe, gezackte Klinge gehandelt haben. Selbst einem Drukhari war zu wünschen, dass er zu diesem Zeitpunkt schon tot gewesen wäre. Den Überresten seines Gesichtsausdrucks nach zu urteilen, war dies nicht der Fall gewesen.


    „Das ist nicht der einzige“, war Margils Stimme aus der Dunkelheit hinter ihnen zu vernehmen. Firondhir war im Begriff, Ydrir zu bedeuten, an Ort und Stelle zu bleiben, doch der Junge war schon an ihm vorbeigehuscht.


    Margil stand zwischen einem halben Dutzend weiterer Körper, jeder einzelne in unterschiedlichen Stadien des Zerfalls und in unterschiedlicher Weise zerstückelt.


    „Jeder einzelne Drukhari“, beeilte er sich zu sagen, ehe Ydrir sie genauer in Augenschein nehmen konnte.


    „Was mag es damit auf sich habe?“ fragte Ydrir erschüttert.


    „Der Fluss kann sie nicht bis hier getragen haben“, stellte Firondhir fest. „Und auch nicht so zugerichtet. Aber ich nehme es als Zeichen, dass du recht hattest, Ydrir. Wir sind hier auf der richtigen Fährte. Wenn all diese Toten bis hierher geraten sind, dann wird auch Ydril nicht in der großen Höhle gelegen haben.“


    Der Gedanke hatte wenig Tröstliches für Ydrir. Wenn auch der Körper eines Toten für die Asuryani weniger Bedeutung hatte, als sein Seelenstein – eine solche Behandlung war in jeder Hinsicht verabscheuungswürdig.


    „Jedenfalls sollten wir uns vorsehen vor dem, was sie hierhergebracht hat“, fügte Margil hinzu.


    Aufmerksam setzen sie ihren Weg fort. Bald stießen sie auf weitere Körper. Doch sie lagen nicht mehr am Boden, sondern hingen drapiert über den Enden abgebrochener Granitnadeln. Keiner war intakt, manche bestanden nur noch aus einzelnen Teilen, die eigentlich nicht hätten zusammenhalten dürfen. Chem-Pan-Sey waren darunter, Drukhari-Krieger, wie es schien aber auch Angehörige anderer Völker. Margil fiel ein Leichnam auf, an dessen gesichtslosem Schädel noch einige Resten blauer und grüner Haare hingen. Tief in einer fauligen Wunde am Hals entdeckte er eine silbernes Wurfmesser. Der blonde Weltenwanderer zog es heraus, wischte es mit einem Tuch sauber und steckte es in einer der Schlaufen unter seinem Mantel.


    Die grausige Galerie schien sich ohne Ende fortzusetzen. Ydrir würde übel, er musste sich an einer Wand abstützen. Seine Hand tastete nach der Seite seines Helmes. Er glaubte ihn öffnen zu müssen, um Luft zu bekommen.


    „Lass es besser“, sagte Firondhir, der seine Absicht erraten hatte, mit ruhigem Tonfall und legte seine Hand auf die des Jungen. Ydrir ließ von seinem Helm ab und glitt schwer atmend zu Boden. Mitfühlend hockte Firondhir sich neben ihn.


    „Manche Vögel spießen ihre Beute auf Dornenhecken auf, um sie später zu fressen“, sagte Margil mit einer Mischung aus Befremden und Abscheu, während er die Ansammlung von Leichen betrachtete.


    „Vögel werden wir hier nicht finden“, entgegnete Firondhir.


    „Ein Vogel wäre mir lieber als irgendetwas anderes“, gab Margil zurück.


    Firondhir wandte sich wieder Ydrir zu. „Wenn du wieder so weit bist, sollten wie so schnell wie möglich weitergehen. Je eher wie das hier hinter und gelassen haben, umso besser.“


    Ydrir nickte, ergriff den ausgestreckten Arm des Weltenwanderers und ließ sich aufhelfen.


    Die drei standen noch beisammen, als der Salamander aus dem Kanal schlüpfte. Einige Male lief er zwischen den Aeldari und dem Wasserrand hin und her und schüttelte dabei seinen breiten, flachen Kopf. Dann blieb er sitzen. Ein krampfähnliches Zucken durchlief seinen Körper. Seine ausladenden Kiemenbüschel zogen sich zusammen, die tentakelähnlichen Äste schienen sich komplett zurückzubilden. Gleichzeitig fiel der Flossensaum zusammen, bis er vollständig verschwunden war. Der breite, flache Ruderschwanz schrumpfte zu einem runden, spitz zulaufenden Schweif. In wenigen Augenblicken hatte die aquatische Amphibie sich in einen Landbewohner verwandelt.


    Während die Aeldari erstaunt die seltsame Metamorphose beobachteten, huschte der Salamander an ihnen vorbei, erklomm eine Felsnadel und drückte sich in einen Spalt. Seine Haut nahm die Farbe des Untergrundes an, so dass er selbst für den suchenden Blick fast nicht zu sehen war.


    Im nächsten Moment drangen entfernte, dumpfe Geräusche zu ihnen vor. Die drei erstarrten und lauschten aufmerksam. Der Klang erinnerte an die Schritte bloßer Füße, leise, doch in der absoluten Stille des Tunnels deutlich zu vernehmen. Sie schienen ihren Ursprung in einem Nebenkorridor zu haben. Der Gang verlief annähernd parallel hinter einer steinernen Palisade, hin und wieder durchbrochen von weiten Spalten. Ydrir tat es dem Salamander gleich und schlüpfte in eine Nische in der gegenüberliegenden Wand. Mit seinem schwarzen Mantel und seinem Talent, völlig reglos zu bleiben, war er augenblicklich unsichtbar.


    Margil und Firondhir nahmen neben je einem der nächstgelegenen Durchlässe Aufstellung, so dass sie den Gang möglichst weit überblicken konnten – wobei das in der Finsternis nicht viel hieß. Sie konnten kaum ausmachen, ob der Tunnel gerade verlief oder einen Knick machte. Margil griff unter den Mantel und tastete nach seinen Wurfklingen.

  • Einsammeln


    Ein schwaches, tanzendes Licht erschien, grünlich-weiß und kalt. Es glitt heran, als wiegte es sich im langsamen Takt einer unhörbaren Musik. Die Stimmen waren verstummt.


    Das Licht näherte sich. Die Augen der beiden Weltenwanderer hatten sich so sehr an das Dunkel gewöhnt, dass es ihnen blenden hell erschien. Dabei waren die Granitwände so tiefschwarz, dass sie kaum mehr als eine Armlänge im Umkreis der Lichtquelle erleuchtet wurde.


    Im Näherkommen zeichneten sich Gestalten ab, eine kleine Gruppe, sechs, vielleicht sieben oder acht. Nun konnten die beiden Weltenwanderer sie genauer erkennen. Es schienen Aeldari zu sein, doch war dies an ihrem entstellten Erscheinungsbild nur schwer festzumachen. Ihre Gesichter waren hinter gewölbten, metallenen Masken verborgen, die nicht mehr als einige Sehschlitze als Öffnungen hatten. Die Oberkörper waren nackt, athletisch und sehnig, doch in dem fahlen Licht blass wie Wasserleichen und überzogen mit Knoten und Narben. Aus Buckeln am Rücken entsprangen knochige Bögen und Äste, an denen gläserne Phiolen hingen. Dünne Schläuche leiteten den purpurrot glühenden Inhalt unablässig unter die Haut der Gestalten. Bei einigen Stecken die Gefäße direkt in den Muskeln.


    Die schauderhaften Wesen trugen grobschlächtige Waffen und Werkzeuge: Sicheln, Beile, Messer, Injektoren. Bei manchen ersetzen sie sogar gänzlich die Hände. Bedrohlich warfen die gezackten Schneiden und fingerdicken Nadelspitzen das Licht zurück. Die einzige Kleidung der Gestalten waren weiten, knöchellangen Röcken aus etwas, das wie rohes Leder aussah. Jeder trug eine eigene Lampe in Form einer leuchtenden Kugel an einer groben Kette um seinen Hals. Sie bewegten sich in einem gemessenen Schritt, fast wie in einer Prozession. Außer dem Tappen ihrer bloßen Füße ging keinen Laut von ihnen aus.


    Dann tauchte etwas anderes hinter ihnen auf, etwas Großes, Verstörendes, eine Monstrosität aus Muskeln und Gliedmaßen. Es überragte die Vorderen fast um das Doppelte. Aus den breiten Schultern entsprangen nicht nur gewaltige Arme, sondern auch drei Wirbelsäulen, die sich in einem verformten Buckel über den Rücken wölbten. Knöcherne Stacheln ragten daraus hervor. Auch dieser Kreatur steckten mit Flüssigkeiten gefüllte Schläuche und Gefäße in Rumpf und Gliedern. In der einen Hand hielt sie eine breite, einschneidige Klinge. Die andere war durch eine metallene Prothese mit dornenartigen Klauen ersetz. Der im Vergleich zum entstellten Körper kleine Kopf steckte in einer schwarzen Eisenmaske.


    Das einzige Wesen dieser schaurigen Truppe, das sein Gesicht zeigte, ging direkt vor der Monstrosität. Eher schien es zu schweben, beinahe zerbrechlich im Gegensatz zu seinen grobschlächtigen Begleitern. Die spitzen Ohren und die elegante Gestalt gaben es unzweifelhaft als Aeldari zu erkennen. Doch die feinen Gesichtszüge waren ausgezehrt, die alabasterweiße Haut wie eine Maske darüber gespannt. Lange, strähnige Haare von reinstem Weiß fielen vom Scheitel. Ein schwarzes, glänzendes Mieder umspannte die zierliche Taille. An dem tiefroten, blutfleckigen Kittel glänzten an Schnüren aufgereihte Nadeln und Messer. Ein weiter Mantel aus Haut lag über den bloßen Schultern und bedeckte die Brust. Neben seinen eigenen Armen, die in schwarzen, bis zum Ellenbogen reichenden Handschuhen steckten, trug es noch ein weiteres Paar, das anstelle von Händen mit chirurgischen Werkzeugen versehen war.


    Der Anblick des Geschöpfes ließ Firondhir erstarren. Erinnerungen überkamen ihn wie eine Sturzflut. Schmerzhafte, grauenvolle Erinnerungen, die er tief vergraben zu haben glaubte. Das fahlgelbe Licht, die unerklärlichen schlurfenden und kratzenden Geräusche in den tiefsten Schatten. Die schwüle Hitze. Der beißende, metallische Geruch. Erinnerungen an ungezählte Stunden der Qual, die auch dann nicht endeten, als er den Grund ihres Aufenthalts in Commorragh offenbart hatte. Der Foltermeister hatte einfach weiter gemacht. Eine brennende Flüssigkeit war in seine Adern gepumpt worden, unablässig, die ihn hinderte, das Bewusstsein zu verlieren, sodass er alles mit ansehen musste, was der Drukhari mit Illurayon getan hatte.


    Er war von gleicher Art gewesen wie dieser hier. Das gleiche abstoßende Erscheinungsbild, die gleichen missgestalteten Gehilfen. Mit einem Unterschied: dieser hier war eine Frau.


    Langsam zerfloss das Entsetzen und mit ihm die Erstarrung und machten Raum für eine neue Regung: abgrundtiefer Hass, der Firondhir alles andere vergessen ließ. Seine Hand tastete nach seinem Feldmesser.


    Unbewusst musst er eine Körperhaltung eingenommen haben, die seine selbstzerstörerischen Absichten verraten hatten, denn auf einmal stand Margil hinter ihm und hielt ihn an beiden Armen fest.


    „Begeh nicht wieder so eine Dummheit!“ raunte er ihm scharf zu. „Das sind mehr als nur ein einzelner Drukhari-Prinz.“


    Firondhir schien ihn nicht zu hören oder zu verstehen. Er zerrte an seinen Armen, wand sich in seinem Griff, versucht mit aller Macht, sich loszumachen. Margil musste alle seine Kräfte aufbieten, um ihn festzuhalten, und konnte ihn dennoch kaum bändigen.


    „Halt an dich, sonst entdecken sie uns“, herrschte er Firondhir mit unterdrückter Stimme an. Doch der Weltenwanderer ließ nicht ab. Inzwischen war die düstere Prozession nur noch wenige Dutzend Schritte entfernt.


    „Ydrir, hilf mir!“ rief Margil in Gedanken mit einer Andeutung von Hilflosigkeit. Ydrir zögerte keinen Moment und huschte zu den miteinander ringenden Weltenwanderern hinüber. Er fasst Firondhir am rechten Arm, Margil hielt den Linken fest. Mit vereinten Kräften gelang es den beiden, ihren Gefährten von dem Durchgang fortzuziehen und in eine Nische an der gegenüberliegenden Wand zu bugsieren.


