Ad bestias [Roman] - Wie Ànathuriel das Raubtier zähmt (Kapitel 14)


  • Zitat

    Vor 10.000 Jahren zerfiel das Sternenreich der Aeldari an der Dekandenz seiner Bewohner. Nun leben die letzten verbliebenen Asuryani in gignatischen Weltenschiffen im All, geleitet von ihren Runenpropheten, die die Strömungen des Schicksals lesen.


    So sendet Eathalvaén von ZarAsuryan die Weltenwanderer Ullirayon und Firondhir zusammen mit drei weiteren Rangern aus nach Commorragh, die Stadt der Drukhari, ihrer Bösartigen Vettern, die auch nach dem Fall nicht von ihrer alten, hedonistischen Lebensweise ablassen.


    Doch die Mission scheint fehlgeschlagen, noch ehe die Gefährten herausgefunden haben, wen sie in der Dunklen Stadt suchen. Und die Krieger des Prinzen von DorchaKerun sind nicht die gefährlichsten Gegner, denen die Asuryani sich stellen müssen.

    Ad bestias


    Inhalt

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  • Kapitel 1

    Wahl



    Der scharfe Blick des Weltenwanderers durchmaß das Rund der Versammlungshalle. Die IstuKarun[1] hatten sich eingefunden, Ausgestoßene, die, der Pfade überdrüssig, ihr Weltenschiff verlassen hatten. Ob auch nur einer von ihnen sich hatte träumen lassen, was sie da draußen, in der ersehnten Freiheit des weiten Sternenmeeres, wirklich erwartete? Immerhin, bisher hatten sie überlebt, und sie waren zurückgekommen. Das machte sie zu den Besten unter ihresgleichen. Wenn ZarAsuryan rief, kehrten seine Weltenläufer heim.


    Mehrere hundert saßen auf den aufsteigenden Stufenrängen der Halle. Manche plauderten oder begrüßten lang nicht mehr gesehene Gefährten. Sicherlich prahlten auch einige mit ihren Abenteuern. Aber keine noch so fantasievoll ausgeschmückte Geschichte konnte heranreichen an die Fährnisse, die einen Wanderer tatsächlich auf dem Pfad des Ausgestoßenen erwarteten.


    Firondhir und Illurayon hatten wahrscheinlich schon mehr erlebt als all die jungen Aeldari hier zusammen. Aber die Reise, die ihnen jetzt bevorstand, sollte alles Bisherige in den Schatten stellen. Mehr allerdings wusste Firondhir auch nicht. AreIdainn[2] Eathalvaën hatte nichts mehr als vage Andeutungen gemacht, als er sie zu sich gebeten hatte. Die Zukunft des Weltenschiffes ZarAsuryan würde eine neue Wendung nehmen, zum Guten oder zum Schlechten. Das hinge nun von ihnen ab.


    Aber war es nicht immer so, wenn die Runenpropheten die Weltenläufer heimriefen und den Kriegsrat sich versammeln ließen? Allerdings, Autarchen und Exarchen waren hier und heute nicht anwesend. Und auch die anhaltende Spannung, die das Bewusstsein eines Weltenschiffes durchströmte, wenn der Avatar Kaela Mensha Khaines im Begriff war zu erwachen, war nicht zu spüren. Krieg stand nicht bevor. Nicht für die Bewohner des Weltenschiffes, nicht für die Aspektkrieger der Schreine der Asurya. Eine Aufgabe für die IstuKarun lag an. Heimliche Suche, stille Jagd.


    Illurayon war der Vorausschauendere von ihnen beiden, und mehr als das. Seit sie sich kannten, hatte er stets so etwas wie die Führungsrolle übernommen. Und wohl deshalb war er es nun auch, den Eathalvaën zu einem vertraulichen Gespräch zu sich gebeten hatte. Aber sein Freund hatte ihm noch nie etwas verheimlicht. Deshalb machte sich Firondhir darüber keine großen Sorgen.


    ***


    Eathalvaën wandelte über die verschlungenen Wege des weitläufigen Parks unter der Kuppel der Seher. Der regelmäßige Lichtwechsel in den Biodomen des Weltenschiffes hatte grade die Hälfte der Dunkelphase überschritten. Auf einem Planten hätte man die Zeit wohl Mitternacht genannt. Das Fehlen des Tageslichts erlaubte den Blick auf die Sterne, deren weiß glänzende Lichtspitzen die hauchdünne, klare Kristallhaut der Kuppel durchdrangen. In der tiefblauen Dämmerung hatten zahlreiche Nachtblumen ihre großen, goldenen und purpurroten Kelche geöffnet und verströmten einen schweren, angenehmen Duft. Nächtliche Falter, samtviolett und groß wie Singvögel, gaukelten von einer Blüte zur anderen. Heimchen zirpten leise ihr Nachtkonzert.


    Irgendwo hinter diesem Gemälde der Sinne war für den empfindsamen Geist ein sphärischer Klang zu vernehmen, eine lautlose, auf und abschwellende Melodie wie das Rauschen des Meeres. Ein Meer aus Sternen, das die weit verstreuten Inseln des Volkes der Aeldari trennte und zugleich miteinander verband. Nächte in den Gärten eines Weltenschiffes hatten ihre ganz eigene Magie.


    Neben dem Runenpropheten schritt schweigend eine Gestalt, selbst für einen Aeldari hochgewachsene und in einem langen, schwarzen Mantel gehüllt. So bedacht und kontrolliert waren seine Bewegungen, dass man ihn in der Dunkelheit erst auf den zweiten Blick wahrnahm.


    „Hörst du das Meeresrauschen?“ fragte Eathalvaën.


    „Es sind nur die sanften Wellen, die unsere Küsten umspielen“, antwortete der Weltenwanderer. „Die wilde See liegt woanders, und mögen sich ihre Wellen nie an unseren Mauern brechen. Ich habe mich schon lange nicht mehr so weit hinausbegeben.“


    „Das Sternenmeer wird diesmal nicht euer Weg und euer Ziel sein, Illurayon.“


    „Ihr wisst Eathalvaën, welchen Weg auch immer einzuschlagen Ihr mich bittet, ich werde ihn beschreiten.“


    „Diesmal wage ich nicht, dich zu bitten. Auch Firondhir nicht. Keinen von euch. Ich werde euch eröffnen, was die Runen mir eröffnet haben, und dann mag jeder selbst entscheiden, ob er bereit ist, an jenen Ort zu gehen, den kein Wesen betritt, ohne von seinen Bewohnern dorthin gezerrt worden zu sein.“


    Illurayon schwieg kurz. Diese rätselhafte Art zu sprechen, zeichnete Runenpropheten mitunter aus, mochte es nun sein, dass sie selbst den Runen keine klareren Begriffe hatten entlocken können, sei es, weil sie das, was sie gesehen hatten, nicht auszusprechen wagten.


    Doch Illurayon kannte den Ersten Runenpropheten von ZarAsuryan schon sein halbes Leben lang. Eathalvaën sprach offen, offener als es dem Rat der Seher zuweilen recht war. Wenn er solche Formulierungen gebrauchte, dann nicht, weil er das fürchtete, was er nicht beim Namen nennen wollte. Er fürchtete um den, zu dem er sprach. Eine leichte Beklemmung beschlich den Weltenwanderer, denn er wusste die dunkle Rede wohl zu deuten.


    „Eathalvaën, sprecht nicht in Rätseln zu mir, zumal ich einen Teil ohnehin schon erraten habe.“


    Der Runenprophet lächelte. „Deiner Gabe entzieht sich wenig, Illurayon. Deswegen fällt es mir umso schwerer, dich auszusenden, denn sie ist der vornehmliche Grund, dass du der Einzige bist, der diese Mission zum Erfolg führen kann.“


    „Was ich weiß und was ich kann, habt Ihr mich gelehrt, ArdIdainn[3]. Ihr sendet uns in das Reich der Drukhari, nach Commorragh.“


    Der Runenprophet hielt in seinen Schritten inne, wandte sich dem Weltenwanderer zu und sah ihn an. Illurayon schrak zurück vor dem Blick in seinen grüngrauen Augen. Zehntausend Jahre, die man Eathalvaën sonst nicht ansah, lagen auf seinem Gesicht. Aus dem Blick allein, ohne dass Eathalvaën ein Wort hätte sprechen müssen, wusste Illurayon, was ihm auf der Seele lastete: ‚Du wirst von dort nicht zurückkehren.‘


    Sein Inneres schnürte sich zusammen. Das Leben eines Weltenwanderers war niemals sicher. Er hatte sich dafür entschieden, in dem Augenblick, da er den Pfad der Aeldari verlassen hatte. Aber der Tod war ein Risiko, das man mit Geschick und Vorsicht meiden konnte. Und Firondhir und er, sie waren sehr gut darin – bisher.


    Eathalvaën richtete seinen Blick zu den Sternen auf. Wie oft in den letzten Jahrhunderten hatte er schon dem Jungen König diese Botschaft überbracht. Selten, im Vergleich zu anderen Weltenschiffen, und doch viel zu oft. Doch Illurayon war kein Exarch, der dafür lebte, sich selbst im Dienst des Kriegsgottes aufzugeben. Er hatte sich für die Freiheit des Sternenmeeres entschieden. Mit außergewöhnlicher psionischer Begabung gesegnet, doch nur wenige Schritte davon entfernt, sich in der ewigen Verdammnis zu verlieren, hatte Eathalvaën sich seiner angenommen. Auf dem Pfad des Sehers hatte auch er ihn nicht halten können, doch hatte er ihn gelehrt, seine Gabe unter Kontrolle zu halten. Wofür?


    „Ihr sagtet, Ihr würdet mich nicht bitten“, hörte er den Weltenwanderer sagen. Seine Stimme, wie vom anderen Ende des Universums hinüberdringend, war gefasst, doch ließ die Furcht in ihr sich nicht verbergen. „Aber es muss einen Grund geben, warum Ihr grade an mich herangetreten seid.“


    Eathalvaën sah ihn wieder an. „Ohne dich wird die Reise fehlgehen. Keine Vision, die ich je hatte, war klarer, gleich welche Pfade der Zukunft ich verfolgt habe.“


    Illurayon holte tief Luft. „Ihr wollt mich nicht bitten. Aber eine Wahl bleibt mir trotzdem nicht.“


    „Du kannst fortgehen“, entgegnete der Runenprophet.


    „Und nie mehr zurückkehren. Weil es nichts zum Zurückkehren geben wird. Eine Ewigkeit durch die Sterne zu wandern ohne eine Heimat, um beizeiten Ruhe zu finden. ArdIdainn, ich weiß, dass Euch nichts mehr bedeutet als das Weiterbestehen ZarAsuryans.“


    Eathalvaën sah einen Sekundenbruchteil zur Seite. „In einem irrst du.“


    Eine Weile gingen die beiden schweigend weiter, bis schließlich die gewaltige Kuppel der Halle der Seher sich bläulich schimmernd gegen den Sternenhimmel erhob.


    Bevor sie eintraten, blieb Eathalvaën noch einmal stehen.


    „Du fürchtest dich, Illurayon. Vor der Entscheidung, und vor den Folgen, die sie nach sich ziehen wird, gleich wofür du dich entschließt.“


    „Es besteht wirklich keine Möglichkeit, die Dinge in eine andere Richtung zu lenken?“


    Eathalvaën lachte leise. „Ich gebe zu, auch ich bin nicht allwissend und unfehlbar. Und zeigt sich auch nur die kleinste Hoffnung, so ergreife sie und halte sie fest. Vielleicht findest du einen Weg, den ich übersehen habe. Doch bitte ich dich: Wenn du die Tore der großen Halle durchschreitest, habe deine Entscheidung getroffen.“


    ***


    Firondhir sah auf. Ein hoher, schmaler Bogen ausgefüllt mit weißem Licht tat sich auf, als die ornamentverzierten Türflügel der Großen Halle sich langsam auseinanderschoben. Zwei dunkle Figuren lösten sich aus der Helligkeit.


    Illurayon trat ein, gefolgt vom Ersten Runenpropheten ZarAsuryans. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn beim Anblick seines Freundes, er konnte es nicht genau einordnen. Irgendetwas Bedrückendes war an ihm, an seiner Bewegung, auch wenn sein Gesicht so ruhig und gefasst wie immer war. Kaum bemerkte er, wie es um ihn her mit jedem Augenblick ruhiger wurde und sich immer mehr Augenpaare gespannt auf die Eintretenden richteten.


    Lautlos huschte Illurayon durch das dämmrige Dunkel zu den Rängen und setzte sich neben Firondhir. Der sah ihn erwartungsvoll an, doch Illurayon bedeutete ihm, nicht zu sprechen und wies in Richtung des Runenpropheten.


    Eathalvaën schritt durch den Saal, groß und aufrecht. Seine feingliedrige linke Hand umschloss seinen Runenstab, ruhend, kraftvoll trotz seines hohen Alters, eher, als hielte er eine Waffe denn eine Stütze. Er blieb in dem goldenen Lichtstrahl in der Mitte der Halle stehen. Der mitternachtsblaue Sehermantel fiel in schweren, samtenen Falten von seinen Schultern bis auf den Mosaikboden. Silberne Runen glänzten auf dem morgenhimmelblauen Kragen. Das silbergrau durchzogene Haar teilweise zu einem Knoten aufgesteckt, teilweise lang und offen über den Rücken fallend, die feinen, ebenmäßigen Gesichtszügen voll ruhigem Ernst, ließ er seinen Blick durch die Runde schweifen.


    „IstuKarun“, hob er an zu sprechen. Seine helle Stimme, wenngleich nicht übermäßig laut, erfüllte die gesamte Halle. „Angereist, heimgekehrt, dem Ruf gefolgt aus den entferntesten Weiten des Sternenmeeres. Nicht ohne Grund habe ich euch herkommen lassen.“


    Er konnte die ungeteilte Aufmerksamkeit aller seiner Zuhörer spüren: Neugier, Abenteuerlust, Aufregung, auch Sorge und Unsicherheit bei einigen, alle nur erdenklichen Farben von Gefühlen der Erwartung. Doch ein dunkler Flecken unheilvoller Gewissheit trübte das Bild wie die Leere eines schwarzen Sterns. Einen kurzen Moment schwieg er und versuchte, seinen Geist vor diesen Empfindungen zu verschließen, bevor er weitersprechen konnte.


    „Schon oft habt ihr euren Teil dazu beigetragen, Bedrohungen von ZarAsuryan abzuhalten. Wie oft habt ihr euch wohl wissend in größte Gefahren begeben, um ein dunkles Schicksal von ZarAsuryans abzuwenden?“


    Auch wenn Eathalvaën es im Halbdunkel der Halle kaum sehen konnte, so spürte er doch: Kein Gesicht, dass nicht von tiefstem Ernst, keine Seele, die nicht von höchster Entschlossenheit erfüllt war.


    „Nichts Geringeres trage ich in dieser Stunde an euch heran. Doch kann und will ich keinen von euch zu diesem Auftrag verpflichten.“


    Erstauntes Schweigen breitete sich aus. Für gewöhnlich bestimmten die Runenpropheten jene, die auf eine Mission ausgesandt wurden, bereits vorher. Auf geheimnisvolle Weise wussten sie, wen es brauchte, damit das Unternehmen erfolgreich verlief. Fragend blickte Firondhir Illurayon an. Doch sein Freund hatte nur die Augen niedergeschlagen und starrte ins Dunkel.


    Illurayon hatte seine Entscheidung bereits getroffen, als Eathalvaën ihm den Auftrag unterbreitet hatte. Wie hätte er seinem Meister seine Hilfe versagen können, welchen Preis sie ihm auch abverlangte. Er sorgte sich nicht um sich selbst. Er sorgte sich um seinen Freund. Wie der AreIdainn ihn auf dem Pfad der Seher angeleitet hatte, so hatte er den jungen Weltenläufer vor langer Zeit davor bewahrt, sich völlig auf dem Pfad der Ausgestoßenen zu verlieren. Seither waren sie unzertrennlich. Firondhir würde ihm nicht von der Seite weichen, ganz gleich was ihnen widerfahren würde. Doch dass er das Schicksal, das ihm bevorstand, teilen sollte, konnte und wollte Illurayon nicht zulassen.


    „Nichts Geringeres“, fuhr der Runenprophet fort, „sondern sehr viel mehr. Die entferntesten Orte und dunkelsten Winkel der Galaxis habt ihr aufgesucht. Chem-Pan-Sey[4] und Orkead[5], illMureead[6] und Necrons, selbst den Dienern des Großen Feindes habt ihr getrotzt. Doch diesmal führt der Weg dorthin, wo der Ort und seine Bewohner gleichermaßen und auf vielfältigste Weise gefährlich sind. Nicht hinaus in die Weiten der Galaxis führt er, sondern tief in die verschlungenen Labyrinthe des SercamBelach[7].“


    Ein Gemurmel ging durch die Ränge. Die ersten der Weltenläufer und Weltenwanderer begannen zu verstehen, wovon der Runenprophet sprach.


    Eathalvaën nickte langsam, während er wiederholt seinen Blick durch die Runde streifen ließ.


    „Die Dunkel Stadt soll euer Ziel sein. Und wir alle wissen, dass jene, die dort leben, obwohl von unserem Volk, uns fremder nicht sein könnten. Was sie einem Lebewesen gleich welcher Art anzutun vermögen, ist für uns nicht vorstellbar. Und gleichwohl ich von jedem von euch weiß, dass er bereit wäre, selbst die schwersten Prüfungen auf sich zu nehmen, so weiß ich doch ebenso, dass dies nicht die wahre Gefahr der Dunklen Stadt ist. Schlimmer als der Tod ist die ewige Verdammnis, die unseren Seelen dort droht, und der die Schwäche unserer Natur sich nur allzu gerne hingibt. Wir wissen, wer sich dort verliert, findet niemals den Weg zurück.“


    Der Saal war stumm geworden. Bedrückendes Schweigen erfüllte die Kuppel. Das Dämmerdunkel zog sich zu schwarzer, schwerer Finsternis zusammen.


    „Daher kann und werde ich niemanden von euch dazu bestimmen, diese Reise zu unternehmen. Die Runen haben die Entscheidung getroffen: Fünf IstuKarun gehen aus freiem Willen in die Dunkle Stadt. Keiner mehr. Keiner weniger."


    Eine lange Pause trat ein, als ob jeder erwartete, dass der einer oder der anderen etwas sagte, dass einer den Anfang machte.


    "Mir ist es bereits bestimmt zu gehen", erklang eine Stimme aus dem Dunklen. Einer der Weltenwanderer hatte sich erhoben und schaute in die Runde.


    Firondhir erschrak und schaute zu Illurayon auf. Langsam schritt sein Freund die Stufen hinunter und stellte sich neben den Runenpropheten in den Lichtkegel. „Wer geht mit mir?“ wandte er sich an die Anwesenden.


    Ehe er noch wusste, wie ihm geschah, war Firondhir aufgesprungen. Einen langen Augenblick stand er auf den Stufen, unschlüssig, was er eigentlich hatte tun wollen. Dann wurde ihm bewusst, dass er, dass etwas in ihm damit eine Entscheidung getroffen hatte, die er nicht mehr zurücknehmen konnte. Nicht vor dem AreIdainn, nicht vor den versammelten IstuKarun und nicht vor Illurayon. Diese Reise konnte er seinen Freund, dem er sein Leben verdankte, nicht alleine antreten lassen. Nicht nach allem, was sie seither erlebt und überstanden hatten, nach allem, was sie miteinander verband. Mit schweren Schritten stieg auch er hinunter und stellte sich neben Illurayon.


    Der Anfang war getan. Wenige Augenblicke später erhob sich der nächste Ranger, dann noch einer, zwei weitere.


    Irgendwo in den hinteren Rängen stand ein junger Mann, fast noch mehr ein Junge, mit schmalem, blassem Gesicht und fast durchsichtigen Augen auf und schickte sich an, die Stufen hinunterzusteigen. Sein Sitznachbar packte ihn am Arm.


    „Ydrir, was machst du? Das ist keine Aufgabe für uns!“ flüsterte er energisch.


    Der Angesprochen drehte sich zu ihm um und sah ihn an, als würde er durch ihn hindurch blicken. „Ich muss mitgehen“, sagte er mit einem Tonfall, als wäre dies das selbstverständlichste der Welt.


    „Rede keinen Unsinn. Das ist eine Aufgabe für Weltenwanderer, die weitaus erfahrener sind wir.“


    „Es ist besser, du bleibst. Aber ich gehe“, antwortete Ydrir, machte sich los und stieg die Stufen hinunter.


    „Als ob ich dich allein lassen würde“, fauchte der andere und folgte ihm.


    Am Ende standen ein gutes Dutzend Männer und Frauen im Rund der Halle.


    „Ich danke euch allen“, sprach Eathalvaën in die Runde. „Niemand derer, die nun nicht hier stehen, muss beschämt sein. Nur wer ein Wagnis einzugehen bereit ist, kann auf Erfolg hoffen. Wer es nicht ist, dient dem Unternehmen umso mehr, wenn er sich nicht beteiligt.“


    Dann wandte er sich an die Freiwilligen. „Fünf, nicht mehr, nicht weniger. Über zwei hat das Schicksal bereits entschieden.“ Er sah Illurayon und Firondhir an. Firondhir vernahm die Worte mit Unbehagen. „Über die drei weiteren wird nun das Los der Runen entscheiden müssen.“


    Der Runenprophet öffnete einen weißen Lederbeutel an seinem Gürtel und griff hinein. Als er die Hand öffnete, stiegen daraus drei filigran verzweigte Phantomkristall-Runen wie Leuchtkäfer empor. Goldgelbes Licht verströmend zogen sie ihre Kreise über der Gruppe und hielten schließlich jede eine nach der anderen schwebend über einem der IstuKarun an.


    „Die Wahl ist getroffen.“


    „Nein!“ fiel ihm einer der Weltenläufer ins Wort. Überraschtes, teils empörtes Gemurmel breitete sich in der Halle aus.


    Eathalvaën blieb ruhig und sah den Sprecher an. Es war ein junger Mann mit haselnussbraunen Haaren, die er zu einem Zopf hochgebunden hatte. Dicht neben ihm stand ein zweiter, etwas schmaler und feingliedriger von Gestalt, doch mit gleichen Gesichtszügen , die braunen Locken in kindlicher Haartracht kinnlang und nur das Haar über dem Scheitel am Hinterkopf zusammengebunden. Über ihm schwebte eine der Runen.


    „Nenne deinen Namen“, verlangte Eathalvaën.


    „Ydril“, antwortete der Ranger. „Und dies ist mein Bruder Ydrir. Er wird die Reise antreten, doch nicht ohne mich.“


    Der andere schaute betreten zu Boden.


    „Ydril, deine Sorge um deinen Bruder ehrt dich. Doch die Runen haben die Wahl getroffen“, entgegnete der Runenprophet.


