Heimkehr
Ànathuriel stand am Kai und beobachtete das Anlegemanöver der Fähre. Das blaue, vogelähnliche Landungsschiff mit seinen silbern geränderten, nach vorne geschwungenen Flügeln legte sich elegant zur Seite, wendete und dockte mit dem Heck an dem langen Steg an. Als das Schott sich öffnete, sah sie das, was sie erwartet hatte: die zwei Weltenwanderer verließen das Landungsschiff allein. Ydrir fehlte.
Sie seufzte tief. Ihre sich grade erst entwickelnde Fähigkeit zur Voraussicht mochten ihr diesen Augenblick aufgezeigt haben, darauf vorbereitet war sie dennoch nicht. Die Vision eingetreten zu sehen, erfüllte sie mit Wut und Trauer, und der zweifelnden Frage, ob sie diesen Schicksalsverlauf hätte abwenden können – oder dürfen. Dies zu ergründen, war die wirkliche Herausforderung des Pfades der Seher, das war ihr in den vergangenen Tagen erst völlig bewusst geworden. Doch eins hatte sie bereits in Commorragh gelernt, um dort zu überleben: sich nicht in ihren Gefühlen zu ergehen, sondern sie in Tatkraft umzuwandeln. Genau das wollte sie nun auch tun, auch wenn sie noch keine Vorstellung hatte wie.
Margil und Firondhir kamen die lange Landungsbrücke hinuntergelaufen. Ànathuriel eilte ihnen entgegen. Keine zwei Schritte entfernt blieben sie stehen, würdevoll, fast unnahbar in ihrem türkis schimmernden, runenbestickten Sehergewand. Die drei sahen einander schweigend an. Margils Gesicht zeigte Bitterkeit und Betrübnis. Doch Firondhirs versteinerte Züge versetzten Ànathuriel einen Schrecken. Es war genau jener Ausdruck, den sie bei ihm fürchtete, der einen Seelenzustand aufzeigte, der ihn unberechenbar und selbstzerstörerisch werden lassen konnte. Entgegen allen Konventionen, gleichgültig, ob jemand sie sehe könnte, trat sie an ihn heran und schloss ihn in die Arme.
Firondhir blieb einige Augenblick wie erstarrt, ehe er die Geste erwidern konnte. Sie beide spürten, wie ein Teil der Finsternis in ihm sich aufhellte.
„Bitte sag mir, dass du dies nicht vorher wusstest“, flüsterte er.
„Ich wusste es nicht“, antwortete Ànathuriel sanft. „Nicht zu diesem Zeitpunkt.“
Sie ließen einander los, doch hielt sie weiter die Hand des Weltenwanderers fest. Schweigend schritten sie den Kai hinunter und schlugen den Weg zu Haus der Wanderer ein. Durch den schlichten Torweg, dessen Spitzbogen von einer liegenden Mondsichel geziert wurde, betraten sie den schattigen Innenhof. Hohe Bäume und üppige, blühende Ranken umstanden einen kleinen, klaren Teich, in dessen Mitte eine niedrige Fontäne plätscherte.
Die Freunde suchten eine zurückgezogene Nische in dem Laubengang auf, der den Innenhof umlief, abseits der Handvoll IstuKarun, die sich zur gleichen Zeit dort aufhielten. Kaum dass sie auf den flachen Sitzpolstern Platz genommen hatten, näherte sich einer der Weltenwanderer. Statt der üblichen Reisekleidung trug er eine schlichte dunkelblaue Jacke mit einer grünen Schärpe. Ohne ein Wort zu sagen, reichte er ihnen drei Trinkschalen mit dampfendem goldgrünem Tee. Erst während des Tuns bemerkte er, dass einer der drei Neuankömmlinge kein IstuKarun war, und stutze verwundert. Margil beeilte sich, die Situation zu entspannen, indem er die traditionelle Begrüßungsgabe für heimkehrende Weltenläufer entgegennahm, an die beiden anderer weiterreichte und eine Geste des Dankes für die Gastfreundschaft ausführte. Der Weltenwanderer verneigte sich kurz, gegenüber Ànathuriel ein wenig tiefer, und entfernte sich wieder.
„Wie soll es nun weitergehen?“ fragte Margil mit ungewöhnlich betretener Stimme.
Firondhir hielt seine Teeschale in der Hand und beobachtete den langsam aufsteigenden Dampf. Der süßlich-herbe Duft des Getränks verbreitete sich. Es war ein Symbol für die Ruhe und Einkehr des Hauses der Wanderer, des Ausruhens und der Erholung von den Reisen durch das Sternenmeer. Aber Ruhe vermochte keiner von ihnen zu empfinden.
Ànathuriel sah Firondhir an.