    Keinen Augenblick zu früh, denn im nächsten Moment hatten die Missgestalten die Passage erreicht und durchquerten die Öffnung zwischen den Felssäulen. Margil und Ydrir stellten sich vor Firondhir und drückten ihn in die Spalte.


    „Bei allem, was die Götter uns gelehrt haben, besinne dich. Wenn sie uns bemerken, ist es um uns geschehen“, flehte Ydrir. Firondhir holte tief Luft. Wer wenn nicht er wusste, was sie erwartete, wenn sie einem Haemonculus in die Hände fielen. Sein unkontrollierter Gefühlsausbruch hätte seine Freunde beinahe diesem Los ausgeliefert. Er rang um Beherrschung. Unwillkürlich fuhr seine Hand dabei an seinen Gürtel und die Finger begannen, mit der Haarlocke zu spielen. Reglos verschmolzen die drei IstuKarun mit dem Schatten um sie herum und beobachteten das Geschehen nur wenige Schritte von ihnen entfernt.


    Die Frau und die Monstrosität blieben in der Pforte stehen. Die übrigen Gestalten schwärmten aus. Jede einzelne trat an eine der auf den Felsnadeln drapierten Leichen heran und begann sie mit ihren Klingen und Kanülen zu bearbeiteten, schnitt Organe heraus oder entnahm Körperflüssigkeiten. Margil hatte recht gehabt: diese grausige Sammlung war ein Vorrat.


    Die Gehilfen setzten ihre abstoßende Arbeit fort. Obwohl sie kein Wort sagte, schien die Haemoncula ihren Geschöpfen Anweisungen zu erteilen, welchem Körper sie welche Teile zu entnehmen hatten. Eben hatte einer der Folterer, nur eine Armlänge von den Weltenläufern entfernt, seine widerliche Tätigkeit beendet und verstaute eine unbestimmbare, triefende Gewebemasse in einem Beutel an seiner Schürze. Seine Meisterin richtete seinen Blick auf ihn. Augenblicklich wandte er sich ihr zu und kehrte mit wiegenden Schritten zu ihr zurück.


    Im selben Moment spürten Margil und Ydrir, wie auch Firondhir einen Schritt nach vorne tat. Geistesgegenwärtig stemmte Margil sich ihm entgegen. Irgendetwas verleitete ihn dazu, dem Folterer folgen zu wollen. Ohne gewaltsame Gegenwehr, doch unnachgiebig wie von einem fremden Willen gelenkt, drängte er gegen seine Gefährten an, sodass sie alle ihre Kraft aufbringen mussten, ihn zurückhalten. Dennoch wagte Margil nicht einmal, ihn in Gedanken anzusprechen, unsicher, ob die Drukhari-Frau dies bemerken würde. Ydrir fasste Firondhirs Hand, drückte sie um die Haarsträhne zusammen und hielt sie fest.


    Sie mussten die Aufmerksamkeit der Drukhari erregt haben, denn auf einmal zeigte ihr hageres Gesicht genau in ihre Richtung. Erst jetzt fiel Margil auf, dass ihre Augen zwei verschiedene Farben hatten, das rechte gelb, das linke violett. Ihr Blick war verstörend, er verursachte Übelkeit. Endlose Augenblicke starrte sie zu ihnen herüber. Margil kam es wie Stunden vor. Aber sie konnte sie unmöglich gesehen haben. Sie standen im völligen Dunkel, ihre Mäntel nahmen die Farbe des Steins an, sie waren unsichtbar. Oder war an diesen unnatürlichen Augen irgendetwas, das den Schatten durchdringen konnte? Und wenn sie ihre unförmige Kreatur zu ihnen schickte…


    Die Haemoncula wandte den Kopf, als würde sie etwas aus einer anderen Richtung hören. Doch es war immer noch still in dem Tunnel. Dann wies sie auf einen anderen Überrest. Ihr Gehilfen folgten ihrem unhörbaren Befehl, trottete hinüber und machte sich daran zu schaffen. Gleichzeitig ließ Firondhir von seinem Drängen ab und lehnte sich schwer atmend gegen die Wand. Sein Kopf fühlte sich leer an, seine Glieder lahm und kraftlos, als hätte eine fremde Macht die Kontrolle über sie fahren lassen, sein eigener Geist sie aber noch nicht zurückgewonnen. Das Einzige, was er spürte, war die Haarlocke in seiner Faust.


    Es mochten eine Stunde oder mehr sein, die sie so verharrten, ehe die Drukhari schließlich ihre Arbeit vollendet hatten. Die Folterer sammelten sich bei ihrer Herrin, und so feierlich und gespenstisch, wie sie gekommen war, zogen die Prozession wieder davon.


    Erst als auch der entfernteste Schein ihrer Lichter verschwunden war, traten die drei Aeldari aus ihrem Versteck. Firondhir holte tief Luft.


    „Was war los mit dir?“ zischte Margil, und setzte hinzu: „Und ich meine nicht deinen Zornesausbruch, den musst du mir nicht erklären.“


    Firondhir schüttelte betreten den Kopf. „Ich weiß es nicht“, antwortete er mit belegter Stimme. „Diese Frau. Irgendetwas war an ihr. Ich war nicht Herr meines Willens. Es war wie ein Ton, den man nicht hört.“


    „Oder ein Duft, den man nicht riecht“, ergänzte Ydrir.


    „Du auch?“ fragte Margil erstaunt. „Was hat dich zurückgehalten.“


    Verlegen schaute er zur Seite. „Das gleiche wie Firondhir.“


    Margil konnte mit der Antwort nicht viel anfangen. Firondhir dafür umso mehr. Der Gedanke an Ànathuriel hatte ihn davor bewahrt, dem unheilvollen Einfluss der Haemoncula gänzlich nachzugeben. Und offenbar verhielt es sich bei Ydrir genauso. Die besondere, psionische Verbindung, die der Junge zu ihr hatte, würde ihm selbst immer vorenthalten bleiben. Der Gedanke versetzte ihm einen Stich, der einen finstern, nagenden Schmerz irgendwo im hintersten Winkel seiner Seele hinterließ.


    „Was auch immer“, seufzte Margil. „Wenn wir den Drukhari folgen wollen, müssen wir uns beeilen, sonst verlieren wir ihre Spur.“


    „Warum folgen?“ entfuhr es Ydrir entsetzt. „Hast du nicht gesehen, was sie mit den Toten gemacht haben?“


    „Eben deswegen“, stimmte Firondhir zu. „Wir müssen davon ausgehen, dass sie mit Ydril genauso verfahren sind. Wenn sein Seelenstein nicht irgendwo hier liegt, müssen sie ihn mitgenommen haben.“


    Der Gedanke war ebenso einleuchtend wie verstörend. Dennoch schien er Ydrir falsch. „Ihr irrt euch“, sagte er bestimmt. „Wir sollten weiter dem Wasser folgen.“


    „Was lässt dich so sicher sein?“ wollte Firondhir wissen. „Hast du etwas gesehen?“


    „Nein“, musste Ydrir einräumen, „diesmal nicht.“


    „Entscheidet euch!“ drängte Margil. „Ehe es zu spät ist.“


    Widerwillig gab Ydrir nach, mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern zeigte er Resignation.


    „Gut, ich gehe vor“, entschied Margil und schob sich an ihnen vorbei.


    „Warum?“ fragte Firondhir verdutzt.


    „Wie auch immer diese Drukhari euch beide in ihren Bann geschlagen hat, ich kann euch versichern: was Frauen betrifft, bin ich immun.“

  • IshpiethMandraceilan


    Die drei Weltenläufer huschten zum Durchgang in den benachbarten Korridor herüber. Ein platschendes Geräusch in seinem Rücken ließ Firondhir sich umsehen. Der Salamander hatte wieder seine aquatische Gestalt angenommen und war in den Fluss zurückgekehrt. Aufgeregt schwamm er hin und her, hob immer wieder den Kopf über die Wasseroberfläche und peitschte das Wasser mit seinem Ruderschwanz, sodass es immer wieder von neuem aufglühte.


    „Hier trennen sich unsere Wege“, sagte der Weltenwanderer. „Danke für deine Hilfe bis hierher.“ Dann wandte er sich ab und folgte seinen Gefährten in den Korridor.


    Unter Margils Führung eilten sie den Gang entlang. Eine ganze Weile verlief der Weg parallel zum Tunnel mit dem Wasserlauf, dann knickte er zur Seite ab und wand sich zwischen den Steinsäulen hin und her, verzweigte sich jedoch nicht. Sie verringerten ihr Tempo, um nicht hinter einer Kurve unversehens in die Drukhari hineinzulaufen. Es dauerte noch eine ganze Weile, dann erschien vor ihnen ein schwacher Lichtschein. Margil gab das Zeichen zum Anhalten. Dann hieß er die beiden anderen an Ort und Stelle warten und schlich näher.


    Die Drukhari waren direkt vor ihnen. Der Gang hatte sich zu einer Kammer erweitert, an deren anderem Ende sich eine Treppe aus Steinsäulen um einen einzelnen, mächtigen Pfeiler nach oben wandte und sich im Dunkeln der Decke verlor. Blassgelb flackernde Lichter, in regelmäßigen Abständen an der Säule befestigt, beleuchteten den Aufstieg spärlich. Margil winkte seine Gefährten heran und deutete auf die Treppe. Dort mussten die Drukhari ihr Nest haben. Zumindest hielt die Prozession darauf zu. Ihnen unmittelbar hinaufzufolgen, ohne gesehen zu werden, würde eine Herausforderung an das Können der IstuKarun werden.


    Lautlos, einer nach dem anderen, huschten die Weltenläufer durch die tiefsten Schatten längs der Wände der Kammer. Die ersten der Gehilfen waren nur noch wenige Schritte vom Fuß der Treppe entfernt, als Ydrir unvermittelt und wie erstarrt stehen blieb. Beinahe wäre Firondhir in ihn hineingelaufen. Margil hielt inne und drehte sich um. Mit seinen Händen formte er eine fragende Geste. ‚Was ist los?‘ sandte er seine Gedanken an Firondhir.


    Ich weiß es nicht‘, antwortete dieser. Ydrir war in sich zusammengesunken und kauerte zitternd an der Wand. Firondhir versucht, ihn hochzuziehen, doch der Junge war zu keiner Bewegung fähig. Margil kam hinzu, um mitzuhelfen. Noch während sie Ydrir unter die Arme griffen, begann sich eine klamme Kälte um sie herum auszubreiten wie ein eisiger, schwarzer Nebel.


    Ein dumpfer Schrei wie ein Warnruf erklang. Die beiden Weltenwanderer sahen auf. Die Drukhari waren stehen geblieben, hielten ihre Klingen vor sich und sahen sich um. Unruhig wankten die Gehilfen hin und her, traten von einem Fuß auf den anderen. Die Lichter der Laternen um ihre Hälse flackerten trübe auf den blutverschmierten Schneiden. Die Monstrosität hatte sich vor ihre Herrin gestellt und die grobschlächtigen Waffen schlagbereit erhoben. Die Flüssigkeiten in ihren implantierten Glasphiolen glühte und brodelte.


    Dann verlosch eines der Lichter am hinteren Ende des Zuges, dann ein zweites. Lautlos, spurlos verschwanden zwei der Träger, als hätten ein Schatten im Schatten sich um sie gelegt. Nun brach Aufregung unter den Drukhari aus. Die Haemoncula befahl den Rückzug und eilte der Treppe entgegen, gefolgt von ihrem unförmigen Leibwächter, doch mehrere der formlose Schatten stellten sich ihr in den Weg. Gleichzeitig fielen weitere über die Gehilfen her.


    So sehr die Weltenwanderer sich auch bemühten, sie konnten die Angreifer nicht ausmachen, noch wie viele es waren. Wo sie waren, wurde die Dunkelheit noch tiefer. Blitzende Klingen, aufflammendes, purpurrotes Feuer, mehr war nicht zu erkennen. Nur für Augenblicke erhellte das Glühen die sich unter spitzen Schreien in verzweifelter Gegenwehr windenden Körper der Opfer, doch nie die Formen der Jäger. Wenn sie sich zurückzogen, ließen sie ihre Beute wie steifgefroren und von scharfen Klingen gehäutet und zerteilt zurück.


    Sechs der Folterer waren schon auf diese Weise niedergemacht worden, den zwei Verbliebenen war es gelungen, sich auf die Treppe zu retten. Dann fielen die Schatten über die Grotesque her. Der Muskelberg stemmte seine kräftigen Beine in den Boden und begann wie von Sinnen mit dem mächtigen Armen um sich zu schlagen. Doch die Schatten glitten um seine Schläge herum wie Rauch. Manche Streiche, selbst jene mit der breiten Klinge, schienen sogar durch sie hindurchzugehen, ohne Schaden anzurichten. Die Schatten zogen sich an dem ungeschlachten Körper empor, wanden sich um Arme und Beine und zwangen die keuchende Monstrosität in die Knie. Während die Grotesque qualvoll stöhnend in der von purpurnen Blitzen durchzuckten Schwärze versankt, erklomm die Haemoncula in Begleitung der beiden Folterer ungerührt die Wendeltreppe und verschwand irgendwo in der Decke des Gewölbes.