    „Ich trete freiwillig zurück“, ließ sich eine andere Stimme vernehmen. Der junge Weltenläufer zuckte zusammen, als hätte er gefürchtet, dass jemand diese Worte aussprach. Sie kamen von einer blonden Frau, aus deren grauen Augen die Erfahrung vieler Jahre auf dem Pfad des Ausgestoßenen sprach. Die Rune über ihr glitt auf ihre Handfläche und folgte der Bewegung, als sie die geöffnete Hand Ydril entgegenstreckte. „Zwillinge zu trennen ist ein schlechtes Vorzeichen. Mein Tatendrang soll nicht der Grund sein, dass diese Mission fehlschlägt.“ Ydril nahm die Rune entgegen.


    Eathalvaën schien für einige Augenblicke weit entfernt zu sein. Dann nickte er. „So sei es denn. Möge deine Zurückhaltung nicht das herbeiführen, was du zu vermeiden versuchst.“


    „Ich danke dir“, sagte Ydril an die Frau gewandt.


    Der fünfte IstuKarun, der bisher am Boden gehockt hatte, erhob sich nun, so rasch, dass die schwebende Rune sich beinahe in seinen offenen blonden Locken verfing. „Hervorragend. Dann kann der Spaß ja beginnen.“

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    [1] Istu = leise, karun = Jäger

    [2] Are = geehrt, Idainn = Runenprophet

    [3] Ard = Meister

    [4] Menschen

    [5] Orks

    [6] Tyraniden

    [7] Das Netzt der Tausend Tore

  • Kapitel 2

    Quisar



    Unter der Klippe breitete sich eine weite, aber nicht sehr tiefe Schlucht aus. Ein kleiner Fluss legte gemächlich mäandernd seine blauen Schleifen am Grund, gesäumt von tropischen Gehölzen: Palmen, Orchideenbäume, Riesenfarne. Sie wechselten sich ab mit Schilf- und Grasflecken, in denen mit Lotos bedeckte Teiche glitzerten. Hin und wieder beschleunigte das Wasser, wenn es silbern glitzernd über einige Steine sprang. Die gegenüberliegende Wand aus rot schimmerndem Felsgestein war ebenso stufig und zerklüftete wie die diesseitige.


    Die Felsvorsprünge quollen über vor Büschen, Farnen und Ranken. Hängende Gärten, angelegt von der Natur. Schmale Wasserfälle ergossen sich in langen Kaskaden in das Tal. Darüber erhoben sich die Kronen majestätischer Baumriesen in den blauen Himmel. Nur nach Westen hin öffnete sich die Schlucht und gab den Blick auf weißen Sand frei, wo der Fluss in eine türkisen schimmernde Meeresbucht mündete. Den Duft der blühenden Bäume, das Rauschen des Wassers, die Stimmen einer Vielzahl exotischer Tiere und Vögel trug ein warmer Wind auf die Klippe hinauf.


    Mit einer gleichgültigen Handbewegung löste Quisar seinen Peiniger von Hals der Kreatur zu seinen Füßen. Humanoid, irgendwie. Zumindest hatte sie zwei Arme und zwei Beine und einen einzelnen Kopf, wenngleich der eher einer Amphibie ähnelte. Was auch immer es war, zu einer guten Jagdbeute hatte es nicht getaugt. Zu wenig wehrhaft, nicht schnell genug, um wegzulaufen, nicht einmal eine dekorative Trophäe gab das hässliche Ding ab. So etwas zu töten, bereitete keine Freude. Dabei hatten der lange Stab und der Schmuck aus Steinen und Federn, den das Wesen trug, auf eine Art Stammesführer hingedeutet. Sei’s drum. Seine Kabaliten hatten sicherlich einige Exemplare einsammeln können. Für das Vorprogramm in der Arena sollten sie genügen. Heute hatte er selbst zwar wenig Vergnügen an der Jagd gehabt, seine Tiere würden sie aber haben.


    Quisar befestigte seine Peitsche am Gürtel der Rüstung und machte sich an den Abstieg. Leichtfüßig sprang er von einem Vorsprung zum nächsten. Der Fels schien ihm den Gefallen zu tun, eine Art natürlich Treppe hinunter in die Schlucht zu bilden. Nur hin und wieder musste er sich unter dicken Wurzeln hindurchbücken, die aus der Wand ragten, oder allzu dicht überhängendes Gewächs zur Seite biegen. Selbst der Dschungel machte es ihm zu einfach. Was mochten die Asuryani[1] und die Sieri[2] nur an diesen verweichlichten Welten finden.


    Am Grund angekommen, folgte er dem Pfad zwischen mannshohen Farnen, Drachenbäume und Einblattpflanzen zurück zur Landezone, wo seine Truppe schon dabei sein mussten, die Beute dieses Jagdzuges zu verladen. Eher beiläufig bemerkte er eine leichte Bewegung im Unterholz, ein kurzes Wippen einiger Farnwedel. Er hielt inne und lauschte. Zu hören war nichts außer der Lautkulisse des Dschungels aus Insekten, Vögeln und dem Wind in den Blättern. Was die Bewegung verursacht hatte, war entweder ebenfalls stehen geblieben, hatte ihn vielleicht bemerkt und lauerte, oder konnte sich so lautlos bewegen, dass selbst sein sensibles, geübtes Gehör es nicht mehr wahrzunehmen vermochte. Was auch immer, es war es wert, dem nachzugehen. Quisar wandte sich vom Weg ab und verschwand zwischen den riesigen Blättern. Wenig Augenblicke später war er genauso spurlos verschwunden wie das, was er zu verfolgen gedachte.


    Im Dickicht wurde die Luft schwüler. Der Boden war dick und weich bedeckt mit abgefallenen Blättern. Quisar setzte einen Fuß vor den anderen, glitt geschmeidig zwischen brettartigen Baumstämmen, armdicken Luftwurzeln und Vorhängen aus Kletterpflanzen hindurch, ohne ein Blatt zu regen. Er hielt inne, schloss die Augen und lauschte. Der leise, anhaltende Chor aus Vogelstimmen und Insektensummen umgab ihn und verschmolz zu einem monotonen Rauschen.


    Da! Ein einzelner Laut stach aus dem Einklang heraus. Ein leises Schnarren, kaum lauter als die Umgebung, aber für das feine Gehör des Jägers doch genau zu unterscheiden. Quisar wandte sich in Richtung des Lautes und setzte seinen Weg fort.


    Nur wenige Schritte weiter wand sich eine gewaltige, dick mit hellgrünem Moos bedeckte Baumwurzel quer über den Pfad. Er trat näher und untersuchte die glatte, graubraune Rinde. Kratzspuren waren in das Holz geschlagen.


    ‚Vier Klauen an den Vorderbeinen, vier an den Hinterbeinen.‘ Quisar strich mit seinen langen, schlanken Fingern über die Spuren. ‚Schmal, nicht tief. Zehenspitzengänger, mittelgroß, leidlich guter Kletterer. Katzenähnlich vermutlich.‘


    Ein leichtes Gefühl der Enttäuschung macht sich breit. Ein gewöhnliches Raubtier. Davon hatte er schon hunderte, wenn nicht tausende erlegt. Ein schlichter Zeitvertreib. Er war schon dabei sich umzudrehen, um den Weg wieder zurückzugehen, als sein Blick noch einmal auf die Wurzel fiel. Halb unter einem Stück abstehender Rinde steckte etwas fest. Er zog es heraus.


    ‚Eine Feder?‘ Tief dunkelblau, rund und hornig wie eine Drachenschuppe. Welcher Vierbeiner hatte ein solch seltsames Federkleid?


    Nun war seine Neugierde doch wieder geweckt. Mit einem eleganten Satz zog er sich die Wurzel hinauf und verharrte. Direkt unter ihm war ein Hohlraum, gut unter breiten Blättern verborgen. Offenbar hatte das Tier hier sein Lager. Noch schien es ihn nicht bemerkt…


    Mit einem schrillen Schrei sprang die Kreatur auf ihn herab. Sie musste in einem gegenüberliegenden Baum gesessen haben. Quisar wich aus und stürzte rücklings von der Wurzel, rollte sich jedoch elegant ab und verharrte, ein Knie am Boden. Er richtete seinen Blick nach oben. Über ihm auf der Wurzel kauerte angriffsbereit das Tier. Es hatte einen vogelähnlichen Schnabel und stechend gelbe Augen. Den Kopf und den Hals bedeckten dunkelblaue, überlappende Schuppen, kaum als Federn zu erkennen. Der Körper glich dem einer schlanken, hochbeinigen Katze und war mit einem silbergrau schimmernden, glatten Fell bedeckt. Die Kreatur stellte die Halsfedern auf und fauchte drohend.


    ‚Keine Zähne, aber Klauen. Die Federschuppen schützen Kopf, Hals und Brust.‘ Quisar lächelte. Langsam richtete er sich auf, die Kreatur fest ins Auge gefasst, und löste den Peiniger von seinem Gürtel. Das Wesen schien unsicher, wie es sein Gegenüber einschätzen sollte. Es wiederholte seine Drohung, kam aber nicht näher. Quisar vollführte einen lockeren Peitschenschlag in Richtung des Tieres. Leise knisternd durchschnitt die Waffe die Luft. Die Kreatur hielt inne, immer noch unschlüssig. Dann, schneller als ein gewöhnliches Auge hätte folgen können, setzte es über den Eindringling hinweg. Doch Quisars Reflexe waren die eines Drukhari, von Natur aus schnell und durch Jahrhunderte des Trainings und des Kampfes verfeinert. Er duckte sich und ließ dabei seine Waffe in die Höhe schnellen. Der Peiniger streifte das Tier am Hinterlauf. Es schrie auf und landete mit Mühe auf dem tiefhängenden Ast eines nahen Baumes, das gelähmte Bein hinter sich herziehend.


    ‚Es greift nicht an, es flieht nicht. Warum?‘ Quisar kam ein Gedanke. Das Tier nicht aus den Augen lassend, näherte er sich rückwärtsgehend der Baumwurzel. Die Kreatur bemerkte seine Bewegung und stieß erneut eine Warnung aus. Klang diesmal eine Spur von Verzweiflung in dem Schrei mit? Quisar glaubte es zu spüren und es erfüllte ihn mit boshafter Freude. Das Tier wurde immer unruhiger, wippte auf dem Ast, wagte aber mit dem gelähmten Bein keinen weiteren Sprung. Ein, zwei Schritte noch, und Quisar war wieder bei der Wurzel angekommen. Noch einmal fixiert er das Tier, wie es in völliger Hilfslosigkeit ihm nur noch hinterherschreien konnte. Er wandte sich um, hatte mit einem Satz die Wurzel erklommen und war mit dem nächsten auf der anderen Seite hinuntergesprungen.


    Unter der Wurzel fand er den Hohlraum, eine ausgegrabene Mulde, auspolstert mit trockenen Blättern und Palmwedeln. Er begann das Pflanzenmaterial zur Seite zu schieben. Etwas glattes, rundes begann zum Vorschein zu kommen.


    Dann war das Tier wieder da. Kreischend sprang es von der Wurzel herab, knickte auf dem verletzten Bein ein, wirbelte dennoch herum und näherte sich humpelnd. Quisar drehte sich langsam um. Seine Position war ungünstig, unter der Wurzel war nicht genug Bewegungsfreiheit, um den Peiniger effektiv einzusetzen. Er hakte die Peitsche am Gürtel ein und griff langsam nach seinem langen Jagdmesser.


    „Du wirst hier keinen Sprung wagen“, sagte er an das Tier gewandt. „Wir wissen beide, warum.“


    Die Kreatur wippte vor ihm auf und ab, als hätte sie seine Worte verstanden. Unversehens schnellte der Drukhari nach vorne, das Messer vor sich. Das Tier versuchte auszuweichen, strauchelte jedoch mit seinem verwundeten Bein. Doch sofort war es wieder auf den Füßen und ging zum Angriff über. Quisar wich zurück und schwang das Messer nach dem Tier. Beim Ausweichen stolperte es erneut. Zwei, drei Mal wiederholte er das Spiel, dann wollte er es darauf ankommen lassen.


    Das Tier setze zum Sprung an. Quisar warf sich ihm entgegen. Die beiden prallten aufeinander und landeten auf der dichten Laubdecke des Waldbodens. Die Kreatur war oben auf. Es gelang ihr, den Drukhari mit den Vorderpfoten in den Boden zu drücken. Quisar lag halb auf der Seite. Das Messer war ihm aus der Hand geglitten und lag unter ihm. Das volle Gewicht der Vogelkatze drückte auf seine Brust. Dann schnellte der spitze Hakenschnabel nach vorne in Richtung seines Kopfes. Er hob den linken Arm und fing den Angriff ab. Der schwarzglänzende Panzer seiner Unterarmschiene knackte unter dem Biss, hielt aber stand.


    „Da musst du schon mehr aufbringen“, höhnte er.


    Als hätte es seine Worte verstanden, begann das Tier, ihn mit den Vorderpfoten zu bearbeiten. Quisar warf den Kopf zur Seite, um nicht eine unerwünschte Narbe im Gesicht davonzutragen. Die Klauen schrammten über die schwarzen Lamellen seines Brustpanzers. Das Adrenalin in seinem Blut versetze ihn in ein Hochgefühl.


    „So, genug davon.“


    Mit einiger Anstrengung drückte er den Kopf seines Gegners zurück. Gleichzeitig versetze er ihm einen Tritt gegen die Hinterbeine. Sofort knickte das Geschöpf zur Seite weg und zog Quisar mit sich, so dass er nun über ihm war. Bevor es wieder aufstehen konnte, war der Drukhari auf den Beinen und hatte den Peiniger in der Hand. Die bläulich schimmernde Peitsche sauste nieder und schlang sich um den gefiederten Hals. Das Tier kreischte ohrenbetäubend. Die Ströme bioelektrischer Energie ließen es sein Rückgrat fast bis zum Brechen krümmen, alle vier Läufe krampften sich in unnatürlichen Winkel an den Körper. Quisar löste die Waffe. Die Beute war bewegungsunfähig, schrie aber immer noch. Selbst bei diesem nicht intelligenten Geschöpf konnte Quisar den Schmerz und die Verzweiflung in den Lauten spüren. Es war geradezu berauschend. In gewisser Weise hatten diese wilden Kreaturen eine viel reinere, ursprünglichere Essenz als jedes denkende Lebewesen. Nur ein wahrer Nachkomme Kurnous wusste das zu schätzen.


    Er betrachtete das Tier noch einige Zeit, um sich an seinen Qualen zu erfreuen. Dann ging er ein paar Schritte, hob ohne Hast sein Messer auf und kehrte zu seiner Beute zurück. Inzwischen gab das Geschöpf nur noch ein wimmerndes Schnarren von sich. Er kniete nieder. Unbehelligt von den erstarrten Tatzen setzte er das Messer an, machte einen Schnitt entlang der Innenseite des rechten Vorderbeines und zog vorsichtig die Haut ab. Das Tier schrie aus vollem Hals, jedes Mal, wenn er das Prozedere an den anderen Gliedmaßen und am Schwanz wiederholte. Erst nach dem Schnitt, mit dem er das Fell entlang des Rumpfes zu lösen begann, verstummte es. Der gefiederte Kopf fiel leblos zur Seite.


    Mit leichter Enttäuschung erhob Quisar sich. Nun ärgerte es ihn, dass er sich von Sirqa kein Stimulanzmittel hatte geben lassen. Vielleicht hätte es damit noch etwas länger durchgehalten.


    Die gespenstische Stille wurde jäh unterbrochen von einem lauten Kreischen. Quisar drehte sich um. Es war nicht eine Stimme, es waren mehrere. Im nächsten Augenblick brachen vier weitere der Vogelkatzen aus dem Unterholz hervor, eines deutlich größer als das tote Tier, mit flammend roten Halsfedern und tiefschwarzem Fell, die anderen etwas kleiner, jedes die Federn und das Fell in einer anderen Farbe.


    „Rudeljäger also. Interessant.“ Er ging langsam rückwärts, bis er mit dem Rücken an die Wurzel stieß und nicht mehr weiterkonnte. Die Tiere zögerten nicht und gingen sofort auf den Eindringling los.


    Fast geräuschlos ging ein Hagelschauer aus kristallenen Splittergeschossen auf die Angreifer nieder. Noch im Sprung bohrten sie sich in den schwarzen Pelz des größten Tieres und ließen es mit einem dumpfen Aufprall zu Boden fallen. Die drei anderen wurden mitten im Lauf getroffen, strauchelten, stolperten übereinander und blieben reglos liegen. Als der Beschuss abebbte, näherte sich Quisar den Körpern und stieß dem schwarzroten den Fuß in die Seite. Es rührte sich nicht mehr. Das Gift der Kristallgeschosse hatte fast augenblicklich gewirkt.


    „Das Fell ist ruiniert“, sagte er. „Aber macht nichts“, fuhr er sich umwendend fort, „das silberne gefällt mir ohnehin besser.“


    Zehn seiner Fleischgeborenen traten aus dem Dickicht hervor, jeder mit einem goldverzierten Splitterkatapult bewaffnet. Der Sybarit reichte Quisar seinen blauvioletten Seidenumhang. Während er sich das Kleidungsstück anlegte, bahnte sich eine schlanke, hochgewachsene Frau ihren Weg durch das Unterholz, energisch die Blätter zur Seite schiebend. Ihr Haar, ebenso weißblond wie Quisars, hing als ein langer Zopf bis zum Boden, gehalten von einer goldenen Spange in Gestalt eines Schlangenkopfes. Sie hatte einige Mühe, sich damit nicht in den tiefhängenden Zweigen zu verfangen. Dennoch waren ihre Schritte elegant, fast schwebend, umspielt von einem Rock in der gleichen Farbe wie Quisars Mantel. Als sie vor ihm Stand, war es Quisar, als würde er in einen Spiegel sehen, der ihm sein eigenes Gesicht als weibliches zeigte: fein geschnitten, hohe Wangenknochen, elfenbeinblass, dunkelviolette Augen.


    Sie schaute kurz an ihm vorbei und lächelte kühl.


    „Du hattest deine Freude, wie ich sehe.“ Mit langen Fingern zupfte sie Laub aus seinen Haaren. Sein Haarknoten hatte sich zum Teil aufgelöst.


    „Leider mangelte es mir an Mitteln, sie zu verlängern“, entgegnete er.


    Sie wandte sich nach ihm um, während sie auf die toten Tiere zuschritt. „Du wolltest nichts haben.“ Sie ging in die Hocke und untersuchte den blutigen, halb gehäuteten Kadaver, zupfte eine der Federschuppen heraus und füllte Proben der Körperflüssigkeiten in gläserne Röhrchen ab. „Bedauerlich. Mich hätte interessiert, wie meine Kreationen bei solchen Lebewesen wirken.“


    „Ich hoffe, du kannst über die Missachtung deiner Künste hinwegsehen, liebste Schwester,“ entgegnete Quisar.


    Den Sarkasmus in seiner Stimme wohl zur Kenntnis nehmend, antwortete sie: „Nachsicht liegt nicht in meiner Natur.“


    „In meiner genauso wenig.“ Er folgte ihr zu dem halb gehäuteten Exemplar, nahm das Messer wieder auf und beendete die Arbeit. Auf einen Wink kam der Sybarit heran und nahm das abgezogene Fell entgegen. Dann stieß er die Klinge in den Kadaver und öffnete den Rumpf. „Das ist ein Weibchen“, stellte er fest.


    „Was wolltest du damit überhaupt?“ fragte Sirqa, während sie mit ihren eigenen, feinen Skalpell Stücke aus den Organen herausschnitt und in weitere Röhrchen verstaute. „Besonders spektakuläre Trophäen sind sie nicht.“


    „Sie wissen sich zu wehren, besonders als Rudel. Und schau hier.“


    Er glitt in die Höhle unter der Wurzel und legte frei, was er entdeckte hatte. Sechs große, bunt gesprenkelte Eier kamen unter dem Laub zum Vorschein.


    „Als hätten Kurnous Jagdfalken und Hunde sich in einem Geschöpf von großer Wildheit und Schnelligkeit vereint. Die passenden Begleiter für den Erben von DorchaKerun.“


    „Den designierten Erben, solange wir dafür Sorge tragen, dass das so bleibt.“ Ihr Blick fiel auf die tiefen Scharten in seiner Rüstung. „Und solange du nicht für ein paar neue Schoßtiere deine makellose Haut riskierst.“


    Eine kurze Aufwallung von Zorn kochte in Quisar hoch. Doch letztendlich war Sirqa das einzige lebende Wesen, das so mit ihm reden und danach noch hoffen durfte, weiterhin lebend zu sein. Er reichte ihr eines der Eier. Sie strich mit den Fingern über die glatte Oberfläche und zog verschlungene Linien in das Blut des Muttertieres, dass ihm von Quisars Händen anhaftete.


    „Und wer soll sich darum kümmern?“ fragte sie.


    „Da habe ich schon jemanden im Auge“, antwortete er.



    _________________________

    [1] Weltenschiff-Aeldari

    [2] Exoditen

  • Kapitel 3

    Ànathuriel



    Das Amphitheater des Hauses DorchaKerun war klein, vor allem im Vergleich zu den großen Arenen der namenhaften Hekatari-Kulte. Klein, aber sehr exklusiv. Eine eigene Arena zu unterhalten, war für eine Kabale ohnehin unüblich. Aber DorchaKerun war ein altes Adelshaus, und wenn das im heutigen Commorragh auch nicht mehr viel Bedeutung hatte, so legte der Hohe Archon doch großen Wert auf standesgemäße Unterhaltung. Seine Gäste sollten sich nicht mit dem einfachen Pöbel in den großen Vergnügungstempeln gemein machen. Komfortable Logen waren in die Fassade eines Nebenturms des Palastes eingearbeitet. Sie blickten hinunter auf den halbmondförmigen Kampfplatz, dessen Kulisse die terrassiert ansteigenden Anlagen des fürstlichen Gartens bildeten, alles überspannt von einer transparenten Energiekuppel, die das trübe Zweilicht Commorraghs in eine anhaltende, blaue Abenddämmerung verwandelte.


    Nur eine Handvoll der Logen war besetzt. Quisar hatte eine Auswahl seiner Günstlinge und Verbündeten eingeladen, zumeist Individuen, deren Anwesenheit sein Vater wenig schätzte: Anführer von Hellionbanden und Raubjägergangs, fremdartige Söldner, die Solarite einer Harpyienrotte.


    Unvermittelt wurde der Kampfplatz in ein grünliches Licht getaucht, das Licht des Jägermondes, des Wappens des Hauses DorchaKerun. Alle Gespräche, die unter den Gästen bis eben noch geführt wurden, verstummten. Eine runde Öffnung im Boden zog sich auseinander und eine Hebebühne beförderte eine massive Gestalt nach oben. Erst als sie völlig im grünen Licht stand, war sie zu erkennen. Ein Chem-Pan-Sey von gewaltiger Größe und Statur. Runde, metallische Implantate glänzten regelmäßig über den nackten Körper verteilt. Die helle Haut war mit Schmutz und getrocknetem Blut, schwarz im grünen Licht, verdreckt, die langen, gelblichen Haare verfilzt. Im halb geöffneten Mund waren kurze Reißzähne zu erkennen. Ein schimmerndes Stasisfeld hielt die Kreatur fest.