„Du willst zurück“, sagte sie. Firondhir nickte entschieden. Nichts, was sie nun sagen konnte, würde ihn davon abbringen.
„Wie stellst du dir das vor? Denkst du, ihr könnt alleine zurückgehen und es mit einem Rudel Mandraceilan aufnehmen? Einem offenen Kampf mit ihnen sind IstuKarun nicht gewachsen. Besser wäre es, ihr bliebet hier und würdet euch von der Reise erholen. Aber ich weiß, dies von euch zu verlangen, währe vergebliche Mühe.“
Firondhir schwieg. Die finstere Aura, die den Weltenwanderer umgab, war für Ànathuriel beinahe greifbar, und erschreckend. Sie durfte nicht zulassen, dass er sich ihr hingab. Auch sie selbst konnte die Vorstellung nicht verwinden, Ydrir seinem Schicksal zu überlassen. Aber für Firondhir befürchtete sie, dass er an diesem neuerlichen Verlust, für den er sich die Schuld gab, endgültig zerbrach.
„Dann werden wir Hilfe brauchen, alleine werden wir nichts ausrichten können", fuhr sie mit bitterer Bestimmtheit fort.
„Wir?“ fragte Margil erstaunt. „Heißt das, du willst mitkommen?“
Ànathuriel warf ihm einen Blick zu, nicht weniger entschlossen als Firondhirs. Firondhir wollte protestieren, doch wusste er, dass sie keinen Widerspruch mehr dulden würde. Ydrir bedeutete ihr nicht weniger als ihm selbst.
„Es wird nicht viel mehr helfen, wenn du dabei bist“, wand Margil ein, wohl wissend, dass es eigentlich ungehörig war, einer Runenleserin auf diese Weise zu widersprechen, zumindest in aller Öffentlichkeit. „Du hast selbst gesagt, du hättest nicht die Fähigkeit, dich heimlich irgendwo einzuschleichen. Und du kannst mir glaube, auch mit ihr hätten wir diesmal das Ziel beinahe nicht erreicht.“
„Das glaube ich dir ohne weiteres“, stimmte sie ihm ohne Aufregung zu. „Daher frage ich dich: wie oft wollt ihr das Geschick noch herausfordern. Zweimal die Dunkle Stadt herauszufordern und lebend davonzukommen, gleicht einem Wunder. Auf ein drittes Mal dürfen wir nicht hoffen.“
„Das müssen wir nicht“, warf Firondhir ein. Er stellte seine Trinkschale ab, griff in seine Tasche und hielt Ànathuriel das Dreieckige Amulett entgegen. Als sie es in die Hand nahm, begannen die filigranen Streben vor psionischer Energie zu knistern. Sie lachte auf. „Wo hast du das her?“
„Einem toten Kabalenkrieger abgenommen“, antwortete er kurz angebunden.
„Was hat es damit auf sich?“ wollte Margil wissen.
„Du hast so etwas noch nie gesehen?“, entgegnete Ànathuriel. „Einen Portalfokus?“ Margil schüttelte den Kopf. „Die Drukhari benutzen sie, um Öffnungen ins Wegenetz zu reißen, an jeder beliebigen Stelle.“ Der blonde Weltenwanderer verstand. Seine Mine hellte sich auf.
„Wir brauchen Hilfe, sagtest du“, setzte er an. Ehe er jedoch weitersprechen konnte, wandte Ànathuriel sich wieder an Firondhir.
„Ihr habt Ydril gefunden.“
Firondhir zog den Seelenstein hervor und reichte ihn der Seherin. Ànathuriel nahm ihn entgegen und umschloss ihn mit beiden Händen. Die glatte Oberfläche fühlte sich warm an. Ein sanftes Kribbeln breitete sich auf der Haut ihrer Handflächen aus. Sie konnte die Regungen der Seele im Inneren des Juwels wahrnehmen, erkannte, dass Ydril ihr etwas mitteilen wollte. Um ihn zu verstehen, reichten ihre Fähigkeiten nicht aus, doch sie konnte sich vorstellen, was sein Bewusstsein erregte.
Dann wandte sie sich wieder an ihre Freunde. „Uns bleibt nicht viel Zeit, wenn wir Ydrir bei klarem Verstand wiederhaben wollen.“
„Was schlägst du also vor?“ fragte Margil.
„Du begibst dich zum Schrein der Klingensterne“, antwortete die Runenleserin. Ein verstehendes Lächeln zeichnete sich auf dem Gesicht des blonden Weltenwanderers ab. Mit einer Geste der tatkräftigen Zustimmung sprang er auf.
„Und wir“, fuhr sie an Firondhir gewandt fort, während auch sie sich von ihren Plätzen erhoben, „suchen die Hallen der Stillen Wächter auf.“