    Wenige Augenblicke später hatten die Schatten ihre Arbeit vollendet und ließen die Grotesque als ein Haufen unförmigen, blutigen Fleisches zurück. Noch immer hockten die drei Weltenläufer starr vor Entsetzen in ihrem leidlichen Versteckt. Ydrir war der Ohnmacht nahe. Es war mehr als nur der grauenvolle Anblick, die bloße Gegenwart dieser lebenden Schatten lähmte seinen Körper und betäubte seine Sinne.


    Die Schatten begannen sich zu zerstreuen. Nur das schwache, purpurne Glimmen gab einen Hinweis darauf, wo sie sich befanden. Doch wenn die Aeldari gedacht hatten, die Erscheinungen würden sich nun zurückziehen, mussten sie mit Bestürzung feststellen, dass dem nicht so war. Wann immer ein Glühen verlosch, tauchte es wenige Augenblicke später an einer anderen Stelle wieder auf. Nie zeigten die Kreaturen sich so, dass die Weltenwanderer ihre volle Gestalt hätten erkennen können. Ihre Körper waren Teil der Dunkelheit, die sie umgab.


    Hier können wie nicht bleiben‘, nahm Margil Firondhirs Gedanken war. ‚Über kurz oder lang werden sie auf uns stoßen.


    Wohin?‘ wollte Margil wissen.


    Wo wir hergekommen sind.


    Und dann?


    Hätte Margil ihn im Dunkel deutlicher sehen können, hätte er Firondhirs Geste der Ratlosigkeit erkannt. Dennoch, etwas anderes als die Flucht blieb ihnen nicht übrig, wenn sie überhaupt noch die Chance dazu hatten.


    Die beiden versuchten erneut, Ydrir aufzuhelfen, doch immer noch war er nicht in der Lage, sich zu rühren. Inzwischen schienen die Bewegungen der Schatten sich verändert zu habe. Waren sie bis eben noch ziellos umhergewandert und willkürlich aufgetaucht und wieder verschwunden, wirkten ihr Agieren nun regelmäßiger.


    Sie ahnen, dass noch jemand hier ist. Sie suchen‘, dachte Margil.


    Firondhir nickte. Er fasst Ydrir an den Schultern und schüttelte ihn, doch sein Körper blieb steif. Wenige Schritten vor den dreien flammte purpurnes Licht auf. Leuchtende Runen wanden sie in der Dunkelheit. Dann erschien etwas, das wie glühende Augen aussah. Sie wanderten suchend hin und her und verschwanden wieder. Nicht wie Augen, die geschlossen wurden. Sie verloschen einfach. Ydrir wurde von einem Krampf geschüttelt. Firondhir warf sich über ihn und drückte ihn zu Boden, versuchte, ihn so gut es ging ruhig zu stellen. Doch der Geist des Jungen war in hellem Aufruhr, nahezu außer Kontrolle. Seine Panik drohte sie beide hinwegzuschwemmen. Fieberhaft suchte der Weltenwanderer nach einem Gedanken, irgendeinem Impuls, an dem er sich festhalten konnte.


    Dann, wie eine feurige Wunde, klaffte ein vor schwarzen Zahnspitzen starrendes Maul in der Dunkelheit auf. Fast weißes Licht, heller als das der Augen, strahlte daraus hervor. Ein kaltes Fauchen war zu hören. Alle Wärme, die noch in ihren Körpern verbleiben war, schien ihnen ausgesaugt zu werden.


    „Los!“ zischte Margil. „Bevor er noch mehr dieser Kreaturen anlockt.“


    Mit Mühe gelang es Firondhir, seine Sinne zu sammeln. Für den Bruchteil eines Wimpernschlags war er versucht, Ydrir seinem Schicksal zu überlassen und die Flucht zu ergreifen. Im nächsten Augenblick verwünschte er sich dafür, diesen Gedanken überhaupt zugelassen zu haben, denn er war sich voll bewusst, dass nicht Furcht der Beweggrund gewesen war. Er lud sich den zitternden Jungen auf die Schultern und folgte Margil, der schon ein gutes Stück voraus war. So lautlos wie sie es vermochten, tauchten die Weltenwanderer wieder in die Finsternis des Tunnels ein und liefen, bis das Gefühl der Kälte sie verlassen hatte.


    Je weiter sie sich von dem Schlachtfeld entfernten, desto mehr kehrte Ydrirs Lebensgeister zurück, bis er Firondhir schließlich bat, ihn abzusetzen. Für einen Moment erlaubten die Flüchtenden sich eine Pause. Firondhir rang nach Luft.


    „Danke“, sagte Ydrir mit schwacher Stimme. Der Weltenwanderer nickte nur. Er fragte sich, ob in diesem einfachen Wort mehr Bedeutung lag, ob Ydrir mit seinem besonderen Sinn seine finstere Absicht wahrgenommen hatte.


    „IshpiethMandraceilan[1]“, stieß Margil erschüttert hervor.


    „Schatten am Rande der Dunkelheit.“ Ydrirs Stimme klang gebrochen, er war den Tränen nahe. „Verzeiht mir. Hätte ich gewusst, was es damit auf sich hat…“


    „Was willst du damit sagen?“ fragte Margil mit einem Anflug von Erregung. „Wusstest du davon?“


    „Da war etwas in meiner letzten Vision. Grade am Rande dessen, was ich wahrnehmen konnte. Ich konnte nicht sehen, war es war“, schluchzte Ydrir.


    „Lass es gut sein, Margil“, unterbrach Firondhir ihn mit einem Anflug von Resignation. „Wir hätten es schon wissen können, bevor wir hier eingetreten sind. Erinnere dich an den Alten vor dem Tor. Mandraks. Ànathuriel hat mich vor ihnen gewarnt.“


    „Wohin jetzt?“ fragte Margil gefasst. „Sie werden uns folgen. Und was wir suchen, sind wir kein Stück näher.“


    „Zurück zum Wasser“, antwortete Ydrir mit fester Stimme.


    „Du bist dir sicher“, stellte Firondhir fest.


    Ydrir nickte. „Wir hätten keinen anderen Weg einschlagen sollen.“


    „Also gut.“ Er half Ydrir auf die Beine. „Dann lasst uns so schnell wie möglich fortkommen.“



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    [1] Ishpieth=eiskalt; man=Tod; dras=Schatten, gceilan=verbergend

  • Zurück am Fluss


    Die drei Weltenläufer eilten den gewundenen Gang entlang, so schnell wie sie es ohne Geräusche zu verursachen vermochten. Margil führte sie an. Auch wenn sie in einem Tunnel ohne Abzweigungen den Weg nicht verlieren konnte, zog Firondhir es vor, das Richtungsgespür des blonden Weltenwanderers zu Rate zu ziehen.


    Sie waren noch nicht lange gelaufen, als in ihrem Rücken die lähmende Kälte wieder zunahm, noch schwach wie ein kühler Windhauch in einer Herbstnacht, doch deutlich zu spüren. Ihre Verfolger waren ihnen auf der Spur. Firondhir hielt sich nah bei Ydrir, um ihm im Notfall beizustehen – wie, wusste er selbst nicht. Doch der Junge hielt sich tapfer und zeigte fürs erste kein Anzeichen von Schwäche.


    Nach zwei oder drei Biegungen öffnete der enge Tunnel sich und das leise Rauschen fließenden Wassers drang an ihre Ohren. Sie hatten den unterirdischen Fluss wieder erreicht. Das Wasser zog so trübe leuchtend dahin wie zuvor. Die drei Aeldari nahmen ihren ursprünglichen Weg wieder auf und folgten der Strömung. Je weiter sie gingen, umso weniger spürten sie die Kälte. Schon begann Firondhir sich eine leise Hoffnung zu machen, dass die Schrecken die Verfolgung beendet, oder wenigsten in der Annahme, ihre Beute würde zum Ausgang flüchten, flussaufwärts gelaufen waren. Doch dann bleib Ydrir unvermittelt stehen.


    „Sie sind hier“, flüsterte er.


    Margil und Firondhir hielten inne und strengten all ihre Sinne an. Doch weder konnten sie etwas sehen oder hören noch die eisige Kälte fühlen.


    „Wo?“ wollte Firondhir wissen. Ydrir wies den Tunnel hinauf.


    Eben wollte Margil widersprechen, als ein kalter Hauch zu ihnen hinüberzog. Ein schwaches, purpurnes Leuchten glomm in der Entfernung auf, wo bis vor einem Augenblick noch nichts als leere Dunkelheit gewesen war.


    „Wie konnte er dort hingelange, ohne uns zu überholen?“ wisperte Margil.


    „Sie tauchen aus den Schatten auf“, antwortete Ydrir mit erstickter Stimme.


    „Du wusstest es vorher“, stellte er staunend fest. Ydrir zuckte gleichmütig mir den Schultern. Er hatte selbst keine Erklärung dafür.


    Die drei lehnten sich gegen die Wand und warteten ab. Die Schattenkreatur verharrte einige Zeit, wo sie war, dann setzte sie sich in Bewegung und kam ihnen ohne Hast entgegen. Seine eisige Aura wallte ihm voran.


    Firondhir spürte, wie Ydrir erneut zu zittern begann. Ohne Umschweife legte er seine Arme um den Jungen. Ydrir nahm die Geste dankbar an und hielt sich an dem Weltenwanderer fest. Ob es dies oder etwas anderes war, vermochte er nicht zu sagen, doch etwas gab Ydrir Halt und Sicherheit, genug, um diesmal angesichts der Präsenz des schrecklichen Schattenwesens nicht in völlige Apathie zu verfallen.


    Reglos, verborgen unter ihren Mänteln, standen die Weltenläufer da, während der Mandrak gebeugt mit im Wasser platschenden Füßen an ihnen vorbei schlurfte. Ohne von den Aeldari Notiz zu nehmen, setzte er seinen Weg fort und entfernte sich dann in die entgegengesetzte Richtung flussaufwärts.


    „Er ist weg“, wisperte Ydrir. Firondhir ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. Durch einen kurzen Austausch von Gesten verständigten die beiden sich darüber, dass alle in Ordnung war.


    „Wohin nun?“ wollte Margil wissen. „Wenn Ydrils Seelenstein in den Händen der Drukhari ist, ist er für uns verloren.“


    Ydrir schüttelte den Kopf. „Wir waren auf dem falschen Weg. Wir müssen den Fluss weiter folgen.“


    „Das, oder zurück“, stimmte Firondhir zu. „Einen anderen Weg gibt es von hier aus nicht mehr.“


    „Und die Mandraceilan?“


    „Lasst mich vorgehen“, sagte Ydrir bestimmt. „Es scheint, ich nehme ihre Anwesenheit war lange bevor ihr die Kälte verspürt. Wir gehen ihnen so gut wie möglich aus dem Weg.“


    „Bist du dazu in der Lage“, fragte Firondhir besorgt.


    „Ich muss“, entgegnete der Junge. „Wir sind IstuKarun. Wer bewegt sich besser ungesehen in den Schatten als wir?“


    Firondhir legte ihm anerkennend die Hand auf die Schulter. Dann löste er etwas von seinem Gürtel und legte es in Ydrirs Hand.


    „Ich weiß nicht, wie es wirkt, aber du brauchst es jetzt nötiger als ich.“ Ydrir öffnete die Hand und erkannte die lange, braune Haarlocke. Er empfand, wie viel Überwindung es Firondhir gekostet hatte, dieses Kleinod aus der Hand zu geben – und wie viel Vertrauen der Weltenwanderer damit in ihn setzte. Dankbar nickte er und befestigte es an einer seiner Taschen. Dann wandte er sich an Margil: „Wir werden möglicherweise Seitentunnel nehmen müssen, um den Mandraceilan auszuweichen. Ich verlasse mich auf deine Fähigkeit, uns auf dem richtigen Weg zu halten.“


    Der blonde Weltenwanderer lächelte. „Ich gebe mein bestes.“



    Je weiter sie flussabwärts kamen, umso mehr fächerte sich das Gewässer wieder in verschiedene Arme auf. Jeder Seitenarm floss in einem eigenen Korridor, teilweise völlig getrennt und sich in der tiefen Finsternis verlaufend, teilweise parallel lediglich hinter Reihen von Granitsäulen dahinströmend. Doch der Hauptstrom blieb diesmal erhalten und setzte beständig seinen Weg fort und die drei Aeldari folgten ihm.


    Margil versucht sich auszurechnen, wie tief sie inzwischen in das Innere der Kabalenfestung vorgedrungen sein mochten. Zu seinem Missfallen musste er feststellen, dass er jedes Gefühl für den bisher zurückgelegten Weg verloren hatte.