    Ausrufe des Entzückens waren aus den Logen zu hören. Losseainn[1] waren die mächtigsten Krieger, die dieses primitive Volk aufzubieten hatte. Die Gäste konnten sich auf einen brutalen Kampf freuen. Zufrieden lehnte Quisar sich in seinem Sessel zurück.


    Das Stasisfeld wurde deaktiviert. Der Krieger schlug die Augen auf, die Iris stechend gelb, und sah sich kurz um. Er gab ein dunkles Knurren von sich, dann drehte er sich um und rannte auf die zum Garten offene Rückseite des Kampfplatzes zu. In Sekundenschnelle wuchs eine verschlungene Dornenhecke aus schwarzem Metall etliche Meter empor und schloss die Fläche ein. Der Krieger bremste ab, kam aber nicht mehr rechtzeitig zum Stehen und prallte mit der Seite in die Hecke, die Arme schützen vor das Gesicht gehoben. Er trat zurück, sah die metallene Wand hinauf und brüllte lauthals. Blutfäden rannen aus den Einstichen an seinem Rücken. Dann drehte er sich zu den Logen um.


    „Du siehst, hier gibt es keinen Ausweg“, hallte Quisars Stimme süffisant über den Platz. „Wir würden eine offene Szene bevorzugen, also sei so gütig, und versuche das nicht noch einmal.“ Das Publikum belohnte seine Rede mit höhnischem Gelächter, wohl wissend, dass die geistlose Kreatur kein Wort verstanden haben konnte.


    Der Krieger stand unschlüssig da. Hinter ihm zog die Dornenhecke sich in den Boden zurück und gab wieder den Blick frei auf die mit exotischer Vegetation bepflanzten Terrassen. Dann öffnete sich in der Fassade unterhalb der Logen ein Tor. Rötlicher Lichtschein fiel auf den Platz. Ein Schatten zeichnete sich darin ab, dann zwei, dann weitere. Als sie in die Arena getreten waren, konnte auch die Zuschauer sie erkennen: Eine schlanke, muskulöse Frau in einem blauvioletten, enganliegenden Anzug, der viel Blick auf ihre elfenbeinfarbene Haut zuließ, nur der linke Busen, die Schulter, Unterm und das linke Beim mit leichten, schwarzglänzenden Panzerplatten bedeckt, an deren Kanten sich das Licht in Grün und Orange brach. Ein Cape aus blauen, schuppenförmigen Federn lag über ihren Schultern. Eine kunstvoll gearbeitete, vogelähnlichen Bronzemaske verbarg das Gesicht. Lange Haare wallten vielfach verflochtene von ihrem Scheitel. In der rechten Hand hielt sie einen Speer mit langer, geschwungener Spitze. Sie wurde begleitet von sechs vierbeinigen Tieren mit Köpfen wie Raubvögel, schuppengefiederten Hälsen, jedes in einer anderen Farbe, und unterschiedlichen Fellmustern. Ein Raunen ging durch die Zuschauer. Weibliche Bestienmeister waren ein ungewohnter Anblick, noch ungewohnter als der Gegner, der ihr bei diesem Schauspiel gegenüberstand. Noch außergewöhnlicher war, dass sie dabei die Farben der Kabale trug.


    Sie blieb stehen, die Tiere mit ihr. Das Licht wechselte. Grüne und weiße Lichtflecken begannen über den Kampfplatz zu tanzen, als bräche Sonnenlicht sich seinen Weg durch ein dichtes, windbewegte Blätterdach. Wann immer die weißen Flecken sie streiften, waren die Farben der Tiere zu erkenne. Rot und Gelb, Blau, Grün, Orange und Purpur waren ihre Halsfedern, die Felle in allen Schattierungen von Cremeweiß bis blauschwarz, gefleckt, gestreift oder einfarbig. Die Haare ihrer Herrin leuchteten purpurrot.


    Die Bestienmeisterin aktivierte ihren Energiespeer und richtete die von Blitzen umhüllte Spitze auf den Krieger. Die Tiere folgten dem Befehl und griffen an. Der Hüne stemmte die Füße in den Boden und hob die Armee zur Abwehr. Ohne Rüstung und Waffen, die seinesgleichen im Kampf zu tragen pflegte, hatte er den anstürmenden Jagdfalken nur seine Muskelkraft entgegenzusetzen, die allerdings erheblich war. Den ersten Ansturm schlug er mit Leichtigkeit zurück. Die Tiere landeten fauchend im Sand, rappelten sich aber sofort wieder auf und begannen knurrend ihre Beute zu umkreisen. Der Chem-Pan-Sey antwortet in der gleichen Sprache. Die Bestienmeisterin hielt sich im Hintergrund und beobachtete ihren Gegner genau.


    ‚Er wartet ab, er geht kein unnötiges Risiko ein.‘ Sie konzentrierte sich auf seine Bewegungen, auf seinen Gesichtsausdruck, wartete auf ein Anzeichen, wartet, dass ihre Intuition…


    „Arithav[2], Toneshav[3], amA‘ann aDarhathin[4]“, rief sie laut.


    Die beiden größten Tiere, das eine mit blauem Hals und schwarzem Fell, dass andere sandfarben mit roten Federn, lösten sich aus dem Rudel, sprangen zwischen die Beine des Kämpfers und attackierten seine Fersen mit ihren spitzen Schnäbeln, eben in dem Moment, als er vorstürmen wollte. Noch in der begonnenen Bewegung versuchte er, die Richtung zu ändern und den beiden auszuweichen, verlor dabei jedoch das Gleichgewicht und musste sich auf einem Knie abfangen. Die vier anderen Falkenhunde ergriffen die Gelegenheit, sprangen dem Riesen in den Rücken und schlugen ihre Schnäbel und Klauen in sein Fleisch. Brüllend bäumte er sich auf, griff hinter sich, bekam zwei der Tiere zu fassen, riss sie los und schleuderte sie von sich. Der Rote und der Blaue nutzen den Moment und warfen sich gegen die entblößte Brust des Gegners.


    Ein wohl choreografierter Reigen begann. Immer zwei der Jagfalken griffen an und zwangen ihren Gegner, bei der Abwehr eine andere Stelle seines Körpers den Schnäbeln und Klauen ihrer Artgenossen Preis zu geben. Mit der Zeit hing seine Haut an Beinen und Armen, Brust und Rücken mehr und mehr in blutigen Fetzen. Darunter kam ein schwarzes, offenbar künstliches Gewebe zum Vorschein. Doch der Krieger hielt immer noch stand.


    Die Bestienmeisterin schritt um den Kampf herum und behielt Tiere und Beute im Auge. In ihrem Rücken, hoch oben in den Logen, johlten die Zuschauer vor Begeisterung bei jedem Stück Fleisch, das die Falkenhunde dem Riesen vom Leib rissen. Doch sie nahm es nur am Rande wahr. So sehr konzentrierte sie sich auf die Tiere, dass sie deren Wahrnehmungen und Erregung bei der Jagd förmlich spüren konnte. Durch ihre Augen und Ohren nahm sie die subtilsten Reaktionen der Beute wahr, konnte ihre Bewegungen fast vorausahnen und leitete die Tiere zielgenau an die Schwachstellen des Kriegers.


    Gerade eben schickte er sich an, sein Gewicht auf das linke Bein zu verlagern, während am rechten bereits Fasern des Wadenmuskels herabhingen. Ein Gedanke genügte und im nächsten Moment schossen der grüne und der gelbe Falke heran und prallten mit voller Wucht gegen das linke Bein. Der Chem-Pan-Sey wurde niedergeworfen und landete auf dem Rücken. Die Bestienmeisterin lächelte unter ihre Maske und gab den Tieren das Zeichen, es zu beenden. In Sekundenschnelle hatte das Rudel sich gesammelt und fiel über seine Beute her.


    Doch dem Krieger war nicht entgangen, was sich abspielte, und er war noch lange nicht am Ende seiner Kräfte. Mit Händen und Füße wehrte er die Raubtiere ab, wälzte sich herum und war wieder auf den Füßen. Ohne sich weiter um die Tiere zu kümmern, stürzte er brüllend und mit gefletschten Zähnen auf die Drukhari-Frau zu, bereit, sie in Stücke zu reißen.


    Oben in der Fürstenloge betrachtete Quisar die Szene mit leichter Irritation. Er winkte den Zeremonienmeister des Theaters heran.


    „Gehört das zum Programm?“ fragte er.


    „Nein Herr, nicht dass ich wüste.“


    „Gut.“


    Überrascht sah die Bestienmeisterin die gewaltige Kreatur auf sich zu stürmen. Der Riese überragte sie um mehr als die Hälfte ihrer eigenen Körpergröße. Eine direkte Konfrontation würde sie nicht überleben. Sie sprang elegant zur Seite und schwang ihre Speer nach vorne. Doch der Krieger war trotz seiner Verletzungen beweglicher als seine massige Gestalt es vermuten ließ. Er wich dem Stich aus und setzte ihr nach. Sie versuchte, den Kontakt zu den Tieren wieder herzustellen. Die Falkenhunde waren immer noch im Jagdrausch, ohne ihre Führung aber nicht koordiniert genug, um die Beute wieder in Schach zu halten.


    Der Hüne trieb sie weiter, wich ihren Gegenangriffen aus und versuchte, sie zu fassen zu bekommen. Ohne es zu merken, näherte sie sich immer weiter dem Rande des Kampfplatzes. Im letzten Moment hielt die Bestienmeisterin inne, ehe die hervorschnellenden Dornenranken sie aufgespießt hätten. Laute der Verzückung hallten aus den Logen herab.


    Sie saß in der Falle. Die Falkenhunde jagten auf ihren Angreifer zu, würden ihn aber nicht mehr rechtzeitig erreichen, um ihn von ihr abzubringen. Seine gewaltige Pranke legte sich mit stahlhartem Griff um ihren Hals und hob sie an, um sie in die Dornen zu drücken. Ihre Kehle war zusammengepresst, sie bekam keine Luft mehr, spürte, wie sich das Blut in den Halsschlagadern staute, wie ihr zunehmend schwarz vor Augen wurde. Der Speer entglitt ihren Händen.


    Eine verzweifelte Eingebung kam in ihren Sinn. Es funktionierte bei Jagdfalken, dann muss es auch bei dieser Bestie funktionieren. Unter größter Anstrengung packte sie das Handgelenk, so dick, dass sie es mit beiden Händen kaum umfassen konnte, und konzentrierte sich mit allem, was ihr schwindendes Bewusstsein noch zuließ, auf die Muskeln und Sehnen, die sie unter der Haut spürte. Ihre Hände wurden steif und kalt. Die Kälte begann ihre Arme hochzukriechen, aber sie ließ nicht ab. Der eiserne Griff lockerte sich. Nun jedoch begann in ihrer Brust sich etwas zu verkrampfen, als wehrte es sich dagegen, aus ihr herausgerissen werden. Ein Schmerz fuhr in ihren Kopf, als hätte jemand ein glühendes Messer in ihre Schläfe gerammt und wollte mit ihm jede Nervenfaser ihres Gesichts herausreißen. Dann gab die Faust sie frei. Sie fiel zu Boden und Rang nach Luft. Der Riese taumelte zurück und sah sie fassungslos aus seinen gelben Augen an.


    „Xenos-Hexe,“ fauchte er und stürzte sich erneut auf sie. Doch die Bestienmeisterin ergriff ihrem Speer und schwang ihn nach oben. Knirschend drang die Waffe in den knöchernen Brustkorb des Kriegers ein. Sein Körper zuckte und krampfte unter den Energiestößen der Klinge. Mit einem lauten Schrei stieß sie noch einmal nach. Der Chem-Pan-Sey brach zusammen und blieb reglos liegen. Beifall grenzenloser Begeisterung überflutete den Kampfplatz.


    Die Bestienmeisterin setzte sich auf ihre Knie und atmete tief ein und aus. Die Schmerzen in Kopf und Brust ließen langsam nach, die Wärme kehrte in ihre Arme und Hände zurück. Mühevoll zwang sie sich aufzustehen, ein Fuß, dann der andere, gestützt auf den Speer. Auch als Siegerin durfte sie keine Schwäche zeigen. Sie verharrten einen Moment, nachdem es ihr gelungen war, aufrecht zu stehen. Dann trat sie zu dem gefallenen Krieger herüber, schnitt mit der Speerspitze das Symbol des Verdunkelten Mondes in einen übriggebliebenen Hautfleck auf seiner Brust und hob schließlich die Waffe zum Gruß in Richtung der Fürstenloge, während die Jagdfalken sich um sie sammelten. Jetzt erst nahm sie den Applaus wahr, der ihr entgegenbrandete. Doch sie war zu erschöpft, um darüber irgendeine Freude zu empfinden. Sie verneigte sich noch einmal kurz und schritt dann, umringt von dem Rudel, zurück zum Ausgang.


    ***


    Im rötlich beleuchteten Vorbereitungssaal im Untergeschoss des Theaters ließ sie sich auf eine marmorne Bank fallen und nahm ihre Maske ab. Die purpurroten Haare hingen ihr wirr in die Stirn. Sie schlug die Hände vors Gesicht und holte tief Luft.


    Was war da eben passiert?


    Zu einfachen Tieren konnte sie schon immer eine Verbindung herstellen. Sie war stolz auf dieses Talent, auch wenn sie sich nicht erklären konnte, wie sie es fertigbrachte. Die meisten Bestienmeister der Hekatari-Kulte hielten ihre Zöglinge mit Gewalt und Pheromonen unter Kontrolle. Sie hatte das nicht nötig, sie war besser. Aber nie hätte sie gedacht, dass das auch bei halbintelligenten Kreaturen wie einem Chem-Pan-Sey möglich war. Sie hatte die Kontrolle über seine Hand übernommen, gegen seinen eigenen Willen. Es war beängstigend. Die Schmerzen, das, was sie ausgelöst hatte, was auch immer es war, hätten sie töten können, das hatte sie mit jeder Faser ihres Körpers und ihres Geistes gespürt. Und auch jetzt, nachdem sie abgeklungen waren, hinterließen sie eine Art Echo, eine unerklärliche, tiefsitzende Furcht.


    „Ànathuriel, ich will dich beglückwünschen. Die Vorstellung war herausragend mitreißend. Meine Gäste waren begeistert.“


    Sie schaute auf. Quisar stand vor ihr, in seiner schwarzglänzenden Prunkrüstung, den blauviolett schimmernden Mantel mit dem silbergrauen Pelzbesatz über den Schultern.


    „Ich danke Euch für das Lob, mein Prinz“, entgegnete sie.


    „Warum so förmlich?“ er trat näher und streckte seine Hand aus. Ànathuriel nahm sie und erhob sich von der Bank. Er strich ihr die wirren Haare aus dem Gesicht.


    „Du bist wahrlich eine Bestienmeisterin, wenn du sogar die Losseainn der Chem-Pan-Sey deinem Willen unterwerfen kannst. Jeder fragt sich, woher diese Begabung kommt. Niemand anderem hätte ich meine Felchu besser anvertrauen können. Du hast sie perfekt ausgebildet.“


    Ànathuriel zog es vor, die Frage zu überhören und entgegnete: „Es sind hervorragende Tiere, Herr. Sie werden Euch gute Dienste leisten.“


    „Davon bin ich überzeugt. Deine Vorstellung heute hat mich auf eine gute Idee gebracht. Eine Arena ist eine kurzweilige Unterhaltung, eine Große Jagd ein einmaliges Erlebnis. Dieser Chem-Pan-Sey hat sich als robuster herausgestellt, als wir angenommen hatten. Ich will, dass du die Meute dafür trainierst. Einmal haben sie schon Blut gekostet, sie sollen es wieder bekommen.“


    „Es wird mir eine Freude sein, mein Prinz“, antwortete sie.


    „Das wird es“, stimmte Quisar zu, wandte sich um und ging.


    Am Treppenaufgang wartete Sirqa auf ihn.


    „Sie ist unter deiner Würde“, bemerkte sie trocken, während sie wieder zu den Logen hinaufstiegen.


    „Jede ist das, liebste Schwester“, entgegnete er. Er hielt inne, nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie. „Jede, außer dir.“


    Ànathuriel war schon wieder in Gedanken versunken. Sie hatte den Chem-Pan-Sey also nicht getötet. Zumindest nicht so weit, als dass die Haemonculi ihn nicht wiederherstellen konnten. Es schien, als hatte der Primitive eine Vorstellung davon gehabt, was sie mit ihm getan hatte. Wie hatte er sie genannt? „Xenos-Hexe.“ Was mochte das bedeuten?


    ________________________________________________________________________________________

    [1] Losse = Eisen, Ainn = Krieger

    [2] Arith: rot; av: männlich = der Rote

    [3] Tonesh: blau = der Blaue

    [4] Am-: markiert Befehlsform; A’ann: angreifen; a-: zu, nach; darhathin: das Bein

  • Kapitel 4

    Die Brücke



    Vier schattenhafte Gestalten kauerten auf einem Dachvorsprung eines der zahllosen monströsen Wohntürme am Rande des inneren Kerns von Commorragh. Wer nicht darauf achtete, hätte sie für irgendeine Art Zierfiguren am Bauwerk halten können. Unter ihnen breitete sich eine jener freitragenden Plattformen aus, in der mehrere Brücken und Stege zusammenliefen, die die einzelnen Türme miteinander verbanden wie im Astwerk von Bäumen aufgespannte Spinnennetze.


    Gegenüber ihrem Standort erhob sich die Palastfestung von DorchaKerun, der Kabale des Verdunkelten Mondes, gegen das trübe Zwielicht der Schwarzen Sonnen. Der gewaltige Hauptturm glich einem versteinerten Schachtelhalm aus dunkelgrünem, von schwarzen Adern durchzogenem Marmor, der seine Ringe aus erstarrten, fadenähnlichen Blättern in regelmäßigen Abständen vom Stängel fortstreckte. Die Spitze krönte eine zapfenartige, mattgoldene Kuppel. Eine Anzahl von kleineren Nebengebäuden ragte wie Seitentriebe aus dem massiven Sockel, der sich irgendwo im Dunst der Straßenschluchten tief unter ihnen, verlor.


    Margil kam von seinem Erkundungsgang zurück. Er schlug die schwarze Kapuze zurück und strich sich die blonden Haare aus dem Gesicht.


    „Auf der Rückseite sind die umliegenden Gebäude näher, aber keines so nah, dass man von dort hinüberkönnte. Verbindungen gibt es nur zwischen dem Hauptturm und den Nebentürmen, Fenster erst in einer Höhe, die wir von hier aus nicht erreichen können. Das Tor ist der einzige Eingang. So kommen wir dort nicht hinein.“


    „Und du bist wirklich sicher, dass dies der richtige Ort ist?“ wollte Ydril von Illurayon wissen.


    „Ja“, antwortet der. „Der Turm des Grünen Mondes. Keine andere Kabale in Commorragh führt das Symbol Kurnous‘ als Banner.“


    „Und weiter unten?“ wandte Firondhir sich an Margil.


    Der zuckte die Schultern. „Du kannst ja auf den Grund steigen. Wenn du nur halb so viele Geschichten wie ich gehört hast über das, was sich dort herumtreibt, würdest du die Frage nicht stellen.“


    Firondhir reagierte leicht gereizt. „Was du nur gehört hast, habe ich möglicherweise schon gesehen.“


    „Wir werden es uns ansehen“, entschied Illurayon. „Mit Glück müssen wir überhaupt nicht bis nach ganz unten. Aber seid vorsichtig. Margil hat nicht ganz unrecht. Der Schatten, unser Verbündeter in der äußeren Welt, kann hier unser tödlicher Feind werden.“


    Sie machten sich an den Abstieg. Die mit Zierbögen, Erkern und überhängenden Dächern überladene Fassade des Gebäudes machte es ihnen leicht. Nach kurzer Zeit hatte sie eine Brücke erreicht, die auf die Plattform hinunterführte. Auf den Stegen herrschte reger Verkehr. Niederes Fußvolk der Kabalen ging seinen Geschäften nach, Drukhari in dornenstarrenden Rüstungen oder wallenden Gewändern, fremdweltliche Söldner mit schuppen- oder fellbedeckten, tierähnlichen Gesichtern, vereinzelt sogar Incubi in ihren imposanten Plattenharnischen und hohen, gehörnten Helmen. Wo immer sie auftauchten, hielten die übrigen Passanten respektvoll Abstand. Die fünf Weltenläufer zogen ihre Kapuzen über und mischten sich in die Menge.


    Der Platz reichte nicht bis an die Mauern des Festungsturmes heran. Eine weite Kluft trennte den Platz von dem Gebäude. Eine Brücke breit wie eine Prachtstraße, gesäumt von Standbildern in Kampf- und Siegesposen, führte auf das Tor zu. Am Geländer der Plattform, einige Dutzend Schritte vom Zugang entfernt, trafen die Gefährten wieder zusammen und betrachteten die Szenerie.


    Die gewaltigen Ausmaße des Palastes wurden erst hier, auf Höhe des Haupttores, wirklich deutlich. Er hatte den Umfang einer kleinen Stadt, umgeben von mehreren, die vorderen jeweils überragenden Mauerringen, zusammengesetzt aus abertausenden sechseckigen Stelen aus stahlgrauem, metallisch schimmerndem Gestein . Mehrere Dutzend Kabalenkrieger in schwarz glänzenden Rüstungen, golden ornamentiert, mit Helmbüschen wie aus dünnem Kupferdraht und himmelblauen Seidenschärpen patrouillierten auf dem Übergang. In den Händen hielten sie schwarz und golden polierte Splittergewehre.


    Das Tor hatte eine leicht elliptische, spitz zulaufende Form, eine Höhe von mehreren Stockwerken und war von einem Rahmen aus nach außen gebogenen Dornen aus glänzend schwarzem Metall eingefasst. In die bronzeglänzenden Torflügel waren verschlungene Muster aus Tieren und Drukhari eingearbeitet, die sich in grauenvolle Kämpfe umeinanderwanden. Über allem thronte ein verzerrtes Abbild des Jagdgottes, mit wildem Haar, geweihtragend, in einen Harnisch aus blutigen Häuten und Knochen gehüllt, die Mondsichel als Bogen in den Händen und willkürlich auf alles zielend, was sich unter seinen Füßen regte. Je länger man hinsah, je mehr Details man entdeckte, um so grässlicher wurden die Szenen.


    „Eine klare Ansage“, stellte Margil fest.


    Ydril lehnte sich derweil über das Geländer. „Schaut“, rief er.


    Etliche Meter unter ihnen, aber noch deutlich oberhalb des grünlichen Dunstes, ragte eine lange Brücke durch die Leere und mündete auf einen Balkon vor einer hohen, doppelflügeligen Tür im Sockel der Palastfestung. Wachen waren keine zu sehen.


    „Lasst uns das in Augenschein nehmen“, sagte Illurayon.