    Immerhin, ab dem Augenblick, in dem sie dem Wasser wieder flussabwärts folgten, hatte er einen Bezugspunkt für ihren weiteren Weg. Ein ums andere Mal ließ Ydrir sie anhalten und schien zu lauschen. Nie konnten die beiden Weltenwanderer etwas anderes Wahrnehmen als die bedrückende Stille. Dennoch führte der Junge sie immer wieder auf Nebentunnel, die sich wie Wurmgänge in einem morschen Baum durch das Gestein zu fressen schienen, manche sogar über oder unter dem Haupttunnel hindurch. Zumindest schien es ihnen zuweilen so, als hörten sie das Wasser über ihren Köpfen rauschen.


    Eine ganze Weile kamen die drei Aeldari so unbehelligt voran. Ydrir hatte nicht zu viel versprochen. Von den Mandraks war nichts zu sehen oder zu hören, und Margil führte sie sicher immer wieder zum Fluss zurück. Beinahe war es dem blonden Weltenwanderer zu friedlich. Mochte es an seiner misstrauischen Natur liegen, doch bei allem Vertrauen in Ydrirs Fähigkeiten konnte er dennoch nicht glauben, dass sie ihre Verfolger einfach so umgangen und hinter sich gelassen hatten. Je weiter so vordrangen, um so mehr erwartete er, hinter jeder Biegung auf einen der Schatten zu treffen.



    Schließlich erreichten die drei eine Gabelung, an der Tunnel in zwei gleich weite Gänge teilte, einer zur Rechten, einer zur Linken. Die schwarzen Löcher gähnten ihnen entgegen, schon wenige Schritte weit war nichts mehr darin zu erkennen.


    „Wohin jetzt?“ fragte Firondhir.


    Ydrir wandte sich wie suchend um. Ein dunkler Schatten begann sich hinter ihnen zusammenzuziehen, noch zu fern, um eine Bedrohung zu sein, doch nah genug, um ihn deutlich zu spüren. „Sie folgen uns“, sagte er. „Noch sind sie weit entfernt, aber sie kommen rasch näher.“


    Sie traten näher an die Gabelung heran. Das Wasser verschwand in beide Löchern mit der gleichen, trägen Geschwindigkeit.


    „Lasst uns schnell entschieden,“ drängte Ydrir mit zunehmender Unruhe.


    „Woran?“ warf Margil ein.


    „Welche Richtung sind wir bisher gegangen?“ entgegnete Ydrir.


    „Seit wie wieder dem Fluss folgen in einem weiten Bogen, beinahe einem Halbkreis und dabei stetig tiefer“, antwortete der blonde Weltenwanderer.


    „Wie wahrscheinlich kann es sein, dass einer der Tunnel ins von dieser Richtung fortführt?“


    „Der rechte eher als der linke. Es sei denn…“


    Er verstummte. Nun konnten auch er und Firondhir es spüren: ein kalter Atem, der ihnen entgegenhauchte. Nicht von hinten, sondern aus jeder der beiden Tunnelöffnungen. Bestürzt sahen die drei sich an.


    „Wie nehmen den linken Weg“, entschied Firondhir. „Wenn wir Glück haben, müssen wir uns nur an einem von ihnen vorbeischleichen. Es ist uns einmal gelungen, es wir wieder gelingen.“


    Während Margil und Firondhir durch die Tunnelöffnung traten, sah Ydrir sich noch einmal nach ihren Verfolgern um – und bemerkte einen leuchtenden Flecken aufgewühlten Wasser. Einer Ahnung folgend trat er näher.


    Es war ein Zulauf, der Wasser von irgendwo anders dem Fluss zuführte. Der Auslass lag oberhalb ihrer Kopfhöhe halb hinter einer Felskante, so dass er von weiter vorne nicht zu sehen gewesen war. Das Rinnsal, das daraus hervorkam, plätscherte in einem kleinen Wasserfall über die Kante in den Fluss. Die Öffnung selbst war niedrig, so dass ein Aeldari nur gebückt hatte hindurchgehen könne.


    „Seht!“ rief er seine Freunde zurück. Die beiden Weltenwanderer drehten sich um. Sofort erkannte Firondhir, worauf der Junge hinauswollte. Sofort eilte er hinzu, reckte die Arme nach der Kante, stieß sich vom Boden ab und zog sich mit einiger Anstrengung hoch. An dem vom Wasser glattgeschliffenen Gestein gestaltete sich dies schwieriger, als er zunächst angenommen hatte. Gebückt kroch er ein Stück weit in den Tunnel hinein und vergewisserte sich, dass hier keine unerwartete Gefahr lauerte. Gleichzeitig musste er feststellen, dass die Decke auch weiter hinten nicht höher wurde. Er wandte sich um und winkte seinen Gefährten.


    Während Margil sich daran machte, die Anhöhe zu erklimmen, sah Ydrir sich mit zunehmender Unruhe im weiten Korridor um. Er wusste, sie durften keine weitere Sekunde verlieren. Schließlich streckte Margil ihm die Hand entgegen und zog den Jungen hinauf. Die drei kauerten sich in den engen Tunnel, darauf bedacht, den Lauf des Rinnsals nicht zu beeinflussen und so möglicherweise ihren Aufenthaltsort preiszugeben.


    Es dauerte nur wenige Augenblicke, ehe sie die beißende Kälte fühlten. Vorsichtig glitt Firondhir an die Öffnung heran, legte sich flach hin und späte über die Kante. Wie aus dem Nichts erschien ein Mandrak im Korridor. Sein Licht schimmerte fahl, während er in gebücktem, lauerndem Gang dem Lauf einige Dutzend Schritte stromaufwärts folgte, sich dann umwandte und zurückkam.


    An der Gabelung blieb er stehen und schien sich umzusehen. Firondhir zog sich ein Stück weit zurück und hob leicht den Kopf, um nach Ydrir zu schauen. Der Junge saß scheinbar ruhig mit gesenktem Kopf neben Margil. Sein Atem ging tief und gleichmäßig, seine Hand umschloss die Haarlocke. Mit höchster Anstrengung wehrte Ydrir sich dagegen, von der lähmenden Furcht übermannt zu werden. Für den Augenblick waren sie hier sicher, wenn er sich nur beherrschen konnte.


    Firondhir schaute wieder in den Tunnel hinunter. Der Mandraceilan war immer noch da. Er erwog, sein Gewehr anzulegen und die Schattenkreatur ohne Federlesen loszuwerden. Ehe er jedoch handeln konnte, glommen in der gegenüberliegenden Einmündung weitere Lichter auf. Zwei weitere Mandraks tauchten aus der Dunkelheit auf und gesellten sich zu ihrem Artgenossen. Obwohl sie weniger als zehn Schritte entfernt waren, konnte Firondhir nicht hören, ob oder wie sie miteinander sprachen. Ihre wiegenden Bewegungen, gestikulierenden Arme, drehenden und nickenden Köpfe deuteten allerdings darauf hin, dass sie sich über irgendetwas verständigten.


    Schließlich vollführte der erste eine gebieterische Geste. Die beiden anderen nickten kurz und beugten dabei leicht den Rücken. Dann trennten sie sich. Einer schlurften den Tunnel hinauf seinen Artgenossen entgegen, der andere nahm den rechten Tunnel. Schon wenige Augenblicke später waren sie im Schatten verschwunden.


    Die Aeldari warteten noch einige weitere Minuten. Die Kälte hatte sich längst verzogen, doch Firondhir ließ sich erst von Ydrir versichern, dass keine Gefahr mehr drohte, ehe er sich als erstes über die Kante schwang und in den Tunnel hinunterfallen ließ. Margil folgte, dann halfen sie gemeinsam Ydrir beim Abstieg. Noch etwas steif und benommen landete er auf seinen Füßen.


    „Das hast du sehr gut gemacht“, lobte Firondhir den Jungen.


    Ydrir zeigte eine Geste bescheidener Dankbarkeit. „Wir sollten weitergehen, solange der Weg frei ist“, sagte er.


    „Willst du dich nicht ausruhen“, fragte der Weltenwanderer.


    Er schüttelte den Kopf. „Sie sind noch immer hinter uns. Wir sollten nicht zu lange an einer Stelle verweilen.“


    „Dann bleibt es also bei dem linken Gang“, stellte Margil fest.“

  • MeanTokath


    Sie folgten dem Wasserlauf noch einige Stunden,– bis Ydrir schließlich mitten im Gang stehen blieb und sich verunsichert umsah. Er begann zu zittern.


    „Stimmt etwas nicht?“ fragte Firondhir.


    „Sie kommen von allen Seiten“, antwortete Ydrir. „Ich weiß nicht, wohin.“


    „Aber wie soll das geschehen. Hier gibt es keine Abzweigungen“, wandte der Weltenwanderer ein.


    Ydrir wirkte halb abwesend. „Sie sind überall“, wisperte er tonlos.


    „Das ist der einzige Weg, den wir haben“, entschied Firondhir. „Weiter!“


    Die beiden Weltenwanderer griffen Ydrir bei den Armen, zogen ihn mit sich und eilten den Tunnel hinunter. Sie kamen einige hundert Schritte weit, ehe sie buchstäblich in eine Wand aus eisiger Luft rannten. Noch Augenblicke vorher war der Gang leer gewesen, doch plötzlich, wie ein Geist, stand der Mandrak da, wenige Dutzend Schritte entfernt, ihnen den Rücken zugewandt. Im letzten Augenblick hielten sie inne und verharrten reglos.


    Firondhir bedeutet den beiden anderen, sich einige Längen zurückzuziehen. Im selben Moment wandte der Mandrak sich um, blieb aber an Ort und Stelle.


    Margil rief sich den Verlauf der Tunnel in Gedächtnis. Die letzte Abzweigung hatten sie schon lange hinter sich gelassen, ein Zurück gab es nicht. Und der Gang war gerade einmal so breit, dass zwei von ihnen nebeneinander hätten hergehen können. Der Mandraceilan hatte ihnen an einer Engstelle aufgelauert, daran hatte er keinen Zweifel.


    Auch Firondhir hatte dies erkannt. Hier gab es nur eine Lösung. Er nahm das Futteral von seinem Rücken und zog sein Jagdgewehr zur Schussbereitschaft aus. Unter seiner Handbewegung nahm das Elfenbein der Waffe ein tiefes Schattengrau an.


    Siehst du denn genug?‘ wollte Margil wissen.


    Firondhir legte an und senkte den Blick durch das Zielfernrohr. Doch nach wenigen Augenblicken setze er schon wieder ab.


    Ich sehe das Glühen kaum, geschweige denn eine Form. Das wird sich auch nicht ändern, wenn ich näher herankäme.‘ Resignierend schulterte er die Waffe.


    Und nun? Die anderen holen uns ein.


    Firondhir war sich dessen durchaus bewusst. Die andere Möglichkeit missfiel ihm, denn sie war ungleich riskanter. Und sie entsprach nicht dem Ethos der IstuKarun, ihrem Ziel einen raschen, lautlosen Tod aus der Ferne zu bringen. Er zückte sein Feldmesser. Doch Margil griff ihm in die Hand.


    Lass einen MeanTokath[1] das machen.


    Margil zog seine Kapuze tiefer ins Gesicht, tauchte in die Dunkelheit ein und war nach wenigen Schritten selbst vor den Augen seiner Freunde verschwunden.


    Tief gebeugt, fast auf allen vieren kriechen, nährte der Weltenwanderer sich dem Mandrak, bedachtsam, einen Schritt nach dem anderen, innehaltend, wann immer die Kreatur sich in seine Richtung wandte. Die Umgebung bot kaum Verstecke. Die Granitsäulen der Tunnelwände drängten sich so dicht aneinander, dass keine Nischen oder Spalten offenblieben. Auf die Strategie der Skorpionkrieger, sich im Hinterhalt zu verbergen, konnte Margil nicht zurückgreifen.


    Das Schattenwesen lauerte beharrlich wie ein Wachhund im Korridor. Je näher er ihm kam, desto mehr spürte Margil, wie die lähmende Kälte bis in seine Knochen drang. Eben machte der Mandrak erneut kehrt, näherte sich einige Schritte und blieb unvermittelt stehen. Margil erkannte kaum mehr als die Umrisse einer noch tieferen Schwärze in der Dunkelheit, durchzogen von einem schwachen, zuckenden Glimmen.


    Dann flammten ein Paar glühender Augen auf, direkt auf den Weltenwanderer gerichtet, nicht mehr als zwei oder drei Armlängen entfernt. Margil presste sich an die Wand und erstarrte. Der Mandrak schien sich tiefer an den Boden zu kauern, wie ein anpirschendes Raubtier. Langsam, ein Schritt nach dem anderen, setzte er seine Annäherung fort. Die Augen verloschen wieder, als wollte er verhindern, wegen ihrer entdeckt zu werden. Margil versuchte, auf seine Schritte zu lauschen, doch der Schatten bewegte sich vollkommen lautlos. Aber er war noch da. Selbst ohne Ydrir besonderen Sinn konnte Margil seine Nähe spüren.


    Der Weltenwanderer verharrte regungslos. Er sann nach, wie er nun weiter vorgehen sollte. Wenn der Mandrak ihn entdeckt hatte, würde er sich dann nicht sofort auf ihn stürzen? Oder musste er ihm mehr als die Instinkte eines jagenden Tieres zutrauen? Ein eisiger Hauch zog an ihm vorüber. Der Schatten schien sich an ihm vorbei den Tunnel hinaufzubewegen.


    Margil, er kommt näher‘, vernahm er Ydrirs angsterfüllte Stimme in seinem Kopf.


    Der Weltenwanderer löst sich von der Wand und pirschte dem Mandrak nach, doch der Schatten bewegte sich durch die Schwärze wie ein Blatt auf einem rasch strömenden Fluss. Er würde ihm nicht nahe genug kommen, ehe die Kreatur seine Freunde erreichte. Durfte er sich darauf verlassen, dass sie sich gut genug verbergen konnte? Dass Ydrirs Sensibilität nicht auch in die andere Richtung wirkte und den Mandrak anlockte wie Blut im Wasser die Raubfische? Margil wollte dies nicht riskieren. Er zog eines seiner Wurfmesser unter seinem Mantel hervor und spähte in die Finsternis. Doch er konnte nicht einmal einen Umriss ausmachen.


    Er ist hier‘, wimmerte die Stimme in seinem Kopf. Ydrir war machtlos und Firondhir einem Gegner, den er erst wahrnahm, wenn es zu spät war, nicht gewachsen. Margil blieb keine Wahl. Er stellte sich mitten in den Gang und brachte sich in Wurfposition, hoffend, dass auch der Mandrak in der Mitte stand.


    Wie aus dem Nichts, nur für einen Wimpernschlag, flackerte eine nebelgraue Form vor ihm auf. Margil hielt inne. War es eine Einbildung gewesen, oder hatte er wirklich etwas gesehen? Nun war alles wieder stockfinster. Doch schon im nächsten Augenblick war es wieder da: eine blasse, verschwommene Gestalt, mal deutlicher, mal in der Dunkelheit verschwimmend, regelmäßig wie ein Pulsschlag. Zu voller Höhe aufgerichtet, mit breiten Schultern, ausladenden Beinen und bedrohlich ausgebreiteten Armen stand sie mitten im Tunnel, nur wenige Schritte von Firondhir und Ydrir entfernt.


    Margil kniff die Augen zusammen. Doch auch mit geschlossenen Lidern konnte er die Form auftauchen und verschwinden sehen. Er verschwendete keine Zeit damit, sich über den Ursprung dieser Erscheinung Gedanken zu machen. Mit dem nächsten Aufflackern nahm er Maß. Für einen präzisen Wurf mochte es nicht genügen. Aber mehr als seine Aufmerksamkeit brauchte Margil nicht.


    Die Klinge traf den Mandrak unvorbereitet irgendwo im Rücken. Blendend hell loderten die Zacken und Windungen in seiner Haut auf, so dass für einige Augenblicke seine tatsächliche Gestalt im Schein des kalten Lichts vollständig zu erkennen war. Er glich einem muskulösen, sehnigen Aeldari, die Haut von tiefstem Schwarz, die weißen, strähnigen Haare teilweise zu einem losen Knoten aufgebunden. Eine zerrissene, weite Hose aus roher Haut, mit einer Kordel um die Hüfte gegürtet, war seine einzige Kleidung. In der linken Hand hielt er eine lange, gezackte Klinge.


    Der Mandrak wirbelte herum, ein eisiges Fauchen ausstoßend. Augen und Mund glühten wie Schmelzöfen. In seiner rechten Hand sammelte sich purpurnes Feuer, die Flammenzungen wanden sich seinen Arm hinauf. Dann schleuderte er einen Strahl gleißenden Lichts in die Richtung, in der er den Ursprung des Wurfgeschosses wähnte.


    Doch Margil befand sich schon nicht mehr an dieser Stelle. Im nächsten Moment, nachdem er seine Klinge losgelassen hatte, hatte er sich zu Boden geworfen und war zur Seite gerollt. Nun kauerte er an der Wand, während der Flammenstrahl auf dem Tunnelboden einschlug. Purpurne Lohen fluteten den Gang und leckte bis an seine Arme und Beine. Selbst wenn er nicht getroffen worden war, spürte er das eisige Brennen durch seine Kleidung hindurch. Er biss die Zähne zusammen und kroch weiter in den Tunnel hinein.


    Das Leuchten zerfloss und erstarb, doch die schemenhafte Gestalt des Mandraks blieb sichtbar. Margil dämmerte eine Ahnung. War es möglich, dass Ydrir seine Wahrnehmung auf ihn übertrug? Wenn dem so war, durfte er nicht darauf setzen, dass der Junge dies lange würde aufrecht halten können. Er musste diesen Vorteil nutzen, sofort.


    Die Nebelgestalt kam den Gang hinaufgeeilt, suchend von rechts nach links huschend. Ganz offensichtlich wusste sie, dass ihr Gegner sich hier irgendwo befinden musste, dass sie ihn nicht mit ihrem Flammenstrahl getroffen hatte. Margil kam auf die Füße. Er behielt den Mandrak fest im Blick und wich seinen Bewegungen aus, mit jedem Schritt weiter zurück. Der Tunnel war keine vier Armlängen breit und bot keine die Möglichkeit, unbemerkt hinter sein Ziel zu gelangen. Doch allzu lange konnte er sich nicht mehr Zeit lassen, die Umrisse der Gestalt begannen bereits zu verblassen.


    Margil entschied, das Wagnis einzugehen und den Mandrak von vorne anzugreifen. In diesem Moment änderte das Schattenwesen seine Bewegungsmuster. Es verharrte kurz, als würde es etwas wittern. Margil erstarrte. Er war sich beinahe sicher, dass sein Gegner ihn entdeckt hatte. Doch dass er ihn sehen konnte, wusste der Mandrak nicht.


    Der Weltenwanderer richtete sich langsam auf und presste sich mit dem Rücken an die Wand, als würde er versuchen, sich vor seinem Verfolger zu verbergen. Der Mandrak bewegte sich lauernd. Geduckt und immer wieder innehaltend pirschte er sich heran. Margil spürte seinen Herzschlag schneller werden, wie die Kälte zunahm. Er holte tief Luft und konzentrierte sich auf das herannahemde Ziel. Der Skorpion lauert geduldig, ging es ihm durch den Kopf, seine Anspannung sammelt er und wandelt sie um in Kraft für den entscheidenden Schlag.


    Die Schemen des Mandraks lösten sich auf wie Nebel und versanken wieder in undurchdringlicher Finsternis. Nur noch wenige Schritte war er entfernt gewesen. Margil sah nichts mehr, doch er konnte spüren, dass das Schattenwesen nahe war, seine tödliche Kälte umgab ihn. Nun gab es kein Zurück und kein Ausweichen mehr. Bedächtig zog er seine Ritualklinge. Mit beiden Händen umfasste er den Griff, spürte die Struktur der geflochtenen Bänder, mit denen er umwickelt war, und verharrte.


    Dann brach das purpurne Feuer direkt vor ihm aus, die windenden Runen auf dem Körper, die brennenden Augen und das weit aufgerissene Maul. Die flammenumloderte Hand fuhr wie aus dem Nichts auf ihn herab. Margil ließ sich auf ein Knie fallen, die brennenden Klauen griff ins Leere.


    Mit aller Kraft stieß der Weltenwanderer sein Kurzschwert nach oben und trieb es dem Mandrak von unten in die Brust. Das Wesen stieß ein ohrenbetäubendes, schrilles Kreischen aus und stürzte bäuchlings in den Fluss. Sein eigenes, purpurnes Glühen vermengte sich mit dem gelbgrünen Phosphoreszieren des aufgewühlten Wassers zu einem dämonisch-roten Leuchten. Dann verlosch sein Feuer und ließ den Aeldari in tiefster Dunkelheit zurück.


    Firondhir und Ydrir sahen das purpurne Feuer des Mandraks weiter hinten im Tunnel aufflammen. Im nächsten Moment zerriss ein markerschütternder Schrei die Finsternis. So wie der grausige Ton erstarb, verflüchtigte sich auch die lähmende Kälte. Taub und stumm breitete sich die Schwärze des Tunnels um sie herum aus. Ydrir, der die ganze Zeit wie in Trance gewesen war, kam wieder zu sich. Firondhir vergewisserte sich, dass der Junge bei Bewusstsein war, dann lief er los den Tunnel hinauf. Ydrir folgte ihm.


    Nicht weit vor der nächsten Biegung fanden die beiden Margil bäuchlings im Wasser liegen. Von dem Mandrak war keine Spur zu erkennen. Besorgt ging Firondhir neben dem Angeschlagenen in die Hocke und rüttelte heftig an seiner Schulter. Margil stöhnte und versuchte, sich aufzurichten, doch seine Glieder waren noch steif und unbeweglich von der Kälte. Firondhir griff ihm unter die Arme, um ihm auf die Füße zu helfen. Ydrir hob Margils Ritualklingen auf und reichte sie ihm. Mit Mühe gelang es dem blonden Weltenwanderer, seinen rechten Arm zu heben, um seine Waffe entgegenzunehmen und wegzustecken. Jede Bewegung wurde von einem schmerzhaften Brennen begleitet.


    „Wo ist er hin?“ keuchte Margil mit trocknem Hals.


    „Verschwunden“, antwortete Ydrir. „Er war einfach weg. Aber ich glaube, du hast ihn getötet.“


    „Du musst es wissen“, erwiderte Margil und Rang nach Luft. „Ohne deine Hilfe wäre mir das nicht gelungen.“


    „Hilfe?“ fragte der Junge erstaunt.


    „Hast du mich nicht den Mandrak sehen lassen?“


    „Vielleicht“, antwortet er nachdenklich. „Ich weiß es nicht. Ich kann mich kaum an die letzten Minuten erinnern.“


    Firondhir unterbrach die beiden. „Wir müssen weiter. Wenn die Übrigen unsere Spur noch nicht wiedergefunden haben, dann hat sie dieser Todesschrei darauf gebracht.“


    Wankend, von seinen Freunden gestützt, setzte Margil sich in Bewegung. Nach einigen Schritten kehrte die Wärme in seine Glieder zurück.


    Ohne weiter Zeit zu verlieren, eilten die drei den Gang hinunter. Der Schrei des Mandraks war in der Tat nicht ungehört geblieben. In ihrem Rücken spürten die drei Aeldari eine Woge aus Kälte sich auftürmen, ausholend, um über sie hereinzubrechen. Sie beschleunigten ihre Schritte noch einmal. Das Leuchten des aufgewühlten Wassers erhellte den Gang um sie herum.


    Dann standen sie in einer Sackgasse.


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    [1] Skorpionkrieger

  • Sackgasse


    Ohne jede Vorwarnung endete der Gang vor einer schwarzen Wand. Die vieleckigen Granitsäulen ragten wie fest miteinander verwachsen in die Dunkelheit hinauf. An ihrer Basis sammelte sich das Wasser in einem die gesamte Tunnelbreite ausfüllenden Teich.


    Fassungslos standen die Aeldari im knöcheltiefen Wasser und starrten auf die Barriere. Nicht der geringste Spalt war zu erkennen. Sie sahen sich um, eilten nach rechts und links, suchten akribisch die Wände ab, doch hier gab es keine Abzweigungen mehr. Hinter ihnen schwoll die Kälte an, langsamer als zuvor, aber stetig und unausweichlich. Die Mandraceilan bemühten sich nicht einmal mehr, sich heimlich zu nähern. Ihr gieriges Heulen und Fauchen dröhnten den Tunnel hinauf, von den Wänden zurückgeworfen und vervielfacht wie das Brüllen einer ganzen Horde.


    Ydrir konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Firondhir trat neben ihn und griff ihm unter die Arme, damit er nicht ins Wasser niedersank. Gleichzeitig sah er Margil hilfesuchend an. Der schüttelte bitter den Kopf. „Der einzige Weg war der falsche Weg. Sie haben uns hierhergetrieben.“


    Firondhir stieß einen Fluch der Wut und Verzweiflung aus. Dies konnte nicht das Ende sein. Es konnte nicht sein, dass Ànathuriel dies nicht hatte vorhersehen können. Selbst als Drukhari, bei ihrer Flucht aus Commorragh, hatte sie vorgeahnt, was ihnen widerfahren würde. Nie hätte sie zugelassen, dass sie auf eine aussichtslose Mission gegangen wären. Doch dann, genährt durch die kalte Furcht, die die herannahenden Schattenkreaturen verströmten, kamen ihm Zweifel. Hatte nicht auch der AthIdainn, wissend, sie auf eine Reise gesandt, die Illurayon und Ydril mit dem Leben bezahlt hatten?