    ***


    Die Brücke war grade so breit, dass drei, vielleicht vier Aeldari nebeneinander darauf gehen konnten. Sie entsprang dem Schatten zwischen den Fundamenten zweier naher Gebäude und wand sich in mehreren Biegungen dem Unterbau der Kabalenfestung zu. Eigentlich war es mehr eine schwebende Straße denn eine Brücke, an der Unterseite mit Querrippen verstärkt, wie das schwarz versteinerte, umgedrehte Skelett einer gigantischen Riesenschlange. Die Enden der Rippen bildeten eine einfache Brüstung ohne Handlauf. Sich daran anzulehnen war offensichtlich nicht der Zweck. Die Lauffläche bestand aus einzeln befestigten, rechteckigen Schieferplatten. Kreuz und quer gespannte Ketten, die unter dem verästelten Tragwerk des großen Platzes befestigt waren, hielten die Brücke an ihrem Platz.


    Die Weltenläufer glitten über die Kante der Plattform, schwangen sich in die Tragkonstruktion und kletterten dem hängenden Steg entgegen. Auf den tiefsten der geschwungenen Träger bezogen sie Position. Ein leichter, warmer Wind zog durch das Geäst aus Stein und Metall und brachte einen Geruch von Fäulnis mit sich. Bis auf wenige Geräusche, die vom Platz weiter oben hier herunter drangen, war es gespenstisch still. Der grüne Nebel in der Tiefe waberte wie ein träger Strom vor sich hin.


    Prüfend besah Illurayon sich die Umgebung. Die Brücke war zu erreichen, wann man sich an den Ketten hinabließ. Die Kettenglieder waren weit genug, um Händen und Füßen spielend Halt zu geben, keine große Herausforderung für irgendeinen von ihnen. Und wie dann weiter? Das untere Tor war tatsächlich unbewacht. Aber es war verschlossen. Hoch, kaum breiter als die Straße, rechteckig und glatt lag es in einer breiten Spalte, die zwischen den sechseckigen Steinsäulen auseinanderklaffte. Die Säulen standen dicht zusammen wie aneinandergewachsen. Auch hier war keine Möglichkeit außer dem Tor erkennbar, um in das Gebäude zu gelangen.


    „Dieser Pfad ist aus Knochen und Blut gebaut.“ Ydrir hatte gesprochen, und in seiner Stimme lag etwas unnatürlich Düsteres.


    Illurayon sah noch einmal hin. Außer der Skeletform ihres Tragwerks, das aus schwarzem Metall zu bestehen schien, konnte er nichts erkennen, was Ydrir hätte meinen können. Aber jetzt spürte auch er ein unbestimmtes Grauen, dass von dem Anblick ausging.


    Es regte sich etwas. Die Türflügel schwangen langsam auf. Ein schwacher, rötlicher Lichtschein drang aus dem Inneren heraus. Ein Trupp Krieger in schwarz glänzenden Plattenrüstungen kam hervor, ähnlich wie die Wachen am Haupttor, doch weniger zierreich. Illurayon signalisierte den anderen, sich nicht zu rühren.


    Vom anderen Ende der Hängebrücke drangen unterdrückte Stimmen zu ihnen herauf, wenige Ausrufe, nicht laut, aber erfüllt von Furcht, Schmerz und Verzweiflung. Zwischen den Gebäuden auf der anderen Seite tauchten zuerst einige weitere Kabalenkrieger auf, jedoch in anderen Farben. Ihnen folgte eine Gruppe verschiedenster Lebewesen: etliche Aeldari, die meisten aber Chem-Pan-Sey, die übrigen Angehörige aller möglichen weiteren Völker der Galaxis. Es mussten einige Hundert sein, hagere Gesichter, eingefallene Wangen und trübe Augen, zerschundene Gliedmaßen, in Lumpen gehüllt. Hinter ihnen gingen weitere Krieger, insgesamt aber nicht mehr als ein halbes Dutzend. Die Gefangenen trotten monoton die Brücke entlang. Außer dem Schlurfen und Tappen der nackten Füße, dem Knarzen der Rippenkonstruktion und dem sanften Klirren der tragenden Ketten war nur selten mehr als unterdrücktes Wimmern aus dem gespenstischen Zug zu hören.


    Nach einigen Minuten hatte der Tross das Tor erreicht, gerade in dem Moment, als die Torflügel ganz aufgeschwungen waren. Die Krieger von DorchaKerun nahmen die Gefangenen in Empfang. Die fremden Krieger standen mit erhobenen Waffe Spalier, doch keiner folgte in die Festung. Noch bevor der letzte Gefangene im trüben Rot verschwunden war, begannen die Türflügel sich wieder zu schließen und fielen unmittelbar hinter dem letzten donnernd ins Schloss, so dass das Geäst, in dem die Weltenläufer saßen, unter ihren Füßen vibrierte. Die fremden Krieger wandten sich um in gingen den Weg über die Brücke zurück.


    Die Gefährten warteten noch einige Augenblicke, ehe sie sich wieder rührten.


    „Jetzt verstehe ich, was du meintest, Ydrir“, sagte Illurayon dunkel.


    „Habt ihr ihre Augen gesehen?“ fragte Ydrir. „Diese Geschöpfe waren bereits tot.“


    Sein Bruder schüttelte ungläubig den Kopf. „Sie waren viel mehr als ihre Bewacher. Und trotzdem taten sie nichts. Was kann einem Lebewesen mit Bewusstsein so vollständig den Willen nehmen?“


    „Die Drukhari können es“, antwortete Margil, „und wie möchtest du nicht wissen.“


    „Sie kennen tausend Wege“, ergänzte Firondhir. „Manche dieser Sklaven werden nach ihrem Dienst in ihre Unterkunft zurückgebracht werden. Andere kommen aus diesem Tor nie mehr hervor. Es heißt, manche der Drukhari-Fürsten seien so alt, dass sie noch den Fall miterlebt haben. Um ihr Leben zu verlängern und sich zu schützen vor Ihr, die Dürstet, nähren sie sich am Leid und an den Seelen andere Lebewesen, zu Hunderten, jeden Tag.“


    „Es waren Aeldari unter den Gefangenen“, stellte Ydrir mit stockender Stimme fest.


    „Sie machen keinen Unterschied zwischen ihresgleichen und anderen“, antwortete Firondhir.


    „Und einen von ihnen sollen wir überreden, uns nach ZarAsuryan zu begleiten“, warf Margil spöttisch ein. „Wenn wir es erstmal schaffen, da reinzukommen“, fügte er an Illurayon gewandt hinzu.


    Vor sich hin sinnend hatte Illurayon die Straße betrachtet, doch als Margil ihn ansprach, blickte er auf.


    „Das ist der Weg, über den wir hineingelangen. Es werden mehr Sklaven kommen, schon in Kürze, daran besteht kein Zweifel. Wir verbergen uns unter dem Steg. Wenn der Zug vorbeikommt, tauchen wir in der Masse unter. Im Inneren werden sich Gelegenheiten finden, zu verschwinden. Darin sind wir IstuKarun Meister.“


    Ein Moment des Schweigens breitete sich aus, als würde jeder für sich prüfen, ob er Illurayon zustimmen konnte.


    „Ich halte das für keinen guten Einfall“, ließ sich Ydrir leise vernehmen, mehr als hätte er zu sich selbst gesprochen.


    „Ich auch nicht“, stimmte Margil zu. „Aber hast du einen anderen Vorschlag?“


    „Nein“, räumte er ein. „Aber das meine ich nicht. Es wird nicht gelingen, ich weiß es.“


    „Und woher nimmst du dieses Wissen? Ich sehe keine Runen bei dir“, entgegnete Margil.


    Ydril sprang seinem Bruder zur Seite. „Ydrirs Intuition kannst du getrost vertrauen. Sie hat uns bisher nie fehlgeleitet.“


    „Ich vertraue dir, Ydrir“, ging Illurayon dazwischen. „Aber ich sehe keinen anderen Weg. Kannst du mir irgendetwas sagen, was uns helfen könnte?“


    Ydrir senkte verneinend den Kopf. Margil schnaubte verächtlich, doch ehe er etwas sagen konnte, sah Firondhir ihn scharf an: „Immerhin hat er den Mund auf gemacht, eher als du.“


    „Keine Uneinigkeit jetzt“, befahl Illurayon. „Das können wir uns nicht leisten. Auf geht’s.“


    Die fünf Weltenläufer hangelten sich die Ketten hinab, kletterten unter den Laufweg, ließen sich auf den Rippenbögen nieder und warteten.


    ***


    Es mochten einige Stunden vergangen sein, Firondhir war leicht eingenickt, als eine Erschütterung ihn unsanft aufschreckte. Die Brücke vibrierte unter ihm. Die anderen Weltenläufer waren bereits in Habachthaltung. Margil spähte über den Rand. Eben zog er den Kopf wieder zurück. Mit Handzeichen bedeutete er, was er gesehen hatte: ein Trupp Sklaven, ähnlich groß wie der erste, weniger Wachen. Hinter sich hörten sie das Knarren der sich öffnenden Torflügel. Sie gingen in Position.


    Es dauerte noch einige Minuten, dann zeigten die Vibrationen der Brücke an, dass sich der Zug unmittelbar vor ihnen befand. Illurayon hob die Hand, wartete ab – und gab das Zeichen. Einer nach dem anderen zog sie sich die Kante des Steges hoch und glitt wie ein Schatten zwischen die dahintrottenden Sklaven. Diese reagierten kaum, ließen sich widerstandslos zur Seite schieben und schlurften einfach weiter. Die Weltenläufer senkten die Köpfe unter ihren Kapuzen und bewegten sich lautlos mit der Masse.


    Nun erst wurde sie vollständig gewahr, welche Fesseln diese Unglücklichen tatsächlich festhielten. Ihre Apathie war beinahe greifbar, wie ein dunkles, schweres Tuch, das sich über sie legte und jede freie Regung des Körpers oder des Geistes niederdrückte. In ihrer Existenz gab es keinen Anlass, irgendetwas anderes zu tun oder auch nur zu denken als das, was man ihnen befahl. Ydrir hatte recht, dies waren keine lebenden Wesen mehr. Es verlangte den fünf Aeldari einiges an Willenskraft ab, sich nicht von der sie umgebenden Trostlosigkeit überfluten und mitziehen zu lassen.


    Nur noch wenige Dutzend Schritte, dann hatten sie das Tor erreicht.


    Plötzlich geriet der Zug ins Stocken. Die Körper drängten enger zusammen, doch keiner machte einen Laut. Die Sklaven an der Spitze waren schon kurz davor, im Gebäude zu verschwinden, als sie stehen blieben. Energische Wortwechsel von unmittelbar vor dem Eingang drangen zu den Weltenläufern hinüber. Firondhir war ihnen am nächsten.


    „Uns interessiert nicht, was der Hohe Archon sagt“, schnarrte eine hohe Stimme. „Wir haben eine Abmachung mit seinem Sohn, und wir sind hier, um unseren versprochenen Preis abzuholen.“


    Firondhir konnte den Sprecher sehen. Der Anblick war schauderhaft und prächtig zugleich. Hoch aufgerichtet vor den Kabalenkriegern stand ein Geschöpf in bronzen glänzender Rüstung, mit deutlichen weiblichen Formen, vogelähnlicher Gesichtszügen und wallenden, schneeweißen Haaren. Sie war barfüßig, der Mittelfuß länger als gewöhnlich, so dass sie auf den klauenbewehrten Zehenspitzen stand, die Knie leicht eingeknickt. Aus ihren Schultern entsprangen ein Paar blauschwarz befiederter Flügel, die sie hoch über ihrem Kopf halb aufgefaltet hatte. In der Hand hielt sie eine lange Lanze, um deren gezackte Spitze hellblau gleißende Energieblitze tanzten. Weitere ihresgleichen hingen an der Fassade oder kauerten auf kleinsten Vorsprüngen, jeder mit einem kurzen Splitterkarabiner gewaffnet.


    Die Harpyie richtete sich zu voller Größe auf und breitete die Flügel vollständig aus. Sie überragte die Kabaliten um mehr als eine Armlänge.


    „Als Ersatz können wir auch euch mitnehmen, wir sind nicht wählerisch“, fauchte sie.


    Die anderen legten ihre Waffen an. Der Krieger wich einen Schritt zurück. Er zögerte kurz, dann machten er eine abwinkende Handbewegung. Die anderen Harpyien glitten heran und landeten auf der Brüstung, wie Vögel auf den spitzen Enden der Rippenbögen balancierend. Nun kam Bewegung in die Menge. Einige der Unglücklichen schienen doch noch einen Rest Selbsterhaltungstrieb zu besitzen, der sich nun im Angesicht der geflügelten Schreckensgestalten regte. Sie drängten sich zu kleinen Trupps zusammen wie eine Schafherde, als könnten sie damit abwenden, dass die raubvogelhaften Drukhari einen einzelnen von ihnen herausgreifen würden.


    Firondhir wurde nervös. Illurayon war nur wenige Schritte hinter ihm, die drei anderen noch ein gutes Stück zurück. Er bedeutete ihnen nicht näher zu kommen, begann selbst, sich langsam zurückzuziehen und versucht dabei, sich den Rändern der Brücke zu nähern, um wieder in der Unterkonstruktion zu verschwinden.


    Dann stieß sich die erste Harpyie mit ausladenden Flügelschlägen ab, ergriff einen der Sklaven und erhob sich mit ihrer Beute in die Lüfte. Die anderen taten es ihr gleich. Panik brach aus. Die unterschiedlichen Wesen drängten jammernd in alle Richtungen. Firondhir wurde niedergeworfen.


    Weiter hinten ertönte ein Schrei. Eine der Harpyien hatte Ydrir ergriffen. Sofort war Margil bei ihm und hielt ihn fest. Ydril zog seine Shurikenpistole aus dem Halfter und feuerte auf das Unwesen. Die Klingenscheiben prallten an der bronzenen Rüstung ab oder blieben in den Platten stecken. Verwünschungen aussprechend, drängte er sich durch die Massen, Sklaven zur Seite stoßend, und umklammerte die Beine seines Bruders. Margil zog ein kurzes Wurfmesser unter seinem Mantel hervor und rammte es der Harpyie zwischen die Panzerplatten am Oberschenkel. Das Scheusal stieß einen Schrei wie ein Raubvogel aus, ließ von seine Beute ab und schwang sich in die Höhe. Die drei Aeldari fielen zu Boden. Ydril rutschte über die Kante und hielt sich an einer der Rippen fest. Die Harpyie, inzwischen wieder gefasst, stieß auf ihn nieder.


    Doch sie kam nicht weit. Ohne Vorwarnung fuhr eine gleißende Klinge durch ihren linken Flügel und durchtrennte ihn sauber am Mittelgelenk. Vor Wut und Schmerz schreiend stürzte sie ab und verschwand im grünen Dunst. Heulend sauste ein Antigravgleiter über die Brücke hinweg. Der Hellion darauf johlte, schwang triumphieren seine Gleve und hielt seine schwarz gefiederte Trophäe in die Höhe.


    „Runter hier!“ rief Margil, packte den wie betäubten Ydrir und arbeitet sich durch die panische Menge zur Kante vor. Dabei erhaschte er einen Blick auf die Umgebung.


    Der Luftraum um die Brücke herum war zu einem Schlachtfeld geworden. Mehrere Dutzend Hellions raste auf ihren mit bunten Mustern verzierten Antigravgleitern in halsbrecherischen Manövern umher und lieferten sich wilde Verfolgungsjagden mit den Harpyien. Diese verteidigten sich mit ihren Splitterkarabinern, deren Geschosshagel ihre Gegner von ihren Boards fegten. Die Hellions hingegen ließen ihre Gleven willkürlich auf jedes Ziel niedersausen, das in ihre Reichweite kam, seien es Harpyien oder die Sklaven auf der Brücke.


    Das wiederum rief die Wachen auf den Plan, die nicht dulden konnten, dass der Besitz ihres Herrn zerstört und geplündert wurde. Sie nahmen die Hellions mit ihren Splittergewehren unter Feuer, hatten aber kaum eine Chance, die dahinrasenden Ganger überhaupt zu treffen. Sklaven, die in dem Aufruhr nicht von den Kämpfenden verstümmelt oder in Stücke gehauen wurden, wurden niedergetrampelt oder stürzten zwischen den Rippen der Brüstung in die Tiefe.


    Margil gelang es, Ydrir bis zum Mittelstrang unterhalb der Brücke zu hieven, an dem die Stützrippen wie an einer Wirbelsäule aufgereiht waren. Im inneren des Trageskeletts und verborgen unter seinem Tarnmantel war er vorerst sicher.


    „Blieb hier und lass nicht los“, befahl er dem Jungen eindringlich.


    Dann arbeitete er sich von einer Rippe zur nächsten zu Ydril vor, der nicht weit entfernt die Arme um einen der Bögen geschlungen hatte und sich mühte, die Beine hochzuschwingen, um auch mit den Füßen Halt zu finden. Nur noch eine Armlänge, dann würde Margil ihn erreicht haben.


    Von irgendwo her kam ein Hellion herangesaust, jagte mit fast senkrecht gekipptem Board über sie hinweg und hieb dabei seine Gleve durch den Rücken des hilflosen Weltenläufers. Ydril stieß einen dumpfen Schrei aus. Seine Arme verloren ihre Kraft, er löste sich von dem Bogen, fiel hinten über und verschwand, den schwarzen Mantel um sich wehend, im grünen Nebel. Margil schloss die Augen. Trotzdem konnte er weiter Ydrils Gesicht vor sich sehen, dass seltsamerweise völlige Ruhe zeigt.


    Ein Heulen ließ ihn sie wieder öffnen. Der Hellion hatte gewendet und raste auf ihn zu. Seine grün und blau gefärbten Haare flatterten wild hinter ihm her. Die untere Hälfte des fahlen Gesichtes war hinter einer metallenen Maske aus grinsenden, nadelspitzen Zähnen verborgen. Wut und Hass überkamen den Weltenwanderer. Er zog seine Shurikenpistole und feuerte dem Drukhari einen Sturm aus Klingenscheiben entgegen. Einige Geschosse trafen das mit blauen Mustern verzierte Board und hinterließen blanke Schrammen im Metall. Andere wehrte der Hellion mit den breiten, gekrümmten Klingen an beiden Enden seiner Gleve ab.


    Im letzten Augenblick drehte Margil sich hinter den Strebpfeiler. Die Klinge der Gleve fuhr kreischend und funkenschlagend über das Metall. Der Hellion fluchte, drehte in einer halsbrecherisch scharfen Kurve ab, um nicht mit dem Gerüst zusammenzustoßen, und setzte zu einem erneuten Angriffsflug an. Margil kam wieder hervor, ein weiteres Wurfmesser in der Hand. Tief atmend zügelte er seine Erregung, wartete konzentriert ab, ließ seinen Gegner näherkommen.


    Der Hellion drehte in herausfordernder Überheblichkeit die Gleve in den Händen. Er war mit seiner langen Stabwaffe schon beinahe wieder in Reichweiter und holte zum Schlag aus. Das war der Moment, auf den der Weltenwanderer gewartet hatte. Treffsicher versenkte er das Messer im entblößten Hals seines Gegners. Hellrotes Blut spitze aus der verletzten Ader. Die Gleve vollführte einen kraftlosen Abwärtsbogen eine Armlänge vor Margils Brust. Der Hellion verlor die Kontrolle über das Bord, raste gegen die Stützbögen und stürzte in die Tiefe.


    Margil atmete auf. In Gedanken rezitierte er die rituellen Worte, mit denen die Aspektkrieger nach der Schlacht ihre Rüstungen in den Schreinen ablegten. Die Aggression verließ seinen Geist. Dann kletterte er zu Ydrir zurück und hoffte, dass ihre Mäntel sie vor einer weiteren Entdeckung bewahren würden.


    ***


    Oben auf der Brücke flaute der Kampf derweil ab. Die Hellions schienen genug zu haben und machten sich davon. Die Harpyien waren arg dezimiert, doch machten die verbliebenen sich wieder daran, ihren Anteil einzusammeln. Die Sklaven waren immer noch in hellem Aufruhr. Nun gingen die Kabalenkrieger dazwischen, schossen willkürlich in die Menge und verteilten Stöße mit den Gewehrkolben. Firondhir, der am Boden unentdeckt geblieben war, schaute auf und sah mit Schrecken, wie zwei oder drei über Illurayon herfielen, ihn an Armen und Rumpf festhielten und trotz verzweifelter Gegenwehr davonschleppten. Er wollte aufspringen und seinem Freund zu Hilfe eilen, doch etwas Hartes traf ihn am Kopf und ihm schwanden die Sinne.


    ***


    Den Kopf auf die Knie gesenkt, saß Margil auf einem der Rippenbögen unter dem Laufsteg und wartete. Neben ihm kauerte Ydrir. Margil war sich nicht sicher, wie viel der Junge wirklich mitbekommen hatte. Ob er gesehen hatte, wie sein Bruder gestorben war? Ydrir hatte rechtbehalten: Es hatte nicht gelingen können. Und er konnte weder ihm noch Illurayon noch sich selbst die Schuld dafür geben.


    Über ihnen war es nun wieder totenstill, nur der schwache Wind zog leise säuselnd durch das Tragwerk. Margil erhob sich seufzend und kletterte auf den Laufsteg. Oben angekommen schaute er sich um. Der Boden war blutverschmiert, vermischt mit schwarzen Federn. Doch die Leichen hatten die Wachen bereits entfernt. Was damit geschehen mochte, wollte er sich nicht ausmalen. Von Illurayon und Firondhir fand er keine Spur.

  • Kapitel 5

    Die Große Halle



    Zwei Kabalenkrieger in schwarzglänzenden Prachtuniformen öffneten die mächtigen, bronzenen Türflügel zur Großen Halle. Quisar veranstaltete fast täglich Gelage für seine Verbündeten und bediente sich dabei ungeniert der Räumlichkeiten seines Vaters, des Hohen Archons, im inneren Palastbezirk hoch in der Spitze des Hauptturms der Kabalenfestung. Der ovale Raum nahm eine ganze Etage ein. Die hohe, gewölbte Decke wurde von einer Vielzahl pflanzenstielartiger Pfeiler getragen. In den Wänden ließen gestapelte Reihen sechseckiger Öffnungen wie Bienenwaben das bleiche Zwielicht der Gestohlenen Sonnen in den Saal. Die sterbenden Sterne schienen hier oben fast zum Greifen nahe. Vorhänge aus nachtblauen, fast durchsichtigen Gazestoffen wiegten leicht im Luftzug.


    Von einer umlaufenden Galerie führten mehrere Ebenen breiter, jadegrüner Marmorstufen bis zum mit Tiermosaiken verzierten Boden des Saales hinunter. In kleineren und größeren Gruppen lagerten hier die Gäste auf farbigen Teppichen und großen, runden Polstern, ließen sich von sparsam bekleideten Sklaven verschiedenster Rassen mit Speisen und Getränken bedienen oder gingen ungeniert anderen Vergnügungen nach. Am hinteren Ende des Ovals, dem Eingang gegenüber, erhob sich ein mehrstufiges Podium, auf dem, unter einem tiefgrünen Baldachin, Quisar und sein engster Kreis Hof hielten, hinter ihnen das Banner des Grünen Mondes.