    Es war seine eigene Entscheidung gewesen. Er wusste, was ihn erwartete. Und am Ende hat er seine Aufgabe erfüllt‘, hörte er eine leise Stimme und seinem Kopf. Es musste Ydrir sein, der seine Gedanken gespürt hatte.


    Der Junge hatte recht. Es war beschämend, dass er ihn erst wieder daran erinnern musste. Und dies hier war nun ihre Aufgabe, zu der sie sich selbst entschlossen hatten. Der Zweifel wandelte sich in Trotz. Es musste einen Ausweg geben, alles andere ergab keinen Sinn, und daran wollte Firondhir nicht glauben.


    Die Kälte wurde lähmend, die Mandraceilan mussten schon sehr nahe sein, auch wenn sie das drohende Glühen ihrer Körper noch nicht sehen konnten. Unwillkürlich ging Firondhir rückwärts, weiter in den Teich hinein. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass das Wasser rasch tiefer wurde. Der Boden glich einer überfluteten Treppe aus Steinsäulen. Schon nach wenigen Schritten reichte das Wasser ihm bis zu den Knien, er musste Acht geben, auf den glatten Stufen nicht auszurutschen.


    ‚Das Wasser!‘ schoss es ihm durch den Kopf. Es musste irgendwohin abfließen, sonst würde der Gang volllaufen. Vorsichtig tastete der Weltenwanderer sich weiter vor, den Blick abwechselnd auf das Becken gerichtet und wieder zum Tunnel aufschauend. Weder in der Finsternis des Ganges noch im trüben Wasser konnte er viel erkennen, doch je weiter er hinabstieg, umso mehr verspürte er einen Sog um seine Füße. Als er schließlich vor der Wand stand, reichte das Wasser ihm bis zu den Schultern. Fieberhaft suchte er die Felssäulen ab, konnte aber keinen Durchlass erkennen. Dennoch, irgendwo musste eine Öffnung sein.


    Firondhir schrak zurück und verlor beinahe den Halt. Er glaubte, eine Bewegung nah am Grund wahrgenommen zu haben. Irgendetwas hatte seine Beine gestreift. Im nächsten Augenblick durchbrach ein breiter, flacher, kiemengesäumter Kopf direkt vor ihm die Wasseroberfläche. Dem Weltenwanderer entfuhr ein dumpfer Laut der Überraschung.


    Der Salamander zwinkerte kurz mit seinen kleinen Augen, tauchte wieder unter und umkreiste den Aeldari knapp unter der Oberfläche, eine gelbgrün leuchtenden Spur nach sich ziehend. Dann tauchte er ab, erschien wenige Augenblicke später erneut und wiederholte das Spiel.


    Firondhir überkam eine Ahnung – oder vielleicht auch nur eine wunschvolle Hoffnung. Er tauchte unter. Sofort war der Salamander an seiner Seite und steuerte den Grund des Teiches an. Dort, am Fuße der steinernen Barriere, war er auf einmal verschwunden, doch Firondhir konnte noch seiner Leuchtspur im Wasser folgen. Mehr tastend als sehend, untersuchte er die Wand und entdeckte schließlich den Durchlass, einen breiten, niedrigen Spalt an der Basis der Barriere. Er schien gerade hoch genug zu sein, um sich hineinzuzwängen. Wie weit er reichte, ob er weiter oder enger wurde, konnte Firondhir nicht erkennen. Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Dies konnte die Rettung sein, und ebenso eine tödliche Falle. Doch welche Wahl hatten sie noch? Draußen im Tunnel erwarteten sie der eisige Griff und die gnadenlosen Klingen der Mandraceilan. Er stieß sich vom Boden ab und richtete sich wieder auf. Nach Luft schnappen durchbrach er die Wasseroberfläche.


    Margil stand am flachen Ufer, die Ritualklinge gezogen, und hielt seinen Blick auf den Tunnel gerichtet. Ydrir war wieder auf die Füße gekommen und hielt sich zitternd aufrecht. In der Hand hatte er eine Shurikenpistole, die einzige Waffe, die er bei sich trug. Doch konnte er kaum dem Arm heben, um damit irgendetwas auszurichten. Die tödliche Kälte erfüllte den Raum, so eisig, dass, wäre sie natürlichen Ursprungs, das Wasser auf der Stelle hätte gefrieren müssen. Schwach glommen die ersten purpurnen Lichter in der Entfernung auf.


    „Rasch, hierher!“ rief Firondhir den beiden zu. Margil wandte sich um. Sein Gefährte stand schultertief im Wasser und war gerade dabei, sein Gewehr festzuzurren.


    „Wohin?“ fragte er skeptisch.


    „Es gibt einen Durchlass“, antwortete Firondhir knapp. Er wurde ungeduldig. Jetzt war keine Zeit zu diskutieren.


    Ydrir zögerte keinen Augenblick, steckte die Pistole ein und eilte zu Firondhir ins Wasser. Margil seufzte ergeben, sicherte sein Schwert und folgte ihnen. Die drei Aeldari aktivierten die interne Luftversorgung ihrer Anzüge und ließen sich zum Grund des Teiches sinken. Als die Mandraks die Sackgasse kurze Zeit später erreichten, mussten feststellen, dass von ihrer Beute jede Spur fehlte.




    Dumpfe Stille umfing die Weltenläufer. Die schrillen Laute ihrer Verfolger drangen nicht mehr zu ihnen vor, genauso wenig wie die lähmende Kälte. Auch wenn das Wasser durch ihre Anzüge nicht bis an die Haut dringen konnte, erschien es den dreien, als würden sie schwerelos in einer warmen Dämmernis schweben. Ein Gefühl der Ruhe und Sicherheit kam in ihnen auf. Doch ihnen war bewusst, dass es trügerisch war. Die Mandraceilan waren immer noch dort draußen und mussten sie in Kürze erreichen.


    Firondhir tastete sich durch das trübe Dunkel am Boden des Teiches, bis er den Spalt wiedergefunden hatte. Margil machte eine Geste der Skepsis, als er den niedrigen Eingang erkannte. Ydrir versuchte, ihn mit einer Handbewegung zu beschwichtigen. Dann erschien der Kopf des Salamanders in der Öffnung. Seine Kiemenbüschel wiegten in der schwachen Strömung, umspielt vom phosphoreszierenden Leuchten wie die glühende Mähne eines kleinen Wasserdrachens. Das Tier schüttelte einige Male den Kopf, drehte sich dann um und verschwand mit einigen Flossenschlägen in dem niedrigen Durchgang. Firondhir bedeuteten seinen Gefährten, ihm zu folgen und schlüpfte in den Spalt.


    Für eine ganze Weile war der Tunnel nicht viel breiter als der Eingang gewesen war: eben hoch genug, um nicht stecken zu bleiben, und so schmal, dass die drei sich nur hintereinander hindurchbewegen konnte. Zum Schwimmen war nicht genug Raum, also tasteten und zogen sie sich mit den Händen vorwärts. Es war stockfinster, doch das spielte keine Rolle, denn es gab keinen anderen Weg, auf den sie fälschlich hätten geraten können.


    Ydrir hielt sich nah an Firondhir. Als sie in den schmalen Tunnel eingetaucht waren, war sein einziger Gedanke gewesen, der furchterregenden Präsenz der Mandraceilan zu entkommen. Doch je tiefer sie vordrangen, desto mehr drängte sich die Erinnerung daran hervor, was ihm bei der Flucht vor der ungeheuren Bestie der Drukhari widerfahren war. Furcht und Beklemmung überkam ihn und raubte ihm den Atem. Die Wände des Tunnels schienen sich um ihn zusammenzuziehen, als wären sie Teil eines Lebewesens und wollten ihn zerquetschen. Eine kurze Zeit konnte er noch an sich halten, dann überwältigte ihn die Panik und er begann, wild mit den Armen um sich zu schlagen und den Beinen zu strampeln, als könnte er sich so freikämpfen. Margil, der direkt hinter ihm war, musste jäh stoppen, um nicht getroffen zu werden.


    Firondhir erkannte, was in Ydrir vorging. In dem engen Gang konnte er nicht umdrehen, lediglich sich auf den Rücken legen, um den Jungen das Gesicht zuzuwenden. So weit, wie es ihm möglich war, schob er sich zurück, beugte den Rücken und streckte einen Arm nach Ydrir aus. Schließlich gelang es ihm, eine seiner Hände zu fassen.


    Ydrir, hör auf mich. Wir sind bei dir, du bist in Sicherheit‘, redete er ihn in Gedanken zu. ‚Halte durch, es kann nicht mehr weit sein.‘


    Woher er diese Gewissheit nehmen sollte, wusste Firondhir selbst nicht. Dieser Tunnel konnte noch Meilen so weiter gehen. Aber er bemühte sich, diese Bedenken vor Ydrir zu verschleiern. Immerhin, für den Moment schien es zu wirken. Ydrir beruhigte sich und hielt seine Hand fest gedrückt. Auf dem Rücken liegend gelang es Firondhir, sich weiter zu bewegen, Ydrirs Hand dabei festzuhalten und ihn mitzuziehen. Immer wieder sah er sich über die Schulter um, konnte aber nichts ausmachen außer der tiefen Schwärze.


    Ganz allmählich, eine Ewigkeit schien vergangen zu sein und auch Firondhir und Margil hatte begonnen, Beklemmung zu verspüren, stellten die drei fest, dass der Tunnel sich zu weiten begann. Bald konnten sie die Seiten nicht mehr mit ausgestreckten Armen erreichen, dann den Boden und die Decke nicht mehr gleichzeitig berühren. Schließlich war genug Raum, um zu schwimmen. Doch immer noch war der Gang vollständig mit Wasser gefüllt. Ihr Luftvorrat mochte noch eine ganze Weile reichen, zumal die Systeme des Anzugs die Atemluft wieder aufbereiteten, doch ewig durfte es nicht so weitergehen.


    Kurze Zeit später war der Salamander wieder da. Während die Aeldari mit ausholenden Bewegungen in der Mitte des Tunnels schwammen, glitt das Tier mit ruhigen, gleichmäßigen Schlägen seines Flossenschwanzes unter ihnen dahin und zog eine schwache Leuchtspur nach sich. Aus irgendeinem Grund verlieh die Anwesenheit des Tieres Firondhir Zuversicht. Bisher hatte es sie, ob willentlich oder nicht, zuverlässig durch diese Höhlen geleitet. Er vertraute darauf, dass es auch jetzt den Weg aus diesem Tunnel heraus einschlug. Und Ydrir, dessen war er sich sicher, vertraute ihm. Margil indes hatte, wie es seine Natur war, die Lage angenommen, wie sie war, und folgte seinen Gefährten.


    Eine geraume Zeit verstrich noch, dann erkannten sie über ihren Köpfen ein silbriges Schimmern. Der Tunnel musste sich über dem Wasser geöffnet habe und dort schien sogar Licht zu sein. Der Salamander steuerte nach oben. Die Aeldari folgten ihm.


    Ihre Köpfe durchbrachen die Wasseroberfläche. Über ihnen wölbte sich eine dunkle Grotte aus schwarzem Gestein, doch voraus öffnete sich ein höher Steinbogen, durch den bläuliches Licht hineinfiel. Die drei Weltenläufer ruderten darauf zu. Der Boden des Gewässers unter ihren Füßen stieg ebenso schnell, steil und treppenartig an wie auf der anderen Seite des Tunnels. Sie wateten durch das Wasser und traten schließlich hinaus ins Licht.

  • Das Heiligtum


    Nach den schier endlosen Tagen in beinahe vollständiger Finsternis mussten ihre Augen sich erst wieder an die Helligkeit gewöhnen. In den ersten Momenten glaubten sie sich unter freiem Himmel und in gleißendem Tageslicht. Dann wurden sie gewahr, dass sie sich in einer weiten, hohen Kaverne befanden, die von einem weichen, weißgoldenen Licht erfüllt war. Firondhir öffnete als erster seinen Helm. Die Luft roch feucht, erdig und leicht modrig, wie in einem Sumpf, war ansonsten jedoch klar und sauber. Er sog sie tief ein. Eine Wohltat nach den üblen Ausdünstungen der Tunnel. Margil und Ydrir taten es ihm gleich.


    Der Anblick, der sich ihnen bot, war überraschend und atemberaubend. Sie standen auf einem niedrigen Felssockel. Zu ihren Füßen ergoss sich das Wasser leuchtend und glitzernd über mehrere flache Kaskaden aus runde Steinbecken in eine weite, überflutete Ebene. In der Mitte erhob sich wie eine flache Insel ein Sockel aus verwachsenen Granitsäulen. Darauf ragte eine kolossale Statue aus dunkelgrüner Jade in die dämmrige Höhe: Kurnous, Jagdgott der alten Aeldari, mit überkreuzten Beinen sitzend, den Mantel über die linke Schulter und den Schoß gelegt, den mondsichelförmigen Bogen aus Silber in der rechten Hand vor sich haltend, das Haupt gekrönt von einem mächtigen Geweih. Ehrfurchtgebietend sahen seine goldenen Augen auf die Weltenläufer nieder. Hoch über ihm wallten silbrig leuchtende Nebelschwaden, die Quelle der diffusen Helligkeit, so dass die Höhe der Decke nicht auszumachen war.


    Staunend betrachteten die drei die Szenerie. Dies war jenseits von allem, was sie in der Unterwelt Commorraghs, in den Tiefen unterhalb einer Kabalenfestung der Drukhari, erwartet hätten. Margil fasste sich als erster ein Herz, schritt die Stufen hinunter und watete durch das flache Wasser der Statue entgegen. Seine Gefährten folgten ihm.


    „Was kann das für ein Ort sein“, flüsterte Ydrir beeindruckt.


    „Ein Heiligtum des Kurnous“, antwortete Firondhir ehrfurchtsvoll. „Es muss uralt sein. Die Drukhari verehren die alten Götter nicht, schon vor dem Fall nicht mehr.“


    „Und dennoch haben sie ihre Festung über diesem Ort errichtet“, merkte Ydrir nachdenklich an.


    Das Wasser war nur knöcheltief. Das wenige Licht, das von der Nebeldecke ausging, genügte, um Pflanzen wachsen zu lassen. Büschel dunkler, fedriger Farnblätter und hellgrüner, schuppiger Bärlappgewächse reckten sich in die Höhe. Bruchstücke der Steinsäulen, die gleich gefallenen Bäumen im Wasser lagen, waren mit dicken, schimmernden Moospolstern überzogen. Hin und wieder schreckten die drei Wanderer große, libellenähnliche Insekten oder andere Gliederfüßer auf, die vor den unbekannten, riesigen Zweibeinern die Flucht ergriffen. Nach all den Schrecken, denen sie auf dieser Reise begegnet waren, erschien diese urtümliche Landschaft voller Leben den Freunden beinahe wie eine Idylle – bis zu dem Moment, als etwas unter Margils Füßen knackte.


    Er sah nach unten. Aus dem schlammigen Boden des flachen Gewässers ragten graugrüne Gebilde. Im ersten Moment hielt er sie für Zweige. Doch woher, wenn es hier keine Bäume gab? Als er sie mit der Fußspitze leicht aus dem Morast hob, erkannte er, dass es Knochen waren. Knochen, die, der Form und Größe nach zu urteilen, nicht von Tieren stammen konnten. Er und Firondhir sahen sich im näheren Umkreis um und stießen auf weitere Gebeine. Die meisten wiesen Spuren von Schlägen mit groben Klingen auf.


    „Was hältst du davon?“ wollte Firondhir wissen.


    Der blonde Weltenwanderer zuckte mit den Schultern. „Dass wir uns nicht von der Idylle täuschen lassen und weiter wachsam sein sollten. Dies ist immer noch Commorragh.“


    Nach kurzer Zeit erreichten sie schließlich die Steininsel. Ein schauderhafter Anblick bot sich ihnen. Spröde, halb zerfallene Gerippe lagen kreuz und quer zu Füßen des Grünen Gottes verteilt. Jedem einzelnen Waren das Haupt und die Glieder abgeschlagen und der Brustkorb aufgebrochen worden, als wären sie Schlachtvieh gewesen.


    „Nahm Kurnous solche Gaben entgegen?“ wollte Ydrir mit Grausen wissen.


    „Niemals!“ entfuhr es Margil erbost und so bestimmt, dass er keinen Widerspruch zuließ. „Nur die ruchlosen Vorfahren der Drukhari konnten so frevelhaft sein, ihresgleichen dem Jagdgott zu opfern.“


    Ydrir konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass auch seinen Bruder dieses grausame Schicksal ereilt haben könnte. Firondhir schüttelte den Kopf, als hätte er seine Gedanken erraten. „Diese Gebeine sind alt. Hier hat schon lange kein Ritual mehr stattgefunden.“


    Er trat an die Statue heran. Die mächtigen, gekreuzten Beine reichten ihm bis über den Kopf. Er legte die Hand an eines der Knie und senkte demütig das Haupt, als wäre es an ihm, den toten Gott für die Blasphemie ihrer Vettern um Verzeihung zu bitten. Dann wandte er sich zu seinen Freunden um.


    „Wir sind aus einem Grund hier“, sagte er. „Es kann kein Zufall sein, dass unser Weg uns zu einem Ort geführt hat, der einst unserem Lehrmeister geweiht war. Ydrir?“


    Der Junge nickte. „Du hast recht. Wir sind am Ziel. Mein Bruder ist hier.“


    „Dann lasst uns suchen“, sagte Margil, nicht ohne eine Spur von Sarkasmus. Auch den beiden anderen war die Weitläufigkeit der Kaverne bewusst. Der blonde Weltenwanderer sprang mit einem Satz von dem steinernen Sockel herunter. Sowie seine Füße ins Wasser eintauchten, scheuchte er ein weiteres Tier auf. Der Körper des armlangen, wurmähnlichen Geschöpfes bestand aus einer Reihe von schwarzglänzend gepanzerten Segmenten, von denen jedes ein Paar vielgliedriger Beine trug. Unter einer flachen, mit dornigen Längsgraten überzogenen Panzerplatte am Vorderende ragten fünf längere Beinpaare hervor, mit denen es sich drohend aufrichtete. Es hatte keinen erkennbaren Kopf, doch am stumpfen Vorderende streckten sich zwei Stielaugen zur Seite. An der Unterseite rollte es zwei stachelbesetzte Fangarme aus.


    Ydrir stieß einen Schreckensschrei aus und wich zurück, bis er an den Beinen der Statue lehnte und nicht mehr weiterkonnte. Margil und Firondhir waren nicht minder überrascht, einen Ath-NaranKuras vor sich zu haben, wenngleich um ein Vielfaches kleiner als jener, dem sie auf ihrer Flucht begegnet waren.


    Ehe einer der drei Aeldari reagieren konnte, schoss der Salamander aus dem Wasser, packte den schwarzen Wurm mit seinem breiten Kiefer am Vorderende und schüttelte und schlug seine Beute gegen die Steine, bis der schwarze Panzer knackend aufbrach und der Körper in zwei Teile zerriss. Gierig verschlang der Salamander den Vorderteil.


    Ehe er sich über die andere Hälfte hermachen konnte, sprang Ydrir, von einer Eingebung getrieben, hinzu und hob den Überrest auf. Ein ovaler Gegenstand, nicht größer als ein Hühnerei, überzogen von blauviolettem Schleim, glitt aus der Bruchstelle und fiel mit einem plumpsenden Geräusch ins Wasser. Erschrocken ließ Ydrir den Kadaver fallen. Sofort machte der Salamander sich darüber her. Der junge Aeldari beachtete die Amphibie nicht mehr, sondern bückte sich nach dem Gegenstand und befreite ihn vom Schleim. Ein glatt polierter, orangeroter Edelstein kam zum Vorschein. Kaum, dass Ydrirs Hand ihn berührte, glühte er in einem feurig-pulsierenden Licht auf.


    In einer Mischung aus Überraschung und Freude hielt Ydrir die Luft an und drehte sich zu seinen Freunden um, den Seelenstein seines Bruders in Händen.


    Sprachlos vor Staunen hatte Firondhir das Geschehen beobachtet. Margil dagegen brach in schallendes Gelächter aus. „Dass die Geschicke von Zwillingen verknüpft sind, habe ich nie angezweifelt“, sagte er. „Aber das hier grenzt schon an Absurdität.“


    Firondhir warf ihm einen missbilligenden Blick zu, doch auf Ydrirs Gesicht zeichnete sich nun ebenfalls ein Lachen ab und er stimmte mit heller Stimme ein.

  • Handel


    Ein drittes Lachen, rau und eiskalt, ließ die Aeldari jäh verstummen. Lähmende Kälten umflutete sie. Die drei drängten sich aneinander und sahen sich erschrocken um. Ydrir begannen die Sinne zu schwinden.


    Purpurne Lichter flammten auf. Als würde er einem klebrigen Morast entsteigen, wand sich ein Mandraceilan aus dem Schatten zu Füßen des Jagdgottes hervor. Die beiden Weltenwanderer zogen ihre Waffen und nahmen Ydrir in ihre Mitte. Das Schattenwesen verharrte an Ort und Stelle. Doch schon im nächsten Augenblick tauchte hinter ihnen ein weiterer Mandrak auf, dann ein dritter. Aus jedem Schattenwurf eines Steins, einer Pflanze, mochte er noch so klein sein, schien eine dieser Kreaturen hervorzukriechen, bis die Aeldari von mehreren Dutzenden umringt waren.


    „Meine Hochachtung, IstuKarun“, wisperte die Schattengestalt. Firondhir erkannte die heisere Stimme sofort wieder: der unheimliche Alte, der sich Nurakh genannt hatte. Doch nun hatte er den Kapuzenmantel abgelegt und trug wie seine Artgenossen lediglich einen weiten Rock aus blutfleckiger Haut. An der Kordel, die das grausige Kleidungsstück zusammenhielt, baumelte eine blutverkrustete Sichel. Das strähnige, weiße Haar fiel ihm offen ins Gesicht – oder das, was das Gesicht hätte sein sollen, denn in der tiefschwarzen Maske waren weder Augen noch Mund zu erkennen. Selbst als er wieder zu sprechen anhob, blieb sein Antlitz eine verstörende Leere.


    „Ihr seid die ersten Besucher, die bis ins Heiligtum vorgedrungen sind. Dabei mussten wir euch sogar davon abhalten, einem falschen Weg zu folgen. Ihr habt uns großes Vergnügen bereitet. Und wie ich sehe“, er wies mit seinen knochigen Fingern auf Ydrir, der den leuchtenden Seelenstein fest umschlossen hielt, „hab ihr gefunden, weswegen ihr hergekommen seid.“


    Langsam begannen die übrigen Mandraks sich zu nähern.


    „Ich hoffe, ihr erinnert euch noch an meine Warnung“, fuhr Nurakh fort. „Später zu zahlen, erhöht den Preis.“ Nun erschien doch noch der rotglühende Mund in seinem Gesicht, zu einem zähnestarrenden Grinsen verzogen.


    Firondhir musste einige Male Luft holen und neu ansetzen, bevor er etwas entgegnen konnte, doch selbst dann brachte er nicht mehr heraus als ein ersticktes: „Was willst du?“


    Der Mandraceilan schwieg und wiegte sich eine kurze Weile hin und her. Dabei sah er den dunkelhaarigen Weltenwanderer eindringlich an, als würde er darüber nachdenke, was er einfordern sollte. Firondhir schien es, als würde sich der kalte Blick der unsichtbaren Augen direkt in sein Herz bohren.


    „Was hast du in deiner Tasche, IstuKarun?“ frage Nurakh unvermittelt.


    Verwundert griff Firondhir an das dünne Lederfutteral an seinem Gürtel.


    „Genau diese“, setze der Mandrak nach.


    Firondhir zog seine silberne Flöte hervor.


    „Ahhh“, zischte Nurakh. „Ein Wanderer auf dem Pfad des Musikers. Los, spiel für uns!“


    Firondhir zögerte verwirrt. Er glaubte, missverstanden zu haben, was der Mandraceilan von ihm verlangte. Margil stieß ihn an. „Na los doch!“ flüsterte er.


    „Nur zu“, kicherte Nurakh. „Keine Scheu, wir sind kein anspruchsvolles Publikum.“


    Firondhirs Herz schlug bis zum Hals. Wollte der Mandraceilan sie verspotten? Oder sollte das wirklich der verlangte Preis sein? Sein Weg auf dem Pfad des Flötenspielers war kurz gewesen, zu kurz, um mehr als die einfachsten Griffe zu lernen. Und nun sah es so aus, als sollte ihr Leben von seinem dürftigen Talent abhängen. Die entsetzenerregende Präsenz der Schattenkreaturen tat ihr übriges. Seine Finger verkrampften sich und sein Hals war trocken. Er war sich nicht einmal sicher, überhaupt einen Ton herausbringen zu können. Aber was hatten sie jetzt noch zu verlieren? Er holte Atem, schloss die Augen und setzte die Flöte an.


    Die Melodie begann zitternd und schwach. Je länger Firondhir jedoch spielte, umso mehr versank er in der Musik. Alles andere um ihn herum verschwand aus seinem Geist, bis er nur noch von den hellen, klaren Tönen erfüllt war. Wie von selbst fanden seine Finger die korrekten Positionen. Kein Ton wurde falsch angeblasen. Erst als das Lied zu Ende war, kehrte die Kälte zurück und brachen wie ein Sturzbach über ihn herein. Zitternd umklammerte er die Flöte mit der Hand.


    Die Mandraks hatten schweigend und reglos der Musik gelauscht. Auch als sie geendet hatte, rührten die Schatten sich immer nicht. Angespannt verharrten die drei Freunde dicht aneinandergedrängt.