    Ànathuriel betrat den Saal und schritt die breite Treppe zum Grund des Ovals hinab. Ihr purpurrotes Haar war zu einer aufwändigen, filigranen Frisur geflochten, durchsetzt mit blauen Federn. Über den Augen trug sie eine goldene, schnabelförmige Halbmaske. Das schulterfreie, tief dekolletierte Kleid bestand aus zahllosen Schichten grünen, beinahe durchsichtigen Seidenstoffes. Eine breite, goldbestickte Schärpe aus dunkelblauem Samt um die Taille hielt die Lagen zusammen und betonte ihre Körperformen. Die obersten Lagen des Rockes waren um die Hüften üppig hochgebunden und fielen zu einer kurzen Schleppe aus. Mit jeder Bewegung nahmen die Falten einen anderen Schimmer von Grün an.


    Doch nicht nur ihr Erscheinungsbild zog etliche Blicke der Gäste auf sich. In perfekter Dreiecksformation paradierten die sechs Felchu hinter ihr, der rotfedrige Arith stolz erhobenen Hauptes an der Spitze. Vor dem Stufen zu Quisars Thron blieb sie stehen und verneigte sich ehrerbietig auf einem Knie. Die Falkenhunde legten sich wie auf ein unhörbares Kommando nieder.


    Quisar richtete sich von seinem breiten podestartigen Thronsessel leicht auf, betrachtete gönnerhaft seine Tiere und ihre Trainerin und machte eine einladende Handbewegung. Ànathuriel erhob sich und gab den Felchu ein Handzeichen. Sofort sprangen die Falkenhunde auf, erklommen die Treppe und scharten sich um den jungen Archon. Der bedachte jedes von ihnen mit einigen Streicheleinheiten und ließ sie sich Plätze suchen, wie es ihnen beliebte. Sirqa, die neben ihrem Bruder saß, schien nur mäßig angetan von der Anwesenheit der Tiere. Aber noch weniger von der Anwesenheit der Bestienmeisterin.


    „Ànathuriel, geselle dich zu uns“, sagte Quisar und wies auf einen freien Platz eine Stufe unterhalb seines Sessels. Sirqa verzog angewidert das Gesicht.


    Dies war keine Einladung, sondern ein Befehl. Aber zugleich auch eine kaum zu übertreffende Würdigung, zu Füßen eines Archons platznehmen zu dürfen. Ànathuriel ließ sich auf den Polstern nieder und ließ ihren Blick über die anderen Höflinge schweifen. Luxus, Macht und Privilegien, das waren die Dinge, die diese Individuen durch die Nähe zum Prinzen der Kabale zu erlangen suchten. Manch einer vielleicht sogar noch mehr. Die, die hier und heute vertraulich mit Quisar scherzten, konnten morgen schon versuchen, ihn zu beseitigen.


    DorchaKerun war ein uraltes Adelshaus, in dem die Traditionen aus der Zeit vor dem Fall noch weiterlebten. Quisar war nicht der erste Sohn des Herren von DorchaKerun. Aber er war derjenige, der am geschicktesten dafür sorgte, dass seine Halbgeschwister verschwanden, noch bevor sie zu einer Bedrohung für ihn heranwuchsen - und die Mütter am besten gleich mit. Manch eine ehrgeizige Konkubine seines Vaters mochte das aber nicht davon abhalten, für sich und ihr Kind ihm seinen Titel streitig zu machen und sich dafür auch jener zu bedienen, mit denen er sich umgab.


    Hinter Quisar, im Halbschatten zwischen Vorhängen, standen wie Statuen schwer gerüstete Incubi, ihre breiten Klaivar-Schwerter in Händen. Incubi waren bedingungslos loyal gegenüber ihrem Auftraggeber, solange er sie entlohnte. Und nicht zu vergessen seine Schwester. Gerüchte gingen, dass die beiden ein besonders enges Verhältnis zueinander hatten, enger, als die Natur es für Geschwister vorgesehen hatte. Kein Gerücht jedenfalls war, das sie eine der talentiertesten und ehrgeizigsten Lhameas war, die in den letzten Jahren aus der Schwesternschaft der Lhilitu hervorgegangen war. Wer ihrem Bruder zu nahe kam, sollte achtgeben, was er zu sich nahm oder auch nur anfasste.


    Für Ànathuriel hatten die Machtspiele des Hofes wenig Bedeutung. Ihr Ehrgeiz lag einzig und allein in ihrer eigenen Kunst. Quisar wusste und schätzte das. Und sie wusste, dass die Nähe zum zukünftigen Herrn der Kabale für sie nur von Vorteil sein konnte. Sie nahm den dunkelgrünen Kristallkelch mit golden schimmernder Flüssigkeit an, den ein Sklave ihr reichte, und hob ihm mit einem Lächeln dem jungen Archon entgegen. Er antwortete mit einem kurzen Nicken.


    Nachdem er ein Gespräch mit irgendeinem zweitrangigen Dracon beendet hatte, wandte Quisar sich Ànathuriel zu. Derweil hatte Ariothar, die Falkenhündin mit den goldgelben Federn und dem milchweißen Fell, sich an die Seite der Bestienmeisterin gelegt und döste vor sich hin.


    „Sie scheint an dir mehr zu hängen als an mir“, bemerkte Quisar.


    „Ich habe es nicht darauf angelegt, mein Prinz“, antwortete Ànathuriel. „Kurnous Jagdhunde haben einen starken Willen und einen eigenen Kopf.“


    „Zum Glück nicht stark genug für deinen“, entgegnete er. „Apropos.“


    Er neigte sich leicht zu ihr hinunter und senkte seine Stimme.


    „Ich zerbreche mir schon seit Tagen den Kopf über eine Sache. Der Chem-Pan-Sey. Wir haben ihn wohl stark unterschätzt. Wir dachten, ohne seine lächerliche Rüstung und seine grobschlächtigen Waffen wäre er eine leichtere Beute. Aber wir scheinen ein Exemplar einer besonders wilden und starken Rasse erwischt zu haben. Sie mögen primitiv sein, dennoch, du weißt so gut wie ich, dass sie mehr sind als gewöhnliche Tiere. Sie haben Verstand. Ich frage mich immer noch, wie es dir gelungen ist, den Losseainn dazu zu bringen, dich loszulassen.“


    Ànathuriel schwieg. Selbst wenn sie eine Antwort gewusst hätte, sie wollte den Vorfall möglichst vergessen und nicht mehr daran erinnert werden. Denn jedes Mal, wenn sie daran zurückdachte, war der beklemmende Nachhall der Schmerzen wieder da. Und damit nicht genug. Kurz nach jenem Tag hatten die Alpträume begonnen. Ein formloser Schrecken suchte sie heim, immer wieder. Er nahm keine Gestalt an. Er existierte nur als Gefühl, aber als eines, das lebendig war, das einen eigenen Willen hatte. Und dieser Wille zog sie an, so unwiderstehlich, dass sie jedes Mal kurz davor war, ihm nachzugeben, ehe sie aufwachte.


    „Ich kann es nicht erklären, mein Prinz“, antwortete sie ausweichend. „Jedenfalls nicht mit irgendetwas, das ich getan hätte. Vielleicht hat der Chem-Pan-Sey die Nerven verloren.“


    Ihr war selbst bewusst, wie töricht sich das anhörte. Die Losseainn waren sogar in Commorragh allgemein dafür bekannt, die ausdauerndsten und willensstärksten Kämpfer ihrer Rasse zu sein, kein Vergleich zu ihrem schwächlichen kleineren Artgenossen, die oft schon beim Anblick von Drukhari-Kriegern weinend zusammenbrachen.


    Sie sah Quisars missmutigen Gesichtszügen an, dass er grade genau etwas in diese Richtung erwidern wollte, als einer seiner Hierarchen von der anderen Seite an ihn herantrat und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Sofort war seine Aufmerksamkeit an anderer Stelle. Erleichtert atmete Ànathuriel aus, lehnte sich in die Polster zurück und griff nach ihrem Becher. Der schimmernde Trunk wirkte beruhigend und belebend, als würde er die tiefsitzende Furcht, die wieder aufgerührt worden war, betäuben. Beiläufig begann sie durch Ariothars goldgelbe Halsfedern zu streicheln. Die Hündin schnarrte zufrieden.


    Quisar erhob sich von seinem Sessel und gab den Torwachen am anderen Ende der Halle ein Handzeichen. Sie öffneten die Türflügel.


    „Meine Freunde“, proklamierte er lauthals in den Saal, „mir wurde soeben zugetragen, dass zwei besondere Gäste uns ihre Aufwartung machen wollen.“


    Die Aufmerksamkeit der meisten Anwesenden richtete sich auf die Pforte. Ein kleiner Trupp Kabalenkrieger betrat die Halle. In ihrer Mitte führten sie zwei Gestalten, die beim Näherkommen als Aeldari zu erkennen waren. Die Kleider waren ihnen von den Leibern gerissen worden, sie sahen zerschlagen und zerschunden aus. Das lange, schwarze Haar des einen war an der Schläfe von Blut verkrustet. Der andere konnte sich kaum auf den Beinen halten und wurde von den Wachen mitgeschleift. Seine Augen waren blutunterlaufen und der Körper überzogen mit Schnitten und Einstichen, aus einigen rann noch Blut. Vor den Stufen zum Thron wurden die beiden auf die Knie niedergeworfen. Die Wachen hielten ihnen ihre Splittergewehre in den Nacken.


    „Abgesandte von unseren ‚Brüdern‘ auf den Weltenschiffen besuchen uns“, hob Quisar wieder an zu sprechen. Erstes spöttisches Gekicher war aus den Reihen der Gäste zu vernehmen.


    „Und wie ich erfahre habe, kommen sie mit einem Ersuchen zu uns“, fuhr er fort. „Mit einer Einladung.“ Gönnerhaft schaute er von seinem Podest auf die Asuryani zu seinen Füßen herab und wandte sich mit einer ausladenden Geste an den Dunkelhaarigen. „Du warst so großzügig, meine Diener über euer Anliegen zu informieren. Nun erlaube ich dir, es mir und meinen Gästen vorzutragen.“


    Der Angesprochene senkte den Kopf, wobei ihm die langen Haare über das Gesicht fielen, und schwieg. Der Archon stieg einige Stufen von dem Podest herunter und neigte sich dem Gefangenen entgegen.


    „Nur nicht so schüchtern“, feixte er, richtete sich wieder auf und wandte sich an die Anwesenden: „Ich fürchte, einfache IstuKarun sind von der Pracht unserer illustren Gesellschaft einfach zu sehr eingeschüchtert.“ Mehr hämisches Lachen flog ihm zu.


    „Aber dennoch“, sprach er mit ernstem Tonfall und theatralisch gestikulierend weiter, „will ich euch ein derart wichtiges Anliegen unserer Vettern nicht vorenthalten. Diese beiden Asuryani hier sind zu uns gekommen, um einen von uns zu bitten, sie auf ihr Weltenschiff zu begleiten. Ist hier jemand, der diese Einladung annehmen möchte?“


    Sein letzter Satz ging in schallendem Gelächter unter. Dann hob Quisar die Hand. Augenblicklich kehrte Stille ein. Sein Gesicht wurde eiskalt und verzerrte sich vor Abscheu.


    „IstuKarun!“ zischte er den beiden Weltenwanderern entgegen. „Wer feige durch die Schatten schleicht, verdient es nicht, sich einen Jäger zu nennen.“ Er schnippte mit den Fingern, drehte sich um und stieg wieder zu seinem Thronsessel hinauf. Die Wachen zerrten die beiden Aeldari in die Mitte des Saales. Quisar ließ sich nieder und lehnte sich in die Kissen zurück.


    „AmArran[1]“, befahl er. Die Felchu sprangen auf.


    ***


    Firondhir war dabei, Illurayon aufzuhelfen, als er die sechs Tiere auf sie zukommen sah. Ohne Eile trabten sie heran, als wüssten sie, dass sie dieser Beute nicht hinterherhetzen mussten. Firondhir stellte sich vor seinen Freund und fasste die Geschöpfe fest ins Auge. Jedes von ihnen hatte die Statur eines großen Hundes, aber ihre Krallen waren lang und gebogen wie die einer Katze, die Schnäbel spitz und hakenförmig wie bei einem Raubvogel. Kräftige Muskeln zeichneten sich unter den verschieden gemusterten Fellen ab. Die Tiere sahen ihn aus klaren, bernsteinfarbenen Augen an. Es waren prächtige, edle Geschöpfe, nicht von Natur aus böse. Sie passten nicht an diesen Ort.


    Das größte, mit flammend roter Federmähne um den Hals, blieb vor ihm stehen und schnarrte drohend. Firondhir atmete ruhig ein und aus, um seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Es durfte nicht merken, dass er Angst hatte. Langsam richtete er sich zu voller Größe auf und versuchte dabei, sowohl die Tiere als auch Illurayon im Blick zu behalten. Hilflos am Boden kauernd war er ein leichtes Ziel. Aber die anderen schienen das Signal ihres Rudelführers abzuwarten. Firondhir durfte es nicht dazu kommen lassen. Langsam hob er eine Hand.


    Ohne Vorwarnung sprang der Rotfederige ihn an. Seine Klauen zogen acht blutige Streifen über Firondhirs Brust. Er unterdrückte einen Schmerzensschrei. Der plötzliche Angriff stieß ihn einige Schritte zurück, doch es gelang ihm, sich auf den Beinen zu halten. Sofort war er wieder an der Seite seines Freundes. Das Tier landete wenige Schritte entfernt sicher auf seinen Pfoten und drehte sich wieder zu seinem Gegner um. Die anderen hielten sich immer noch zurück.


    ‚Das war ein Test‘, ging es Firondhir durch den Kopf. Das Tier war groß und stark genug, um ihn mit einem Sprung niederzureißen. Jetzt durfte er nicht zögern. Er machte einen Satz nach vorne. Überrascht von dem Gegenangriff, versuchte der Rote, ihn anzuspringen, doch der Abstand war zu gering. Die beiden prallten zusammen, und gingen zu Boden. Doch Firondhir bekam den Falkenhund zu fassen, legte seinen Arm um den rotgefiederten Hals und presste ihn an seine Brust. Das Tier schlug mit den Tatzen um sich und schrie, bis ihm die Luft ausging. Daraufhin ließ Firondhir es los, richtete sich schwerfällig auf und trat wankend zurück an Illurayons Seite. Die anderen Falkenhunde taten es ihm gleich und scharten sich um ihren Rudelführer, der sich aufrappelte und seine Federn schüttelte. Dann kam er wieder einen Schritt näher.


    Erneut hob Firondhir beschwichtigend die Hände.


    „Eathan[2]“, sagte er. „EaAinn[3]. Ich kann dich verletzten, du hast es gesehen, aber ich will es nicht.“


    Der Felchu stellte die Ohren auf und legte den Kopf zur Seite. Sein Schwanz zuckte nervös.


    „Eathan“, wiederholte Firondhir. Um sich selbst zu beruhigen, begann er eine einfache Melodie zu summen.


    ***


    Quisar war zunehmend ungeduldiger geworden, je länger das Schauspiel andauerte. So hatte er sich das nicht vorgestellt, erst recht nicht nach seiner vollmundigen Rede. Die Gäste im Saal begannen enttäuscht zu lamentieren. Was war in die Tiere gefahren? Sie hatten eine einfache Aufgabe zu erledigen. Sie hatten seinen Befehlen zu gehorchen, und nicht einem schmutzigen, dahergelaufenen Ausgestoßenen von den Weltenschiffen. Der Archon warf der Bestienmeisterin einen finsteren Blick zu.


    „Bring die Biester zur Raison!“ fuhr er sie an.


    Ànathuriel sah der Szene verwundert zu. Verwundert, aber, das musste sie sich eingestehen, auch fasziniert. Dieser Asuryani hielt die Felchu nur mit Worten zurück, zumindest schien es so. Aber sie durfte das nicht dulden. Ihr war klar, in diesem Moment stand hier mehr als nur ihr Ruf auf dem Spiel.


    „Arithav, amSoaA’ann[4]!“, rief sie dem Leittier zu.


    Der Rote drehte sich kurz zu ihr um, wandte sich dann wieder dem Weltenwanderer zu und machte dann einen Satz nach vorne. Firondhir widerstand dem Reflex, zurückzuweichen und sah dem Tier in die Augen.


    „Eathan“, sagte er noch einmal, diesmal mit völlig ruhiger Stimme. Er schaute kurz auf, in Richtung des Podests. Für einen Moment traf sich sein Blick mit dem der Bestienmeisterin hinter ihrer vogelähnlichen Maske.


    Ànathuriel erhob sich, raffte ihre Kleider zusammen und stieg entschlossenen Schrittes die Stufen der Empore herunter. Der Asuryani wollte sie herausfordern? Nun gut, das konnte er haben. Sie griff hinter ihren Rücken, zog einen kurzen Stab aus schwarzem Metall aus der Schärpe und löste gleichzeitig das Band. Die grünen Stoffbahnen glitten zu Boden wie eine abgeworfene Schlangenhaut und ließen die Bestienmeisterin in dem hautengen, blauviolett schimmernden Trikot ihrer Hekatari-Rüstung erscheinen. Eine schwingende Handbewegung und der Stab wuchs zu einem armlangen Spieß mit silbern glänzender Spitze. Kurz stieß sie damit auf den Boden und sofort versammelten sich die Falkenhunde um sie.


    Die Bestienmeisterin blieb etwa ein halbes Dutzend Schritte vor Firondhir stehen. Er konnte nicht anders, als sie anzustarren: schlank und doch athletisch, die makellos elfenbeinfarbene Haut der geschwungenen Schultern, der schmalen Taille und der muskulösen Glieder in Aussparungen im Stoff des nachtblauen Anzugs sichtbar. Lange, schimmernde Flechten des purpurnen Haars fiel darüber. Aus der goldenen Vogelmaske sahen ihn smaragdgrüne Augen verächtlich an. Die Jagdfalken tänzelten um sie herum. Sie erschien ihm mehr wie eine Nymphe aus dem Gefolge Kurnous‘, denn wie eine Drukhari. Firondhir stieg die Hitze ins Gesicht, als ihm bewusstwurde, dass er ihr unbekleidet gegenüberstand.


    Ànathuriel stieß jeden einzelnen Felchu mit dem stumpfen Ende des Stabes an. Dann richtete die Spitze auf den dunkelhaarigen Asuryani und befahl: „AmsoaA’nn!“. Die Tiere hechteten vor. Wieder hielt Arithav wenige Schritte vor dem Weltenwanderer inne. Nicht jedoch die gelbe Ariothar. Sie entdeckte in dem anderen Asuryani die leichtere Beute und ging auf ihn los. Firondhir erkannte die Gefahr und warf sich dazwischen. Zusammen mit der Falkenhündin landete er auf dem Marmorboden und hob den Arm vor Brust und Gesicht, um sich vor dem zustoßenden Schnabel des Tieres zu schützen. Ein erregtes Raunen ging durch die Zuschauer. Jetzt war auch der Jagdtrieb der anderen geweckt. Als nächste kam Orkanar, das gefleckte Weibchen mit den grünen Halsfedern heran.


    Doch sie erreichte ihr Ziel nicht. Arithav stellte sich ihr in den Weg, versetzte ihr einen Schlag mit der Pranke und hieb mit dem Schnabel nach ihr. Sie stieß einen erbosten Schrei aus, doch kleiner und feingliedriger von Statur, wagte sie nicht, den Rudelführer herauszufordern. Arithav kreischte warnend in Richtung der anderen Felchu.


    Derweil hatte Firondhir sich seines Angreifers erwehrt, das Tier von sich gestoßen und war wieder auf die Füße gekommen. Der Bestienmeisterin ging das Spiel nun zu weit. Energisch schritt sie zu dem Rudelführer hinüber und versetzte ihm einen Schlag mit dem Stock. Der Rote fauchte sie an und wich einen Schritt zurück. Mit weitern Hieben trieb sie die übrigen Falkenhunde vor sich her in Richtung des Weltenwanderes. Wenn es sein musste, würde sie ihn selbst umbringen, damit sich die Tiere wenigsten noch seinen Gefährten holen konnten.


    ***


    Quisar kochte vor Wut. Seine Hände krampften sich um die Armlehnen des Sessels, während er das blamable Schauspiel beobachtete. Er wusste nicht, wen sein Zorn als erstes treffen sollte: die unfähige Bestienmeisterin, den anmaßenden Asuryani oder die nutzlosen Tiere. Eine sanfte Hand strich über seine Wange. Sofort wurde es in ihm etwas ruhiger.


    Sirqa legte von hinten zärtlich ihre Arme um ihren Bruder und flüsterte etwas in sein Ohr. Quisar nickte. Seine Mine hellte sich etwas auf. Während die Lhamea die Stufen hinunterschritt, erhob der junge Archon sich und setzte zu einer neuen Ansprache an.


    „Wie es scheint, ist meine Bestienmeisterin heute nicht in der Lage, uns mit ihrer legendären Begabung zu erfreuen. Stattdessen wird meine Schwester uns eine Probe ihrer Kunst geben.“


    Seine Worte versetzten Ànathuriel einen Stich. Quisar klatschte in die Hände und winkte sie zurück. Einen kurzen Augenblick war sie versucht, sich seinem Befehl zu widersetzen und dem Asuryani ihren Spieß in die Brust zu rammen. Doch es schien ihr klüger, den Zorn des Prinzen nicht noch weiter zu schüren. Resigniert schnippte sie mit den Fingern. Sofort sammelten sich die Felchu um sie und folgten ihr zurück zur Empore. Sirqa warf ihr einen triumphierenden Blick zu, als sie an ihr vorbeiging.


    ***


    Firondhir sank erleichtert auf die Knie. Für den Moment hatte er Illurayon und sich das Weiterleben gesichert. Doch der Moment währte nicht lange. Kaum dass die Bestienmeisterin verschwunden war, stand jene Frau vor ihnen, die bis eben noch an der Seite des Archons gesessen hatte: groß und schlank, in einem Kleid aus blauviolett schimmerndem Samt, dessen hautenge Ärmel die feingliedrigen Arme bedeckten und nahtlos in Handschuhe übergingen. Ein Mieder aus schwarz glänzenden Hornplatten hob ihren üppigen Busen hervor, auf dessen blasse, fast violett schimmernde Haut ein weiter Ausschnitt den Blick frei gab. Über dem noblen, aufreizend geschminkten Gesicht, eingerahmt von einem hohen, schwarzen Stehkragen, trug sie das lange, weißblonde Haar zu einem strengen Zopf geflochten. Etwas an ihr glich einer schwarzen Giftnatter. Aus ihrem Gürtel zog sie ein langes Stilett. Firondhir versuchte, sich aufzurichten und dabei nach ihrer Hand zu greifen.


    Sirqa stieß den mitgenommenen IstuKarun mit einem finsteren Lächeln von sich, so dass er hart auf dem Rücken landete. Dann kniete sie bei seinem halb bewusstlosen Gefährten nieder. Die Foltermeister hatten ihre ganze Kunst an ihm entfaltet. Der Asuryani war mehr tot als lebendig, aber immer noch lebendig genug, um eine ihrer eigenen Kreationen zu erproben.