    Nurakh ergriff das Wort: „Nun gut. Das war zumindest nicht völlig schlecht.“ Firondhir schluckte. Die Worte riefen alte, schmerzliche Erinnerungen in ihm hervor, das Gefühl des Versagens, seine Nächsten zu enttäuschen. Nur würden die Folgen diesmal ungleich schlimmer sein als einst. Er war nicht fähig etwas zu erwidern. Der Mandrak lächelte befriedigt. Die glühenden Runen auf seiner Haut leuchteten hell auf, als labte er sich an der Entmutigung des Weltenwanderes.


    „Und nun?“ fragte Margil ungeduldig.


    Die Schattenkreatur lachte laut los. Das schrille Geräusch drang den Aeldari bis ins Mark. Ydrir klammerte sich verängstigt an seinen Freunden fest, doch Firondhir war selbst kaum in der Lage, sich aufrecht zu halten.


    „Was hast du erwartet, Asuryani?“ höhnte Nurakh. „Dass wir euch gehen lassen für ein Lied?“ Er lachte erneut, und diesmal stimmten seine Gefolgsleute mit ein. Es war, als würde ein Eissturm den Weltenläufern entgegenwehen und sie in Kälte ersticken. Der Schatten hob zwei Finger seiner rechten Hand. Sofort verstummten die anderen.


    „Genug der Spielerein.“ Seine Stimmte wurde hart und schneidend wie Eis. „Zurück zum Geschäftlichen. Also, was könnt ihr mir bieten?“


    Firondhir rang nach Luft. „Ich gebe dir, was du haben wolltest.“ Ydrir sah ihn mit entsetzt aufgerissenen Augen an und schüttelte den Kopf.


    „Ich sagte, der Preis ist gestiegen“, zischte Nurakh und trat bis auf eine Handbreit an den Weltenwanderer heran, so dass seine Augen purpurrot direkt vor dessen Gesicht aufglühten „Der Prinz von DorchaKerun hat ein Kopfgeld ausgesetzt auf einen IstuKarun, dunkelhaarig, mit blauen Augen und einer runden Narbe auf der linken Wange.“ Dabei strich er mit seinen Klauenfinger über Firondhirs Gesicht. Die Berührung brannte sich in seine Haut. Der Weltenwandere stieß einen Schmerzenslaut aus.


    Firondhir brauchte einige Augenblicke, um die Worte der Schattenkreatur zu begreifen. Darauf sollte es also hinauslaufen. Er musste sich nicht erst ausmalen, was es bedeutete, dem jungen Archon wieder in die Hände zu fallen. Was er beim ersten Mal durchlitten hatte, würde nichts sein gegen das, was ihm bevorstand, nun, da Quisar einen persönlichen Groll gegen ihn hegte. Hätte er ihn damals nur getötet, als er die Gelegenheit hatte. Nun zahlte er den Preis, nicht für Gnade, sondern für die Rachsucht, mit der er dem Prinzen die gleiche Wunde zugefügt hatte, die er selbst trug. Er musste all seinen Mut zusammennehmen, ehe er auch nur den Gedanken fassen konnte, dem Handel zuzustimmen.


    Der Mandrak weidete sich an der Verzweiflung seines Gegenübers. Doch er war noch nicht fertig. „Allerdings, in Wahrheit hat dieser Preis keinen Nutzen für uns. Wir haben gesehen, dass ihr etwas viel wertvolleres besitzt.“ Er machte eine Pause. Den Funken der Hoffnung, den er in die Herzen der Asuryani gesetzt hatte, konnte er in ihren Gesichtern ablesen.


    Margil war als einziger der drei noch einigermaßen Herr seines Verstandes. „Schluss mit den Spielereien“, herrschte er den Mandrak an. „Sag uns endlich, was du willst.“


    Nurakh kicherte heiser und wies mit seinen knochigen Fingern auf Ydrir. „Den Jungen.“


    „Was?!“ entführ es Margil.


    „Nein!“ rief Firondhir im selben Moment. „Auf keinen Fall!“


    „Der Junge schuldet euch nichts. Ich habe einen der euren getötet. Ich bin bereit, dafür einzustehen“, sagte Margil hastig. Die beiden anderen sahen ihn überrascht an. Margil nahm sein Schicksal an, wenn er ihm nicht entgehen konnte, aber selbstlose Opferbereitschaft hatte bisher nicht zu seinen Charakterzügen gehört.


    „Hast du nicht!“ zischte Nurakh den blonden Weltenwanderer an. „Verwundet. Aus der Überraschung heraus, und das nicht einmal ohne Hilfe. Du bist als Krieger ebenso erbärmlich wie als Wegefinder, unserer Aufmerksamkeit nicht wert.“ Die Worte trafen Margils Stolz härter, als er selbst erwartet hätte, und wider besseres Wissen. Der Mandrak grinste befriedigt und wandte sich wieder Firondhir zu. „Dir sollte das doch recht sein“, flüsterte er. „Er bleibt, du kehrst heim zu seiner Liebsten. Ist es nicht das, was du wolltest?“


    Verwirrt sah Margil zwischen den beiden hin und her. Firondhir wurde rot vor Scham. Wie konnte die Schattenkreatur davon wissen? Mehr als einmal waren ihm dieser verabscheuungswürdige Gedanke gekommen. Und er hatte ihn von sich gewiesen, wann immer er sich zu zeigen versucht hatte. Er fühlte, wie Ydrirs flehender Blick auf ihn gerichtet war. Er konnte nicht mehr, als mit dem Kopf schütteln.


    „Also wirst du bleiben“, stellte Nurakh fest.


    Firondhir musste erst einige Male durchatmen, bevor er mit leiser, zitternder Stimme sagen konnte: „Ja, ich bleibe.“


    „Firondhir, das darfst du nicht!“ stieß Ydrir bestürzt hervor.


    Erneut brachen die Mandraks in ihr eisiges Gelächter aus. Nurakh wartete, bis es verklungen. „Ihr bereitet uns größtes Vergnügen, Asuryani“, wisperte er gönnerhaft. „Deshalb gewähre ich euch eine Gunst. Entscheidet selbst. Der Narbengesichtige oder der Junge, einer bleibt, die anderen dürfen gehen. Aber entscheidet rasch. Meine Gefolgsleute langweilen sich schnell. Und dann verlangt es ihnen nach weniger subtiler Zerstreuung.“ Er entfernte sich einige Schritte und ließ die drei Freunde allein.


    Firondhir fühlte die Last seiner verhängnisvollen Entscheidung schwer wie Blei in seinen Gliedern. Er taumelte einige Schritte zurück, ließ sich zu Füßen Kurnous‘ zu Boden fallen und blieb gebeugt sitzen, die Arme auf den Knien, den Kopf gesenkt. Ydrir und Margil stolperten ihm nach.


    „Firondhir, tu da nicht“, bat Ydrir erneut.


    Ohne aufzusehen, antwortete der Weltenwanderer mit gebrochener Stimme: „Ich habe mir schon auf unserer letzten Reise geschworen, dich sicher nach Hause zu bringen. Darin werde ich nicht versagen.“


    „Wann hättest du das je?“ gab Ydrir zurück. „Aber du hast auch Ànathuriel etwas versprochen. Halte dieses Versprechen ein und lass mir meine Entscheidung.“


    Aufmerkend sah der Weltenwanderer zu ihm hoch. Inzwischen wunderte es ihn nicht mehr, dass Ydrir diese Dinge wusste, noch empfand er darüber jene Eifersucht, die ihn bisher stets überkommen war. Doch er schüttelte den Kopf. „Das kann sie unmöglich gemeint haben.“


    „Denk doch nach. Ich bin für die Mandraceilan wertvoll, du nicht. Wenn sie dich dem Archon übergeben, ist das dein Tod, und kein leichter. Firondhir“, seine Stimme war gefasst, beinahe gebieterisch, „hör auf mich und lass mir die Entscheidung.“


    Firondhir konnte den Gedanken nicht verwinden, Ydrir in der Gewalt der Schattenkreaturen zurückzulassen. Und doch wusste er, dass der Junge recht hatte, in allem. Er war nahe daran, in Tränen auszubrechen, doch diese Freude wollte er den Mandraceilan nicht auch noch bereiten. Ydrir lächelte versöhnlich und reichte Firondhir die Hand, obwohl er selbst kaum genug Kraft hatte, seinem Freund aufzuhelfen. Margil trat hinzu und ergriff Firondhirs anderen Arm. Gemeinsam zogen sie den Weltenwanderer auf die Füße. Einen Moment standen sie nur da und sahen einander an.


    „Nun trefft eure Wahl!“ Nurakh war wieder zu ihnen getreten und auch die übrigen Mandraks hatten sich bedrohlich genähert.


    „Das haben wir“, sagte Ydrir so ruhig und gefasst, wie er es vermochte. „Ich bleibe bei euch.“ Das Schattenwesen lachte heiser.


    Dann wandte Ydrir sich wieder seinen Freunden zu. Er übergab Firondhir den Seelenstein. Das rotgoldene Licht pulsierte, als protestierte der Geist in seinem Inneren gegen das, was um ihn herum geschah. Firondhir ließ den Stein in einer seiner Taschen gleiten und verschloss sie sorgfältig. Dann reichte der Junge ihm die eingefasste Haarlocke. Firondhir wollte sie zurückweisen, doch Ydrir schüttelte den Kopf.


    „Erinnere dich, warum wir sie schon zu Beginn nicht hergeben wollten.“


    Firondhir nickt. „Wirst du zurechtkommen?“ fraget er leise.


    „Ja“, antwortete Ydrir, diesmal mit weniger Sicherheit in der Stimme.


    Zum Abschied schlossen Firondhir und Margil nacheinander den Jungen und die Arme. „Ich weiß, du findest einen Weg“, raunte er Firondhir kaum hörbar ins Ohr, bevor er ihn losließ.


    Nurakh wurde ungeduldig. Angewidert zischend wandte er sich ab. All diese Gesten der Zuneigung und Anteilnahme waren ihm unausstehlich, sie bereiteten seinesgleichen kein Vergnügen.


    „Jetzt ist es genug“, fauchte er schließlich. „Ihr beide. Geht! Oder bleibt für immer.“ Er wies auf eine schmale, steile Treppe aus Felssäulen, die sich halb hinter der Statue des Jagdgottes in mehreren Schleifen die Wand hinaufzog und hoch oben vor einem runden Durchgang endete. „Folgt jenem Tunnel. Er bringt euch in die Nähe des Hafens.“


    „Können wir deinem Wort vertrauen, dass ihr uns ziehen lasst?“ wollte Margil wissen. Der Mandrak lachte hohl. „Hab ihr eine Wahl?“


    Ohne ein weiteres Wort wandten die beiden Weltenwanderer sich ab und eilten in die angegeben Richtung davon. Eine unbestimmte Ahnung hielt sie davon ab, zurückzuschauen, als müssten sie damit rechnen, dass die Mandraceilan sich auf sie stürzen würden, sollten sie nur einen Moment zögern.


    Der Aufstieg auf der Treppe war langwierig und mühsam. Die Trittstufen waren wenig mehr als einen Fuß breit und rutschig von der Feuchtigkeit in der Luft. Mehr als einmal musste ein Weltenwanderer den anderen festhalten. Je weiter sie sich vom Grund entfernten, umso sicherer und zielstrebiger wurden ihre Schritte. Mit dem abfallenden Schrecken kamen Trauer und Verbitterung.


    Oben angekommen, mündete die Treppe in einem weiten Felsvorsprung. Erst jetzt wagten die beiden sich umzuwenden. Tief unter ihnen breitete sich die geflutete Eben aus, und doch waren sie nun mit dem Kopf des Jagdgottes nahezu auf einer Höhe. Sein edles, strenges Gesicht war ihnen nun genau zugewandt. Firondhir war sich nicht sicher, ob er sie bestätigend oder vorwurfsvoll ansah.


    Von den Mandraceilan war nichts mehr zu sehen oder zu spüren. Nur ein dunkler Punkt verharrte zwischen den Knien der Statue. Dann wandten die Weltenwanderer sich ab und folgten dem schmalen, dämmrigen Korridor, der sich stetig aufwärts durch den Fels wand.


    Sie waren schon eine ganze Weile unterwegs, ehe Margil das Wort ergriff.


    „Und mit diesem Ausgang gibst du dich zufrieden?“ fragte er mit einem vorwurfsvollen Unterton. Die ganze Zeit hatte Firondhir seinen düsteren Gedanken voll Zweifel und Selbstvorwürfen nachgehangen. Doch nun sah er auf. Seine Hand griff in eine Manteltasche und holte einen kleinen, goldenen Anhänger in Form eines Dreiecks hervor. Mit finsterer, entschlossener Mine betrachtete er das Fundstück, dann steckte er es wieder ein.


    „Nein“, antwortete er voller Trotz, „das tue ich nicht.“