    Firondhir kämpfte sich mühsam wieder auf die Füße, mit dem einzigen, verzweifelten Gedanken erfüllt, die Drukhari von Illurayon abzuhalten. Doch ehe er eingreifen konnte, hatte sie seinem Freund einen langen Schnitt am Unterarm beigebracht. Dann ließ sie ihn los, und trat einen Schritt zurück.


    „Der Asuryani scheint eine besondere Begabung im Umgang mit wilden Tieren zu haben“, sprach sie zu den Anwesende. „Wir wollen sehen, ob er auch dieses hier zu bändigen vermag.“ Mit rauschenden Kleidern kehrte sie zu ihrem Platz neben Quisar zurück.


    ***


    Firondhir hatte ihre Worte kaum wahrgenommen. Er hockte neben Illurayon, der sich schwer atmend auf die Arme stützte und sich mühte, aufzustehen. Er wollte ihm aufhelfen, doch kaum, dass er ihn berührt hatte, stieß Illurayon ihn grob von sich. Überrascht stolperte Firondhir zurück. Illurayon sah zu ihm hoch. Sein Gesicht war grässlich verzerrt, die Augen glasig, zwischen den zusammengebissenen Zähnen bildete sich Schaum. Firondhir erstarrte vor Entsetzen.


    Ohne Vorwarnung, schneller als es selbst für einen Aeldari normal war, stürzte Illurayon sich auf Firondhir und warf ihn zu Boden. Firondhir schrie überrascht auf und versuchte, seinen Freund mit erhobenen Armen abzuwehren. Irgendwie gelang es ihm, ihn von sich zu stoßen und wieder auf die Füße zu kommen, gerade eben, bevor Illurayon erneut angriff.


    Bei den Drukhari im Saal stieg die Laune wieder an. Sie riefen, applaudierten und feuerten die Kämpfer höhnisch an. Zwei Freunde, mindestens, soviel hatten fast alle mitbekommen. Und gleich welcher, einer würde den anderen töten. Das traf den allgemeinen Geschmack. Quisar lächelte zufrieden, während Sirqa mit wachsender Freude und Erregung die sich entfaltende Wirkung ihres Giftes verfolgte. Ànathuriel war die Einzige im Saal, die nicht in irgendeiner Weise entzückt war.


    Der Kampf zwischen den Asuryani wurde blutiger. Die beiden umklammerten sich in einem wilden Ringen. Der dunkelhaarige versuchte immer wieder, von seinem Freund loszukommen, wich seinen Schlägen und Tritten aus, so gut es ging. Die Stimmen aus dem Publikum wurden lauter, verhöhnten seine Zurückhaltung und feuerten seinen Gegner an. Der andere ließ nicht von ihm ab und hatte ihm bereits die Haut am Rücken zerfetzt und die eine Gesichtshälfte blutig gebissen hatte.


    ***


    Verzweifelt versuchte Firondhir, Illurayon von sich zu halten. Seine eigenen Verletzungen spürte er kaum.


    „Illurayon, komm zu dir!“ schrie er ihn flehentlich an, zum wievielten Mal wusste er selbst nicht.


    Aber sein Freund reagierte auf kein gesprochenes Wort mehr. Mit unnatürlicher Kraft entwand er sich jedem seiner Griffe, nur um ihn sofort wieder mit den Armen zu umschlingen. Er drückte Firondhir den Brustkorb zusammen, als wollte er ihn wie eine Riesenschlange ersticken. Zwei oder drei Rippen gaben knackend nach. Dann versenkte er die Zähne in seine Schulter. Nur weil es Firondhir unter furchtbaren Schmerzen gelang, den Oberkörper zur Seite zu drehen, war es nicht sein Hals.


    Er spürte, wie seine Kräfte nachließen. Bei Illurayon gab es keine Anzeichen davon. Mit Mühe konnte Firondhir einen Arm frei machen und Illurayon mit dem Ellenbogen einen Schlag gegen die Schläfe versetzen. Doch der schien ihm kaum etwas auszumachen. Brüllend hob Illurayon ihn an und warf ihn auf den Mosaikboden. Firondhir landete hart auf dem Rücken und schlug mit dem Hinterkopf auf. Illurayon war über ihm, legte die Hände um seinen Hals und drückte zu.


    Firondhirs Sichtfeld verdunkelte sich zunehmend. Er hielt Illurayons Handgelenke noch mit seinen Händen umfasst, doch zur Gegenwehr fehlte ihm die Kraft. Der ganze Raum war erfüllt vom extatischen Gekreische der Drukhari. Sollten sie sich ergötzen, sie alle würden ihnen über kurz oder lang zu Sai’lanthresh folgen. Alles war fehlgelaufen. Er konnte seien Freund in diesem Zustand nicht überwinden. Und selbst wenn, was nutzte es? Hier gab es keinen Ausweg. So war es besser.


    Etwas fuhr wie in Glockenschlag in Firondhirs Kopf. Keine Stimme, keine Worte, aber ein Gedanke, ein Wunsch, eine Bitte. um des bedingungslosen Vertrauens willen, das stets zwischen ihnen bestanden hatte. Es war noch etwas von Illurayon in dieser Bestie. Etwas, das die Oberhand nicht mehr zurückgewinnen konnte, aber den Geist seines Freundes noch erreichte. Etwas, dass ihn nicht verletzen wollte. Und das nicht wollte, dass er sich aufgab.


    Firondhirs Lebensgeister waren wieder erwacht. Der Griff um seine Kehle war nicht lockerer. Trotzdem warf er sich hin und her, trat mit den Beinen aus, bis er Illurayon mit einem Tritt in den Unterleib traf. Es brauchte drei weitere, ehe er freikam. Firondhir sprang auf, und lief humpelnd die Halle hinunter, um Abstand zu gewinnen. Mit jedem Schritt bohrten sich die gebrochenen Rippen ein Stück tiefer in seine Brust. Er spürte Blut im Mund. Die Drukhari quittierten seine Anstrengung mit Gelächter.


    Illurayon setzte ihm unbeirrt nach. Firondhir wich ihm aus, bis er fand, was er suchte. Stolpernd hechtete er in die Zuschauerreihen. Mehrere Tische mit Speisen und Getränken gingen zu Bruch, der Inhalt verteilte sich über die Gäste. Die waren wenig begeistert, lamentierte empört und trieben den Asuryani mit Fäusten und Fußtritten zurück in die Mitte des Saals.


    Firondhir landete auf dem Boden und richtet sich halb auf. Im nächsten Moment war Illurayon wieder über ihm, bereit, sich mit seinem ganzen Körper auf ihn zu werfen. Ohne einen Moment des Zögerns rammte Firondhir ihm die Scherbe einer zerbrochenen Schale in den Unterleib. Illurayon taumelte zurück. Sein Gesicht zeigte Überraschung. Firondhir stach noch einmal zu. Die scharfen Kanten schnitten tief in seine Finger. Illurayon ging in die Knie und fiel zur Seite. Firondhir kroch zu ihm. Sein Freund sah ihn aus halb geschlossenen Augen an, die Wildheit war aus seinen Zügen verschwunden. Ein Gefühl von Ruhe und Einverständnis floss in Firondhirs Geist. Und Dankbarkeit. Er hatte verstanden, was sein Freund, sein Bruder ihn zu tun wünschte, doch er war nicht dazu fähig. Schließlich glaubte er, doch eine Stimme in seinem Kopf zu hören, schwach, flehend. ‚Firondhir, bitte. Lass es geschehen, es hat seien Richtigkeit‘. Tränen liefen ungehemmt über sein Gesicht. Er schloss die Augen, holte tief Luft und stieß die Scherbe in Illurayons Brust.


    Einen Moment des Schocks kniete Firondhir neben seinem reglosen Freund und sah auf seine blutigen Hände. Dann brach er mit einem Schrei schmerzerfülltester Verzweiflung und Trauer zusammen. Doch der Laut ging im rasenden Jubel der Begeisterung unter. Die Gäste applaudierten Quisar zu. Der hatte sich von seinem Sessel erhoben und Sirqa bei der Hand genommen. Gemeinsam nahmen sie die Ehrerbietung der Anwesenden entgegen. Niemand achtete mehr auf Ànathuriel, die auf ihrem Polster saß und wie in Trance in Richtung des toten Asuryani starrte.


    Es dauerte eine Weile, bis ihre Gedanken sich wieder gesammelt hatten. Ihr war, als würden ihr die letzten Augenblicke des Kampfes fehlen. Der dramatische Höhepunkt, die traumatischen Emotionen, die die Gäste begeistert aufgesogen hatte, an ihr waren sie vorübergegangen, als wäre sie nicht hier gewesen, als hätte etwas anderes ihr Bewusstsein für sich beansprucht, das nun aber verschwunden war und eine leere Stelle hinterlassen hatte. Stattdessen glühte in ihr nun wieder der Zorn gegen die Schwester des Archons und ihr hochmütiges Gebaren auf. Die Blamage, die sie ihre zugefügt hatte, konnte sie nicht auf sich beruhen lassen.


    Inzwischen waren die Wachen dabei, den toten und den gerade noch lebenden Weltenwanderer davon zu schleppen. Ein gewagter Einfall kam ihr von irgendwoher in den Sinn. Sie sah zu Quisar auf. Mit dem Kelch in der Hand prostete er den Höflingen in seiner Nähe zu. Er war in Hochstimmung, vielleicht hatte sie Glück. Sie erhob sich von ihrem Sitz und trat vor die Geschwister.


    „Mein Prinz“, sprach sie Quisar an, „ich verlange diesen IstuKarun.“


    Sofort verzog sich seine Miene zu einem Gesichtsausdruck, der irgendwo zwischen Empörung und Staunen lag.


    „Eine recht forsche Forderung nach deinem Versagen eben“, entgegnete er scharf.


    „Hätte Eure Schwester sich gedulden können, wäre es nicht so weit gekommen“, gab sie zurück.


    Sirqa blieb für einen Moment die Sprach weg. „Was fällt dir ein, Elende“, zischte sie empört.


    Ànathuriel ignorierte die Lhamea. „Die Felchu kamen eben wieder in Jagdstimmung und hätten beide Asuryani getötet, wenn sie sich nicht eingemischt hätte. Sie hat mich und Eure Tiere um ihren Preis betrogen.“


    „Äußerst geschickt, wie du die Wahrheit mit Worten verdrehst“, höhnte Sirqa. „Meine Kunst hat gewirkt, deine hat versagt.“


    „Ihr habt mir keine Möglichkeit gelassen, sie zur Vollendung zu bringen“, konterte Ànathuriel.


    Quisar beobachtete die beiden Frauen mit einer Mischung aus Ärger und Belustigung an. „Ist das so, Bestienmeisterin? Glaube nicht, dass du mich zum Narren halten kannst. Jeder konnte sehen, dass der IstuKarun mehr Gewalt über die Felchu hatte als du. Du sollst ihn haben. Unter der Bedingung, dass du in Erfahrung bringst, was er mit den Tieren angestellt hat. Dieser Ungehorsam wiederholt sich nicht. Wenn wir die nächste Jagd ansetzten, werden meine Hunde wieder zu gebrauchen sein.“


    „So wird es geschehen, mein Prinz.“ Ànathuriel verneigte sich kurz und verließ dann die Empore. Erst als sie sich abwandte, lächelte sie erleichtert und zufrieden. Zumindest jetzt hatte sie erreicht, was sie wollte.


    _____________________________________

    [1] Arran: beginnen, anfangen

    [2] Eathan: der Friede

    [3] Ea-: nicht; ainn: kämpfen

    [4] Am-: Befehlsform; soa-: sofort; a’ann: angreifen

  • Kapitel 6

    Erwachen



    Es brauchte einige Tage, bis der Weltenwanderer wieder in einem handlungsfähigen Zustand war. Die Fähigkeiten der Haemonculi zur Wiederherstellung eines Körpers suchten ihresgleichen, doch waren sie unweigerlich verbunden mit beispielloser Qual. Ob dies wirklich notwendig war oder nur ihrem Vergnügen diente, wussten nur die Haemonculi selbst. Die Höhe ihrer Kunst war gleichwohl den Eliten der Kabale vorbehalten, und die wollte Quisar nicht an einen minderwertigen Asuryani vergeudet wissen. So stand Firondhir mit nur um das Nötigste versorgten, immer noch schmerzenden Verletzungen in einer Tür der großen Dressurhalle der fürstlichen Menagerie, teilnahmslos dem harrend, was da kommen mochte.


    Wann immer er während der Tortur dazu in der Lage gewesen war, einen klaren Gedanken zu fassen, hatte das Geschehene ihn heimgesucht, wieder und wieder. Eigenhändig hatte er seinen Freund getötet, dem er mehr als nur sein Leben verdankte, und war in dem Moment so sicher gewesen, dass es sein Wunsch gewesen war. Doch es ergab keinen Sinn. Bechareth, ein Geist auf dem Wind. Kein Seelenstein war dagewesen, um seine Seele einzufangen und Ihr, die Dürstet, vorzuhalten. Er hatte seinen Freund nicht nur umgebracht, er hatte ihn der ewigen Folter überlassen, schlimmer als alles, wozu die Drukhari jemals fähig wären. Für nichts. Das Vertrauen darauf, dass sich irgendwie ein Ausweg finden würde, war dahin. Wahrscheinlich war er von Anfang an nur eine Selbsttäuschung, einem tröstlichen Wunschdenken erlegen. Einer Lüge.


    „Komm her“, befahl die Bestienmeisterin.


    Ànathuriel stand in der Mitte des ovalen Raumes. Der Boden war mit feinem Sand, oder etwas Ähnlichem, ausgestreut. Dunkelgrüne Marmorsäulen reckten sich in die Höhe wie riesige Bambushalme und verzweigten sich zu einem dunklen Deckengewölbe. In den oberen Etagen öffneten sich Balkone zwischen den Stämmen. Von den Balustraden ragte abwärtsgebogene Dornen in den Raum. Im Moment waren die Logen leer, sie hatten keine Zuschauer.


    Der Weltenwanderer rührte sich nicht.


    „Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat?“ herrschte ihn einer der beiden Kabalenkrieger an, die ihn hergebracht hatten. Sie packten Firondhir bei den Armen und schleiften ihn in die Mitte der Halle. Er stolperte über seine eigenen Füße, so dass er der Länge nach hinfiel, als sie ihn losließen. Brutal zerrten sie ihn an den Armen wieder hoch, bis er mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden saß. Sand klebte ihm in Gesicht.


    Die Drukhari-Frau stand ihm gegenüber, gekleidet in die gleiche schwarzglänzende Rüstung wie die Krieger, die langen, purpurroten Haare zu einem einfachen, festen Zopf verflochten. In der Hand hielt sie einen Speer mit langer, blattförmiger Spitze.


    „Geht!“ befahl sie den Wachen. Die verneigten sich kurz, drehten sich um und verließen die Dressurhalle.


    Ànathuriel trat auf den Asuryani zu und betrachtete ihn von allen Seiten, als würde sie eine gelieferte Ware begutachten. Man hatte ihm ein knielanges, verschlissenes Hemd übergezogen, das über der Brust mit einer einfachen kreuzgeschnürten Kordel verschlossen war. Seine schwarzen Haare hingen lose herunter, verworren, aber wenigstens sauber. Eigentlich hatte er ein sehr ansehnliches Gesicht, schmal, leicht kantig, dunkelblaue Augen. Nur war die linke Seite rot und blau verschwollen von dem Biss, den sein Kumpan ihm zugefügt hatte. Sie öffnete die Bänder des Hemds. Er ließ es widerstandlos geschehen. Die tiefen Kratzer auf der Brust waren mit metallenen Klammern zusammengepresst. Sie würden deutliche Narben hinterlassen. An seiner Seite breitete sich ein schwarzer Bluterguss über den gerichteten Rippen aus. Die rechte Hand, mit der er die Glasscherbe gehalten hatte, war als einziges verbunden. Nun gut, er würde ihr hier nicht unversehens wegsterben. Mehr konnte sie wohl nicht erwarten.


    „Steh auf!“ befahl sie.


    Der Weltenwanderer rührte sich nicht.


    „Steh! Auf!“ wiederholte sie mit eindringlichem Ton.


    Immer noch keine Reaktion


    „Meinetwegen“, seufzte sie.


    Sie fasste ihre Energielanzen mit beiden Händen und stütze sich auf den aufrechtstehenden Schaft. Nachdenklich sah sie den Asuryani an. Tausendfach hatte sie sich durch den Kopf gehen lassen, wie sie anfangen sollte. Sie hatte keinen Chem-Pan-Sey oder eine ähnliche unverständige Kreatur vor sich. Aber auch keinen Drukhari-Sklaven, bei dem hinter erzwungener Unterwürfigkeit stets mit Hinterlist zu rechnen war. Alle Asuryani, denen sie bisher begegnet war, waren hinter Masken verborgene Krieger gewesen. Ins Gesicht geschaut hatte sie noch keinem.


    „Wie heißt du?“ Das schien ihr ein guter Anfang.


    Der Weltenwanderer schwieg.


    „Vielleicht ist dir das nicht klar“, fuhr sie fort. „Du bist nur hier und am Leben, weil ich etwas von dir wissen will. Was hast du mit den Felchu gemacht?“


    Der Asuryani reagierte immer noch nicht.


    „Ich weiß nicht, was du dir einbildest“, herrschte sie ihn an, „aber eines kann ich dir versichern: Wenn sie kommen und dich wieder abholen, dann ist es für niemanden mehr von Belang, ob du lebst oder stirbst. Ich habe nur Fragen, mehr nicht.“


    Er hob den Kopf und schaute sie an. Ànathuriel erschrak. Noch nie hatte sie so einen Blick gesehen. Sie hatte jede Art von Furcht, Grauen, Panik und Verzweiflung gesehen. Sie hatte Geschöpfe gesehen, die die Aussicht auf den Tod sogar zu erfreuen schienen. Bei diesem Asuryani erkannte sie nichts davon wieder. Nur Leere, als wäre es tatsächlich so, wie sie gesagt hatte: nicht von Belang.


    Nun gut, es ließ sich leicht herausfinden, wie ernst es ihm damit war. Sie gab einem der Dienersklaven, die unscheinbar im Schatten der Säulen verharrten, ein Zeichen. Er öffnete eine Gittertür am Kopfende der Halle. Die sechs Falkenhunde trabten heraus, reckten und schüttelten sich, in Erwartung einer Aufgabe.


    Ànathuriel ging zu den Tieren hinüber. Ihren Speer als Anzeiger nutzend, wies sie jedem einzelnen einen Platz zu und ließ sie sich in einer Reihe hinsetzen. Dann drehte sie sich zu dem Weltenwanderer um. Schon wollte sie den Felchu den Angriffsbefehl geben, als ihr ein anderer Gedanke kam. Sie richtete die Spitze ihres Stabes auf den Sklaven und sagte: „AmsoaA’nn.“


    Sofort sprangen die Tiere auf und stürmten auf ihr Ziel los. Der Sklave erkannte, was geschah, und geriet in Panik. Er gab einen heiseren Schrei von sich und ergriff die Flucht, indem er stolpernd die Länge des Saales hinunterlief.


    Die Bestienmeisterin lächelte zufrieden. „Halte sie auf, IstuKarun, wenn du kannst.“


    Firondhir schaute auf, zu den Felchu, zu der bedauernswerten Kreatur, dann zu der Drukhari. Was wollte sie damit bezwecken? Selbst wenn er könnte, was für einen Unterschied sollte es machen, wenn er diesen Sklaven jetzt vor einem Schicksal bewahrte, das ihn stattdessen schon in der nächsten Stunde ereilen konnte? Ein schneller Tod war eine Gnade in der Dunklen Stadt.


    Die sechs Falkenhunde setzten ihrer Beute nach und fächerten sich in einem weiten Bogen auf, der keinen Ausweg zuließ, egal welche Richtung ihr Opfer einschlug. Die Orangefedrige erreichte den Sklaven als erste. Mit einem Satz sprang sie ihm in den Rücken und warf ihn zu Boden.


    Ànathuriel wandte sich dem Weltenwanderer zu, wartend auf eine Reaktion. Doch nichts geschah. Er saß nur teilnahmslos da.


    Ein scharfes Knacken erklang, als der gebogene Schnabel der Hündin in den Schädel des Sklaven hieb. Wenige Augenblicke später waren die anderen Tiere herbeigeeilt und begannen, die Beute in Stücke zu reißen. Die Bestienmeisterin ließ ihnen noch einige Minuten Zeit, dann rief sie sie ab. Gehorsam trabten die Falkenhunde an ihre Seite und begannen, ihre blutigen Schnäbel am Gefieder zu putzen.


    Nun gut, das hatte nichts gebracht. Ànathuriel blieb wohl doch nichts übrig, als bis zum Äußersten zu gehen – und zu hoffen, dass der Asuryani noch einen letzten Rest Selbsterhaltungstrieb in sich hatte.


    „AmA’ann.“


    Die Jagdfalken folgten der angezeigten Richtung und stürmten auf den am Boden kauernden zu. Der Weltenwanderer regte sich nicht. Mit jedem verstreichenden Augenblick kamen die Tiere näher. Ihr Jagdtrieb war trotz der eben erst geschlagenen Beute ungetrübt. Für sie war es ein Spiel, das sie immer wieder von Neuem spielen konnten.


    Ànathuriel wurde zunehmend nervös. Der Asuryani hockte immer noch reglos da, den Kopf gesenkt, scheinbar, ohne von den sich nähernden Tieren Notiz zu nehmen, ohne Anstalten, sie abzuwehren oder ihnen entkommen zu wollen. Wenn die Felchu ihn jetzt zur Strecke brachten, würde sie nie erfahren, was sie wissen wollte. Sie war kurz davor, die Falkenhunde zurückzurufen.


    Der rotfedrige Arithav erreichte den Weltenwanderer als erster, sprang ihn an und warf ihn auf den Rücken. Der Aeldari leistete keine Gegenwehr. Der Falkenhund hielt ihn mit den Vorderpfoten am Boden fest. Dann hielt er inne, legte den Kopf von einer Seite zur anderen und stellte die Ohren auf. Er schien den Aeldari wiedererkannt zu haben. Arithav stieß ein kurzes, pfeifendes Kreischen aus, ließ von ihm ab und setzt sich vor ihm auf den Boden. Die anderen Tiere taten es ihm gleich.


    Fasziniert und verärgert zugleich hatte Ànathuriel die Szene beobachtet. Der Asuryani hatte nichts getan, rein gar nichts. Und dennoch hatten die Felchu erneut ihren Befehl verweigert.


    Allmählich kam ihr die unbefriedigende Einsicht, dass sie so nichts von dem IstuKarun erfahren würde. Er schien sich und alles um sich herum aufgeben zu haben. Nun gut, seinem Wunsch konnte entsprochen werden. Sie trat an ihn heran und setzte die Speerspitze an seine Kehle. Die Felchu wichen zur Seite.


    „Wenn du so sehr darauf aus bist zu sterben, Asuryani, kann ich dir diesen Wunsch erfülle. Sag mir nur, was ich wissen will. Wie kontrollierst du diese Tiere?“


    Firondhir antwortet matt: „Mach was du willst, Drukhari. Aber ich kann dir nichts erklären, was ich nicht tue.“


    Einen Augenblick lang war Ànathuriel sprachlos. „Willst du mich zum Narren halten?“ zischte sie, als sie die Fassung wiedergefunden hatte. Doch der Weltenwanderer schloss die Augen und schwieg.


    Sie war mit ihrer Weisheit am Ende. Sollte sie ihn den Haemonculi überlassen? Aber was brachte das, wenn sein Leben ihm nichts mehr wert war? Er konnte sonst irgendeine Geschichte erfinden, und das half ihr nicht weiter. Dann kam ihr ein Einfall, eine andere Möglichkeit, doch noch an ihr Ziel zu gelangen: Mit ihm das gleiche zu tun, was sie mit dem Chem-Pan-Sey getan hatte. Wenn sie die Glieder eines Lebewesens ihrem Willen unterwerfen konnte, dann vielleicht auch den Verstand. Sie war sich sicher, dass die Schmerzen und die Panik wiederkommen würden, wie beim letzten Mal. Aber dies war zu wichtig.


    Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus, wartete auf den richtigen Moment. Der Asuryani lag arglos da. In einer blitzartigen Bewegung ließ den Speer fallen, drückte ihn mit den Knien in den Sand, die eine Hand auf seiner Brust, die andere in seinem Gesicht. Zu überrascht, um zu reagieren, blieb er reglos liegen und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.


    „Sag mir, was ich wissen will“, befahl Ànathuriel in eindringlichem Ton.


    Was dann passierte ging weit über das hinaus, was sie beabsichtigt und auch nur für möglich gehalten hätte. Bilder fluteten in ihren Kopf, und Gefühle, so viele und so schnell, dass sie sie nicht auseinanderhalten konnte. Gleichzeitig setzten das Ziehen in der Brust und der stechende Kopfschmerz wieder ein. Und dann trat ein Bild aus allen anderen heraus: Illurayon, am Boden ausgestreckt, die Scherbe der zerbrochenen Schale in der Brust, und Blut an Händen, die nicht die ihren waren.


    Unfassbarer Schmerz brach über Ànathuriel herein. Sie schrie, mit ihrer eigenen Stimme und mit einer anderen. Sie wollte loslassen, nur weg. Aber es gelang ihr nicht – erst, als etwas ihr einen Stoß zu versetzen schien.


    Benommen glitt die Bestienmeisterin zur Seite und landete neben dem Asuryani auf dem Boden. Das Ziehen in der Brust und die Kopfschmerzen zerflossen allmählich. Schwer atmend rang sie nach Luft und richtete sich mühsam wieder auf, bis sie auf den Knien saß. Was war eben geschehen?


    Ihr vernebelter Blick fiel auf den IstuKarun. Schlagartig wurde ihr bewusst, was ihr widerfahren war. Sie hatte seine Erinnerungen gesehen, durch seine Augen. So viel, viel zu viel auf einmal. Das meiste war schon wieder dabei, zu verblassen. Irgendwie hatte sie es aus seinem Geist herausgezogen. Nun, da die Schmerzen abgeklungen waren, hinterließ das Erlebnis sogar ein seltsam erhebendes Gefühl. Vielleicht war das der Schlüssel zu allem. Sie musste es noch einmal versuchen, vorsichtiger. Aber nicht hier.


    Erst jetzt bemerkte Ànathuriel, dass der Weltenwanderer leblos neben ihr lag. Sie erschrak – und staunte im gleichen Moment über die Erkenntnis, dass sie sich um das Leben eines anderen Aeldari sorgte. Erleichtert stellte sie fest, dass er schwach atmete. Sie schüttelte ihn und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht, doch das brachte ihn nicht aus der Besinnungslosigkeit zurück. Sich nicht anders zu helfen wissend, schickte sie die Felchu, die immer noch abwarten um sie herumsaßen, zurück in ihren Zwinger, und winkte zwei Sklaven herbei. Während sie sich schwankend erhob, befahl sie, den Asuryani in ihre Gemächer zu bringen.


    ‚Quisar wird es nicht gutheißen, dass ich mir eigenmächtig einen Sklaven aneigne‘, ging es ihr durch den Kopf. Aber das kümmerte sie jetzt nicht.


    ***


    Firondhir konnte sich kaum erinnern, wann er zuletzt in einem echten Bett geschlafen hatte. Das Leben auf dem Pfad des Ausgestoßenen bot selten Gelegenheit dazu. Er war zwar schon einige Minuten wach, aber er blieb einfach ausgestreckt und mit geschlossenen Augen auf der dicken, weichen Matratze unter der leichten Decke liegen. Es fühlte sich angenehm an, unbeschwert. Sein Körper schmerzte nicht mehr. Zum ersten Mal seit Tagen hatte er wieder schlafen können. Zum ersten Mal, seit…


    Stück für Stück, Bild für Bild kehrte die Erinnerung zurück. Sein Hals schnürte sich zusammen, bis er fast keine Luft mehr bekam. Dann kamen die Tränen und er ließ sie laufen, bis er keine mehr hatte.


    Eine ganze Weile lag er noch still da. Auch mit geschlossenen Augen konnte er erkennen, dass es in dem Raum stockfinster war. Hier ging jedes Zeitgefühl verloren. Dann drang ein Geräusch an sein Ohr, leises Plätschern wie von Wasser. Verwundert setzte Firondhir sich auf. Durch einen Spalt in einer Seitenwand drang ein schwacher, blassgoldener Lichtschein herein. Er erregte seine Neugier. Er wischte sich das Gesicht mit einem Ende der Decke ab, stand auf und ging auf das Licht zu. Als er die Wand berührte, glitt ein Teil wie ein Vorhang ein Stück zur Seite.


    Angrenzend war ein Bad, ein fünfeckiger Raum, Boden und Wände mit stilisierten Rankenmustern aus rautenförmigen Kacheln gefliest. Es musste ein Außenraum sein, denn zwei der Wände bestanden aus Reihen schmaler Fensterschlitze mit rankenden Gittermustern, vor denen ebenfalls rankenbestickte, dunkelgrüne Vorhänge sich leicht im Luftzug bewegten. Ein großer Teil des Raumes wurde von einem halbmondförmigen Badebecken eingenommen. Das leuchtende Wasser erhielt seine fast natürliche Farbe von Fliesen in verschiedensten Schattierungen von Blau, Grün und Türkis. An den Wänden und an der dunkelblauen Decke glühte eine Vielzahl kleiner, weißer Lampen. Der ganze Raum wirkte wie der Versuch, einen nächtlichen Najadenweiher auf einer Jungfernwelt nachzuahmen, und scheiterte dabei in seiner Künstlichkeit doch kläglich. Allerdings, die Najade war echt.


    Ihm den Rücken zugewandt, glitt die Drukhari durch das Wasser. Ihre hüftlangen Haare wallten ihr nach wie purpurrotes Flussgras. Sie erreichte das gegenüberliegende Ende des Beckens und drehte sich um. Durch das Wasser sah Firondhir ihren wohlgeformten Körper hell schimmern. Mit beiden Händen strich sie sich die nassen Haare aus dem Gesicht, nun ungeschminkt und bar jeder Boshaftigkeit. Dann öffnete sie die Augen und sah genau in seine Richtung.


    Ànathuriel erblickte den Asuryani im Türspalt. Sofort verfinsterte sich ihre Mine und sie stieß einen erbosten Schrei aus, der augenblicklich ihre Diener ins Bad eilen ließ.


    „Raus hier!“ fauchte sie die Sklaven an. Diese gehorchten und verschwanden so hastig, wie sie gekommen waren. Der IstuKarun allerdings stand immer noch da.


    „Du auch! Verschwinde! Was erlaubst du dir!“ Ihre Worte schienen ihn wachgerüttelt zu haben, sofort zog er sich in das Nachbarzimmer zurück. „Und zieh dir etwas an“, setzte sie nach.


    ***


    Firondhir trat in den Hauptraum der Suite. In seinem Zimmer hatte er eine schlichte, blaue Leinenjacke, Hosen und einfache Stoffschuhe gefunden. Der leichte, saubere Stoff lag angenehm auf der wunden Haut. Warum erhielt er jetzt diese Annehmlichkeiten? Welche Hintergedanken mochte die Drukhari hegen?


    Der Salon war siebeneckig und schien keine Fenster nach außen zu haben. Die Decke wurde getragen von schwarzen Basaltsäulen, die Räume dazwischen waren mit ähnlichen Tüchern verhängt, wie das Bad. Um ein flaches Podest wand sich eine Art Hochbeet, das mit verschiedenen großblätterigen Pflanzen besetzt war. Alles in diesen Räumen wollte einen Garten imitieren. Ein schwaches Abbild der Schönheit eines wirklichen Gartens, wie sie auf den Weltenschiffen oder Jungfernwelten zu finden waren.


    Entlang des Hochbeets war eine breite, dunkelgrün gepolsterten Sitzfläche angelegt, vor der mehrere kleine Tische aus dunklem Holz standen. In bronzenen Schalen lagen exotische Früchte und Nüsse. Firondhir bemerkte, dass er hungrig war. Von dem, was die Drukhari ihm in den letzten Tagen als Nahrung gegeben hatten, hatte er nur das nötigste zu sich nehmen können. Trotzdem hielt er sich zurück, solange er nicht wusste, woran er mit seiner „Gastgeberin“ war. Er setzte sich auf das Polster, die Arme auf die Knie gelegt, starrte auf die hellen Flecken und Adern, die sich über den dunkelgrünen Marmorboden wanden, und sann darüber nach, was ihm widerfahren war.


    Eine Drukhari und eine Dainnar. Konnte das möglich sein? Nach allem, was er wusste, hatten die Verlorenen die Psifähigkeiten ihres Volkes schon vor langer Zeit aufgegeben. Aber es bestand kein Zweifel. Und die Pfade des Schicksals hatten sie mit ihm zusammengeführt. Die Bestienmeisterin musste diejenige sein, derentwegen sie in die Dunkle Stadt gekommen waren. Nur so ergab alles einen Sinn. War es das, was der Runenprophet vorhergesehen hatte? Doch wenn er das alles vorher gewusst hatte, wie hatte er zulassen können, dass…

    „Du weißt schon, dass das der Gürtel ist?“


    „Was?“ entfuhr es Firondhir. Er hatte die Drukhari nicht hereinkommen hören und sprang auf. Sie hatte sich einen smaragdgrünen Seiden-Kimono umgewickelt, unter dem der Saum eines langen, dunkelblauen Nachthemds bis auf ihre bloßen Knöchel niederfiel. Die langen, noch feuchten Haare, glatt zurückgekämmt, hingen offen über ihre Schultern. Unwillkürlich musste er bei ihrem Anblick an die Trachten der Seher auf den Weltenschiffen denken.


    „Das dünne Band, mit dem du dir die Haare hochgebunden hast. Das ist der Gürtel zu der Jacke.“


    „Das weiß ich, es war nichts anderes da. Ich trage die Haare nicht gerne offen.“


    „Warum hast du sie dann lang?“ fragte sie.


    Firondhir wusste im ersten Moment nicht, was er erwidern sollte.


    Sie verschwand kurz in ihrem Ankleidezimmer und kam mit einem schwarzen Samthaarband zurück. „Hier.“


    Firondhir nahm es entgegen. „Danke“, sagte er und band sich gedankenverloren die Haare zu einem offenen Zopf.


    „Wenn du hungrig bist, bediene dich“, sagte sie und wies auf die Schalen.


    Er zögerte. Gestern - war es gestern gewesen – war sie kurz davor gewesen, ihn umzubringen. Wieso behandelte sie ihn jetzt wie einen Gast? Was auch immer ihre Gründe waren, er empfand es deswegen als angemessen, ihr gegenüber gleichsam respektvoll zu handeln. Er beugte sich vor, nahm eine kleine Frucht mit, glatter, rot und orange gesprenkelter Schale, dreht sie in den Händen und betrachtete sie. Es schien nichts Unnatürliches daran zu sein. Ehe er davon kostete, sah er die Drukhari an und sagte mit schuldbewusstem Gesichtsausdruck: „Ich möchte dich um Verzeihung bitten.“


    „Um Verzeihung bitten? Wofür?“


    Firondhir stutzte. „Wegen dessen, was im Bad geschehen ist.“


    Ànathuriel lachte laut, so dass Firondhir zusammenfuhr. „Als ob dir nicht gefallen hätte, was du gesehen hast. Man merkt, dass du kein Drukhari bist. Niemand würde sich dafür entschuldigen, sich etwas genommen zu haben, was er haben will.“


    Er musste sich eingestehen, dass ihre Einschätzung zutraf. „Dir hat es nicht gefallen“, wandte er ein. „Deswegen…“


    „Du bist ein Sklave. Wenn du dir etwas zu Schulden kommen lässt, wirst du bestraft. Nachsicht offenbart nur die eigene Schwäche. Und Schwäche ist tödlich.“


    Firondhir schluckte. Bis eben hatte er das Gefühl gehabt, mit seinesgleichen zu sprechen. Doch nun war die in jeder Hinsicht fremdartige Drukhari wieder da. Ànathuriel missdeutete seine Regung.


    „Keine Sorge, Asuryani. So eine Bagatelle ist die Mühe nicht wert. Außerdem“, sie setzte sich auf das Polster, „bleibt es immer noch dabei: du bist nur hier und am Leben, weil du mir etwas erklären musst. Wie hast du das alles gemacht? Wie hast du die Felchu kontrolliert?“


    Langsam ließ Firondhir die Hand mit der Frucht sinken, ohne hineingebissen zu haben. Ihm kam ein Verdacht. Trotz dessen, was sie mit ihm getan hatte, schien sie keine wirkliche Vorstellung zu haben von dem, was sie war und wozu sie fähig sein mochte. Wäre sie es, wie müsste diese Frage nicht stellen. Sie könnte die Tiere alles tun lassen, was sie wollte. Und er wäre jetzt nicht hier. Mit diesen Gedanken brach die Erinnerung an den Abend in der großen Halle wie eine Sturzflut über ihn herein. Er begann zu zittern.


    Ànathuriel wurde ungeduldig. Seinen Lebenswillen hatte der IstuKarun wiedergefunden. Den Verstand, ihn zu erhalten, offenbar nicht.


    „Du scheinst immer noch nicht zu verstehen“, herrschte sie ihn an. „Ich bin die Bestienmeisterin des Prinzen von DorchaKerun. Niemand kann mit seinen Tieren so umgehen wie ich, nicht einmal er selbst. Du hast mich vor meinem Herrn und dem versammelten Hof wie unfähig dastehen lassen, und das kann und werde ich nicht dulden. Antworte mir! Was hast du getan?“


    Firondhir fuhr auf. „Was ich getan habe willst du wissen?“ brach es aus ihm heraus. Er schleuderte die Frucht zu Boden, so dass sie aufplatze und roter Saft und gelbes Fruchtfleisch über den Boden spritzten. „Du weißt es doch längst. Du hast es gesehen, du warst da! Meinen Freund habe ich umgebracht, der mir mehr als jeder andere bedeutete! Seine Seele habe ich Sai'lanthresh überlassen! Und alles, woran du denkst, sind deine missbrauchten Kreaturen.“ Unter Tränen fiel er auf das Sitzpolster zurück und vergrub das Gesicht in den Händen. In diesem Moment kümmerte ihn gar nichts mehr, am allerwenigsten die Drukhari und ihre egozentrischen Probleme.


    Betroffen saß Ànathuriel auf ihrem Platz. Sie, die Dürstet bei ihrem tatsächlichen Namen genannt zu hören, versetzte sie in Schrecken, wie jeden Aeldari. Als das Wort fiel, spürte sie einen erneuten Stich in der Brust. Aber da war noch mehr, etwas anderes, neues und unerwartetes. Den Zorn und die Verzweiflung ihrer Gegner hatte sie schon unzählige Male gesehen und sich daran erfreut. Aber jetzt fühlte sie sich im Innersten berührt, ein Gefühl, das ihr bisher noch nie begegnet war. In ihr regte sich der Wunsch, irgendetwas zu sagen, was dieses Gefühl ausdrückte. Aber sie kannte keine Worte dafür.


    „Ich bitte dich um Verzeihung“, war das Einzige, was ihr einfiel.


    Firondhir sah sie finster aus verquollenen Augen an. Er lachte bitter. „Alles, was gut und schön ist, nehmt ihr euch und zerstört es zu eurem Vergnügen. Und du glaubst, mit Worten, die dir nichts bedeuten, machst du es ungeschehen?“


    Sie wusste, dass es das nicht war. „Was soll ich sonst tun?“ entgegnete sie, halb hilflos, halb zornig über die Zurückweisung. Einer Intuition folgend streckte sie ihre Hand aus, nicht genau wissend, was sie eigentlich tun wollte. Aber bevor sie ihn berühren konnte, ergriff Firondhir Ànathuriels Handgelenkt und hielt sie fest.


    Doch das genügte bereits. Irgendwo in einem dunklen Winkel ihres Verstandes hatte ihr Bewusstsein die fremden Erinnerungen, die sie von dem Weltenwanderer erhalten hatte, vergraben, übertüncht von ihren eigenen Wünschen und Zielen. Nun brachen sie wieder hervor. Die körperlichen Schmerzen blieben diesmal aus, doch unbeschreibliche Seelenqual, Verzweiflung und Trauer, durchströmte ihr Inneres, mehr als sie geglaubt hätte, was eine einzelne lebende Kreatur ertragen konnte. Ànathuriel glitt benommen von der Sitzfläche, landete mit den Knien auf dem Boden und klammerte sich an den Polstern fest, um nicht völlig abzurutschen. Die Bilder waren fort. Aber die Gefühle blieben und hallten nach wie ein Echo. Jetzt, erst jetzt hatte sie wirklich verstanden.


    Firondhir hielt sie am Arm fest. Dann beugte er sich hinunter und half ihr zurück auf die Sitzfläche.


    „Ànathuriel“, sprach er sie an. „Ànathuriel, komm zu dir.“


    Sie strich sich mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht und presste kurz die Handballen gegen die Schläfen. Dann sah sie ihn an. „Woher weißt du…“ Doch sie kannte die Antwort, noch bevor sie die Frage beendet hatte. „Das geht in beide Richtungen?“ fragte sie erstaunt.


    „Ja“, antwortete er. „Aber nicht gleich stark. Es hängt von der Begabung ab. Du bist eine Dainnar. Wusstest du das nicht?“


    ‚Xenos-Hexe.‘ Ihr kamen die Worte des Chem-Pan-Sey wieder in den Sinn. Das musste er gemeint haben: die legendären Fähigkeiten der alten Aeldari, mit einer Berührung in den Geist eines anderen zu sehen, ihn sogar zu beherrschen. Das Einzige, was zu tun in Commorragh verboten war. Wieso war sie nicht selbst darauf gekommen?


    „Das passiert hoffentlich jetzt nicht jedes Mal.“


    Firondhir musste lächeln. „Das liegt an dir.“


    „Hast du es auch so gemacht, um dich vor den Felchu zu schützen?“ wollte sie wissen.


    „Nicht ganz“, antwortete er. „Jeder unseres Volkes ist quaarin bis zu einem gewissen Maß, aber deine Fähigkeiten gehen weiter als meine. Ich habe nur zu den Tieren gesprochen und sie haben mich verstanden. Aber es lag an ihnen, zu entscheiden, wie sie handeln. Das sind verständige Geschöpfe, keine wilden Bestien. Du hast es doch selbst gesehen.“


    Ànathuriel schwieg. Er hatte Recht. Wahrscheinlich hatte sie es die ganze Zeit nicht anders gemacht, ohne es selbst zu merken. Mit einem Unterschied: Sie hatte den Tieren nie Respekt entgegengebracht. Der Asuryani dagegen hatte ihren Respekt erlangt. Die Felchu hatten ihr nie gehorcht, sie waren bisher nur damit einverstanden gewesen, das zu tun, was sie von ihnen verlangte. Und dieses Mal waren sie es nicht gewesen.


    „Dein Name ist Firondhir“, sagte sie. „Und sein Name… war Illurayon. Es tut mir unendlich leid.“


    „Jetzt glaube ich dir“, entgegnete er, und ein trauriges Lächeln zog über sein Gesicht. „Und jetzt ergibt alles einen Sinn. Wir sind wegen dir hierhergekommen. Dein Prinz hat nicht gelogen, als er sagte, dass wir jemanden aus Commorragh auf unser Weltenschiff bringen sollten. Wen, wussten wir nicht, es sollte sich finden. Stattdessen hast du mich gefunden.“


    „So sieht es wohl aus. Und wie soll es nun weitergehen?“


    Firondhir seufzte tief. „Ich weiß es nicht.“

  • Kapitel 7

    Begegnungen



    Ànathuriel lag auf ihrem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Sie fühlte sich zutiefst erschöpft. Dem IstuKarun schien es ähnlich zu ergehen. Viel hatten sie nicht mehr gesprochen, obwohl sie viele Fragen hatte. Sie würden bis morgen warten müssen.


    Sie schaute das unter der Decke aufgespannte Tuch an. Es schimmerte dunkelblau wie ein Nachthimmel – oder zumindest wie sie sich einen Nachthimmel vorstellte. Tatsächlich war sie zwar schon das eine oder andere Mal bei Nacht auf einem Realweltraubzug gewesen, aber sich den Himmel anzuschauen, der Gedanke war ihr bisher nie gekommen.


    Fortgehen, auf ein Weltenschiff - ein seltsamer Gedanke. Was sollte sie dort? Was wusste sie überhaupt über die Asuryani? Dass sie ein freundloses Leben voller Zwänge führten, in ständiger Angst lebten vor Ihr, die Dürstet. Das war das Bild, das in Commorragh von ihren Vettern gepflegt wurde. Aber wenn sie es recht bedachte, frei von Zwängen war sie hier auch nicht. Sie stand im Dienst des Prinzen der Kabale, und wenn sie seinen Ansprüchen nicht genügte, konnte das fatale Folgen haben.


    Und freudvoll? Das hatte sie bisher zumindest immer gedacht. Sie konnte das tun, was sie wollte: wilde Tiere zähmen und abrichten für die Jagd. Das bereitete ihr Freude und verschaffte ihr Anerkennung und Privilegien am Hof. Was sollte sie sich mehr wünschen?


    Dunkle Erinnerungen suchten sich den Weg in ihr Bewusstsein. Erinnerungen, die sie am liebsten tief in sich begrub. Dort hinzukommen, wo sie jetzt war, war ein dorniger Weg gewesen, mit grauenhaften Erfahrungen, von Kindheit an. Aber jetzt brachte das, was sie gelernt hatte, ihr Sicherheit.


    Gleichwohl, das angenehme Leben, das sie führte, hatte einen Preis: die Abhängigkeit von ihrem Herrn. So wie sie ihre Tiere zähmte, so funktionierten auch die Kabalen. Das war Commorragh. Aber bevor der IstuKarun ihr dieses Angebot unterbracht hatte, hatte sie darüber nie nachgedacht. Es war selbstverständlich.


    Ein Angebot allerdings, das nicht viel wert war. Man verabschiedete sich nicht einfach aus dem Dienst eines Archons, reiste aus Commorragh ab und nahm dann auch noch einen Sklaven mit. Die Asuryani konnten auf ihren Weltenschiffen anscheinend jederzeit kommen und gehen, wie sie wollten. Aber warum sollte sie selbst das auch wollen? Es war doch alles gut. Quisars Vertrauen in ihre Fähigkeiten würde sie in kürzester Zeit wiederhergestellt haben. In einer Verpflichtung zu stehe, damit konnte sie gut leben, solange die Gegenleistung stimmte. Und das tat sie. Allerdings würde sie ihr Möglichstes daransetzen, Firondhir erst einmal bei sich zu behalten. Sicherlich konnte er ihr noch mehr erzählen. Und irgendwie war er ihr sympathisch.


    Sie drehte sich auf die Seite und zog die Decke über die Schultern.


    ***


    Es war dunkel und kalt. Der Raum schien unendlich weit, ohne Anfang, ohne Ende, nicht einmal mit einem Oben und einem Unten. Trotzdem hatte Ànathuriel nicht das Gefühl, dass sie schweben würde. Sie stand einfach nur da und sah sich um. Die Leere kam ihr vertraut vor, als wäre sie schon einmal hier gewesen, und aus irgendeinem Grund fühlte sie sich sicher und geborgen.


    Von irgendwo her kam ein Lichtschein, erst ganz schwach, sodass sie glaubte, sie hätte ihn sich nur eingebildet. Doch er wurde stärker, sodass sie ihm eine Farbe zuordnen konnte: ein weiches, warmes rosa. Sah so ein Sonnenaufgang aus? Sie war sich sicher, noch nie einen gesehen zu haben.


    Jetzt konnte sie einen Ursprung ausmachen und sie begann, ohne zu wissen warum, gemächlich darauf zuzugehen. Das Licht erhob sich nicht über den Horizont, es wurde einfach nur immer heller, fast unmerklich. Gleichzeitig glaubte sie, eine leise Musik zu hören. Keine Melodie im eigentlichen Sinne. Viel mehr eine scheinbar zufällige Abfolge von Tönen, die zusammen aber eine Art Harmonie bildeten. Als nächstes bemerkte sie einen Geruch in der Luft, süßlich und sehr angenehm, wie von Blumen und Früchten.


    Und dann hörte sie die Stimme. Eine sanfte, freundliche Stimme. Zuerst war es mehr ein Flüstern, doch bald konnte sie Worte unterscheiden. Die Stimme rief sie beim Namen. Sie forderte sie auf, zu ihr zu kommen.


    Ànathuriel folgte ihr. Mit jedem Schritt wurden die Eindrücke stärker. Das Licht, die Töne, die Gerüche umströmten sie und erfüllten sie mit Wohlbehagen, wie es ihr noch nie begegnet war. Die Stimme zeigte sich erfreut darüber, sie versprach mehr, so viel sie nur wollte, wenn sie zu ihr käme.


    Das Licht nahm jetzt fast den gesamten, endlosen Raum ein. Der rosige Sonnenaufgang begann sich aufzuspalten in Myriaden tanzender Farben. Und inmitten dieses Wirbels erschien nun eine Gestalt. Kein sich abzeichnender Schatten, sondern noch mehr Licht als das Licht selbst, schlank und groß, mit langen, wehenden Haaren. Nicht nur die Stimme, auch die Musik und der Duft schienen von ihr auszugehen. Einladend streckte das Wesen ihr die feingliedrigen Arme entgegen. Höchste Freude überkam Ànathuriel. Sie beschleunigte ihre Schritte, begann zu laufen. Sie wollte zu dem Wesen gelangen. Jede Faser ihres Körpers, jeder Funke ihres Geistes waren mit dem unbändigen Verlangen erfüllt, für alle Zeit von diesen wundervollen Wahrnehmungen umgeben zu sein. Und das leuchtende Wesen würde sie ihr freigiebig schenken.


    Unvermittelt setzten die Schmerzen wieder ein, das Reißen in der Brust, das Stechen im Kopf. Irgendetwas stimmte nicht. Ein Teil von ihr spürte wieder die Furcht, wollte weg, sich dem Wesen entziehen. Die Schmerzen wurden immer stärker, bis sie glaubte, sie würde entzweigerissen werden. Doch das Verlangen war mächtiger, begrüßte die Pein als Teil der unendlichen Sinnesfreuden.


    Das Wesen schien ihren Zweispalt bemerkt zu haben und darüber nicht erfreut zu sein. Die tanzenden, blendenden Farben erstarrten zu triefendem Rotviolett, die Musik verschmolz zu einem kreischenden Missklang und der Duft zog sich zu einem schweren atemraubenden Dunst zusammen. Die Lichtgestalt wurde dunkel und grauenerregend. Sie streckte ihre Arme aus und griff mit langen Fingern nach ihr. Die Erkenntnis brach über Ànathuriel herein wie ein Donnerschlag: Es war der Schrecken aus ihren Alpträumen, der Gestalt angenommen hatte. Sie setzte all ihren Willen daran, ihrem Zugriff zu entkommen, aber ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen. Er bewegte sich einfach weiter, angezogen von der finsteren Gestalt und ihren Versprechungen. Sie schrie in Panik und Verzweiflung, schrie noch weiter, als ein warmes Dunkel sie gänzlich umfing, sie festhielt und nicht nachgab, egal wie sehr ihre Glieder sich sträubten. Farben, Geräusche und Gerüche verblassten, als wären alle ihre Sinne mit einem Mal betäubt worden. Tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus.


    ***


    Finsternis umgab Ànathuriel. Sie lag auf dem Rücken, oder zumindest schien es ihr so. Ihr Herz klopfte laut und sie rang nach Luft. Die Schmerzen pochten weiter in ihrer Brust und den Schläfen und ebbten nur allmählich ab. Ihr war, als würde es um sie heller. Sie öffnete die Augen. Nur wenige Schritte entfernt zeichnete sich eine dunkle Gestalt in einem schwachen, rötlichgoldenen Lichtschein ab. Sie wollte wieder schreien, aber die Stimme versagte ihr.


    Firondhir trat ins Zimmer. Sofort konnte er die klamme Kälte und den schweren, süßlichen Geruch wahrnehmen. Er erschauerte bis ins Mark. SIE war hier gewesen. Aber nun war SIE fort. Ànathuriel schien reglos auf ihrem Bett zu liegen, die smaragdgrünen Augen starrten ins Leere. Firondhir erschrakt. Er kniete neben ihr nieder, berührte ihre Arme und strich über ihre Wange. Sie war kalt, ihre Haut wie mit einer dünnen Eisschicht überzogen, und sie zitterte am ganzen Körper. Aber sie war hier. Behutsam setzte er sich auf die Bettkante. Als Ànathuriel seiner gewahr wurde, fuhr sie hoch, klammerte sie sich an ihn und brach in Tränen aus. Firondhir legte seine Arme um sie und hielt sie fest an sich gedrückt. Dann begann er leise, eine ruhige Melodie zu summen.


    ***


    Ànathuriel stand im Vorzimmer zu Quisars Privatgemächern. Mit mehr Makeup als üblich hatte sie versucht, die sichtbaren Folgen der katastrophalen Nacht zu überdecken. Aber der schwere Kopf, die Konzentrationsschwäche und der immer noch nicht völlig zu Ruhe gekommene Puls blieben. Sie hatte es nicht gewagt, ein Stimulanzmittel zu nehmen. Wer weiß, was das für Auswirkungen auf ihren Geist und der dann auf anderes haben konnte.


    Ihre Gedanken kreisten um die Nacht. Den anfänglichen Versuch sich einzureden, dass es nur ein Alptraum gewesen war, hatte sie aufgegeben. Sie wusste ganz genau, was sie erlebt hatte. Und durch Firondhir wusste sie auch, warum. Quaarin. Dainnar. Drukhari hatten keine Psikräfte, Drukhari brauchten keine, nutzten keine. Warum, das hatte sie jetzt am eigenen Leib erfahren. Alles Bestreben ihres Volkes zielte darauf, sich dem Großen Feind zu entziehen. Heute Nacht hätte sie bereitwillig das Gegenteil getan, wenn nicht… Ja, was eigentlich? Was hatte sie zurückgehalten? Sie wusste es nicht. Sie war sich nur sicher, dass sie es nicht selbst gewesen war. Dazu war ihr Wille zu schwach gewesen.


    Die hohe Tür aus schwarzem Metall öffnete sich. Ànathuriel sammelte kurz ihre Gedanken und trat ein.


    Quisars Salon war genauso siebeneckig wie der Hauptraum ihrer Suite, doch ungleich größer. In der Mitte des Zimmers gruppierten sich niedrige Diwane um einen ovalen Tisch aus dunklem Stein und geschwungenem Stahl. Zwei Wände wiesen nach außen. Die hohen Fensteröffnungen füllte regelmäßiges Gitterwerk aus weißgoldenem Metall aus. Davor hingen durchscheinende Vorhänge aus blassgrünem Tuch bis zum Boden herab. Regale nahmen die drei inneren, türlosen Wände von Boden bis zur Decke ein. In den Fächern fand sich eine Sammlung unterschiedlichster Objekte: Schmuckstücke und Kunstwerke fremder Kulturen, präparierte Körperteile unterschiedlichster Spezies, Waffen und Gegenstände, deren Zweck sich nicht einmal erahnen ließ. Und dazwischen eine beträchtliche Anzahl von Büchern, Karten und Schriftrolle. Ànathuriel betrachtete die Sammlung mit Neugier und Staunen.


    „Ich nehme an, ein so vielseitiges Interesse hättest du mir nicht zugetraut.“


    Sie wandte sich um. Quisar war durch die einzige andere Tür aus dem Nachbarzimmer eingetreten und ließ sich auf einem der Diwane nieder.


    „Setz dich.“ Er wies mit einladender Geste auf die Polster. Derweil trugen untersetzte, blauhäutige Sklaven mit nasenlosen Gesichtern und mandelförmigen Augen Tabletts mit Kristallgläsern und einer Karaffe voll blassgoldener Flüssigkeit herein und stellten sie auf den Tisch.


    „Bediene dich nur“, sagte Quisar. „Du erscheinst mir, als könntest du eine Stärkung gebrauchen.“


    „Danke, mein Prinz“. Sie hoffte, dass das nur eine Floskel war, goss sich aber nur wenig ins Glas und nippte daran. Die belebende Wirkung der Seelenessenz setzte augenblicklich ein und Quisar hatte recht. Sie linderte die Folgen ihres nächtlichen Traumas spürbar. Und dennoch, zum ersten Mal überhaupt, hatte sie ein ungutes Gefühl dabei.


    „Wir können es weniger förmlich halten“, entgegnete Quisar. „Wir kennen uns inzwischen lange genug und teilen eine Passion. Und da wir grade davon sprechen: Hast du von dem Asuryani etwas erfahren?“


    „Noch nicht“, antwortete sie rasch. „Er hat sich als äußerst halsstarrig erwiesen. Aber ich bin auf eine Spur gestoßen.“


    „Das freut mich zu hören. Dann freut dich vermutlich zu hören, dass ich vorhabe, den IstuKarun auf die nächste Jagd mitzunehmen. Im Grunde hattest du Recht. Sirqa hat ihre Kunstfertigkeit bewiesen. Jetzt gebe ich dir die Gelegenheit zur Revanche. Sie zu, dass du bis dahin mit ihm fertig bist. Ich lasse dir beizeiten Bescheid geben.“


    Eine Sekunde des Schreckens durchfuhr sie. Das war nicht das, was sie im Sinn hatte, jetzt nicht mehr. Die Vorstellung, Firondhir wieder dem Archon zu überlassen, widerstrebte ihr zutiefst.


    „Ich bin euch zu Dank verpflichtet, mein Prinz“, sagte sie.


    „Sehr gut. Aber nun zu meinem eigentlichen Anliegen.“


    Ànathuriel stutzte. Sie hatte gedacht, die Jagdfalken wären das eigentliche Anliegen für ihr Audienz gewesen.


    „Was du hier siehst“, Quisar deutete auf die drei Regalwände, „ist meine kleine Sammlung. Wenn ich die Zeit dazu finde, studiere ich die antiken Überlieferungen der niederen Völker. Es ist erstaunlich, wie viele nützliche Ideen manche hinterlassen haben. Und unverständlich, mit wie viel Ignoranz das von unserem Volk geringeschätzt wird.


    Ein Mythos der Chem-Pan-Sey erzählt von einem König, der mit tausenden Kriegern jahrelang eine Stadt belagerte. In der Zwischenzeit nutzte sein Vetter die Gelegenheit, verführte seine Königin und riss mit ihrer Hilfe das Königreich an sich. Als der König schließlich siegreich und arglos heimkehrte, ermordeten die beiden ihn hinterhältig.“


    Ànathuriel schwieg. Sie hatte nicht die geringste Vorstellung, auf was der Archon hinauswollte. Zumal diese Geschichte nicht besonders außergewöhnlich war. Derlei Dinge ereigneten sich in Commorragh täglich. Quisar fuhr fort: „Es sind diese simplen Erzählungen der einfachen Völker, die so wunderbar das Wesentliche aufzeigen. Diesem König fehlte es nicht nur an dem nötigen Misstrauen. Nein, er war sogar gewarnt. Denn bei der Eroberung der Stadt erbeutete er eine Priesterin, die eine Seherin war. Aber der Narr schenkte ihren Vorhersagen keinen Glauben.“


    Eine düstere Ahnung keimte in Ànathuriel auf.


    „Wie du dich vielleicht erinnerst, hatte ich dich gefragt, woher dein Talent kommt. Ich denke, ich habe eine Antwort gefunden.“


    Ihre Kehle schnürte sich zusammen, während der Archon weiterredete. Ihre Hände klammerten sich an dem Becher fest. Sie zwang sich zu einem flachen, gleichmäßigen Atem, um äußerlich Ruhe zu bewahren und sich nichts anmerken zu lassen.


    „Unsere Ahnen hatten unglaubliche geistige Kräfte. Wir haben sie aufgegeben und heute gibt es niemanden mehr, der diese Begabung nutzen kann. Zumindest glaubten wir das bisher. Aber was wäre, wenn ein Drukhari geboren würde, in dem diese Macht wieder auflebt? Was wäre, wenn du so eine Drukhari bist?“


    Ànathuriel versuchte, unverbindliche zu klingen. „Ich glaube nicht, dass so etwas möglich ist. Und selbst wenn, es ist nicht erlaubt.“


    Kurz kochte Zorn in Quisar hoch. „Sage mir nie, was erlaubt ist, Ànathuriel!“ Dann sprach er ruhig weiter. „Siehst du das naheliegende nicht? Wie anders erklärst du dir, was du mit dem Losseainn gemacht hast? Diese Chem-Pan-Sey sind mächtig und gnadenlos. Er hätte dir mit einer Hand das Genick gebrochen.“


    Wie nahe sie dem wirklich gewesen war, daran mochte sie sie nicht erinnert werden. „Aber selbst, wenn“, räumte sie ein, „wenn irgendein Drukhari diese Kräfte in sich trüge, wie sollte er sie nutzen. Es ist zu gefährlich.“


    Quisar lachte. „Nichts ist so gefährlich, dass es nicht ein Mittel gäbe, es zu beherrschen. Das müsstest du doch selbst am besten wissen. Hast du jemals vor irgendeiner noch so wilden Kreatur zurückgescheut?“ Das hatte sie nicht. Eine lange verdrängte Erinnerung regte sich. Doch selbst dieses Erlebnis, das sie bisher für das schlimmste gehalten hatte, was ihr hätte widerfahren können, war nichts gewesen im Vergleich zu…


    „Und das Mittel kennen wir längst.“ Quisar wies auf die Karaffe auf dem Tisch. Befremdet betrachtete sie die Flüssigkeit in ihrem Glas.


    „Seelenessenz von Psionikern“, lächelte Quisar. „Nur Chem-Pan-Sey und einige wenige andere empfängliche Spezies. Aber stell dir vor, wir hätten die Essenz von Sehern der Asuryani. Sie würde unsere eigenen schützen und wir könnten ihre Macht nutzen.“ Er beugte sich zu Ànathuriel vor. „Und du könntest die Erste sein.“


    Ànathuriel schnappte nach Luft. Sie konnte nicht glauben, was sie eben gehört hatte. Quisar musste den Verstand verloren haben.


    „Ich weiß, die Vorstellung ist atemberaubend. Du musst deine Gabe entwickeln. Und ich bin kein Narr wie jener König der Chem-Pan-Sey. Ich möchte dir dabei helfen. Du kannst alles haben, was du dir wünschst. Die einzige Gegenleistung ist, dass du mir mit deinen Fähigkeiten hilfst, Hoher Archon der Kabale zu werden.“


    Ànathuriel lehnte sich in scheinbar lässiger Entspannung langsam zurück, um Zeit zu gewinne, um das, was sie gehört hatte vollends zu Begreifen und um nicht die Kontrolle über ihren vor Anspannung zitternden Körper zu verlieren. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Dennoch musste sie rasch eine Antwort geben, und zwar eine, die Quisar möglichst zufriedenstellte. Sie holte langsam tief Luft, während sie noch einmal an ihrem Glas nippte und Quisar über den Rand hinweg ansah. „Nur Hoher Archon dieser Kabale?“ fragte sie.


    „Ich sehe, wir verstehen uns“, antwortete Quisar.


    ***


    Als die Tür zum Salon sich hinter ihr schloss, lehnte Ànathuriel sich gegen eine der Wände des Vorzimmers, schlug die Hände vors Gesicht, und atmete tief durch. Sie versuchte immer noch zu realisieren, was grade geschehen war. Das Schlimmste war, dass alles völlig logisch war. Quisar war hochintelligent und nach allem, was er über die psionischen Fähigkeiten ihres Volkes wissen konnte, war sein Einfall mehr als naheliegend. Er hatte keine Vorstellung von dem, was sie letzte Nacht erlebt hatte, was jedes Mal passiert war, wenn sie diese Fähigkeiten bewusst eingesetzt hatte. Alle Seelenessenz der Galaxis würde das nicht verhindern können. Quisar war Drukhari durch und durch. Die Idee, nicht all seinen Fähigkeiten zu gebrauchen, um mehr Macht zu erlangen, war ihm völlig fremd. Die Idee, die Fähigkeiten anderer für seine eigenen Ziele nicht auszunutzen, noch fremder. Die Konsequenzen spielten keine Rolle, vor allem, wenn andere sie tragen mussten. Was er von ihr erwartete, würde sie umbringen. Wenn sie sich weigerte, konnte das Ergebnis das gleiche sein.


    „Bestienmeisterin!“


    Ànathuriel wirbelte herum. Quisars Schwester stand vor ihr. Sie hatte sie nicht kommen hören. Ihr finsteres Gesicht und das Funkeln in den violetten Augen verhieß nichts Gutes.


    „Herrin“, antwortete Ànathuriel und verneigte sich.


    Sirqa trat noch einen Schritt näher, so dass sie sich Auge in Auge gegenüberstanden. Ànathuriel konnte ihr blumiges Parfum riechen. Sie hatte das Gefühl, einer aufgerichteten Kobra gegenüberzustehen, die jeden Moment zubeißen konnte.


    „Oder sollte ich besser sagen ‚Seherin‘?“ raunte Sirqa mit spöttischem Unterton, so leise, dass nur sie beide es hören konnten.


    Ànathuriel schwieg. Die Schwester des Archons schätzte ihre bisherigen Fähigkeiten wenig. Sie rechnete nicht damit, dass sich dies bei ihren neuen anders verhielt.


    „Man erzählt manches über die Fähigkeiten unserer Ahnen“, fuhr Sirqa fort. „Ich warne dich ein einziges Mal. Betrachte dies als meine besondere Gunst für deine bisherigen Dienste. Mein Bruder gibt viel auf diese arkanen Künste. Wage es nicht, sie gegen unsere Ziele einzusetzen.


    „Das habe ich nicht vor, Herrin.“


    „Halte dich daran. Andernfalls wirst du bei keinem Bissen, den du zu dir nimmst, bei keinem Atemzug, den du tust, sicher sein können, ob dieser oder erst der nächste dich getötet hat. Dann werden wir sehen, ob die Gabe der Seher den Künsten des Shaimesh gewachsen sind.“ Ohne ein weiteres Wort oder eine Antwort abzuwarten, wandte Sirqa sich um und glitt so geräuschlos davon, wie sie gekommen war.


    Ànathuriel wurde übel. Sie wollte nur noch weg, zurück in ihre Suite. Irgendetwas vermittelte ihr den Eindruck, dass sie dort sicher war – vorerst zumindest. Sie wollte zurück zu Firondhir. Gestern hatte sie seinen Vorschlag, Commorragh zu verlassen, noch für absurd gehalten. Jetzt hätte sie lieber heute als morgen einen Weg gefunden, das zu erreichen. Hier konnte sie nicht bleiben.


    Sie eilte durch die dämmrigen, verwinkelten Korridore. Der Palastturm war eine kleine Stadt für sich, auf unzähligen Ebenen, verbunden mit Galerien und Treppen, von denen sich keine an der gleichen Stelle befand wie die darüber. Durch die vieleckigen Räume der Wohneinheiten glich kein Gang dem anderen. Sie knickten in verschiedenen Winkeln ab, liefen mal schmaler, mal weiter zu, zweigten auseinander und öffneten sich zu asymmetrischen Plätzen – ein Labyrinth, in dem sich jeder Fremde unweigerlich verirren musste. Je weiter sie sich von den herrschaftlichen Räumen entfernte, je weiter sie in die tieferen Etagen der Wohnbereiche hinabstieg, umso mehr beruhigte sie sich.


    Eben ging Ànathuriel an der Einmündung eines schmalen Gangs vorbei, vermutlich einer Sackgasse zwischen zwei schräg aneinanderstoßenden Räumen, als sich ihr unvermittelt ein hoch aufragender, formloser Schatten in den Weg stellte. Instinktiv ging sie in Abwehrhaltung und griff nach der langen, gebogenen Hekatari-Klinge, die sie immer bei sich trug. Doch kaum hatte sie die Hand zum Rücken geführt, packte jemand von hinten zu, hielt ihr den Arm in einer schmerzhaften Biegung fest und legte die andere Hand über ihren Mund. Sie wurde in die Gasse gezerrt. Der Schatten folgte.


    In der Gasse ließ der zweite Unbekannte ihren Arm los und stand in einer geschmeidigen Drehbewegung plötzlich vor ihr. Wie aus dem nichts hatte er eine längliche dreieckige Klinge in der Hand und hielt sie ihr an den Hals.


    „Keinen Laut“ zischte er. Ànathuriel nickte.


    Der Fremde streckte die Hand aus. Sie übergab ihm ihr Messer. Er reichte es an seinen Kumpanen weiter. Dann zog er die Kapuze seines langen, schwarzen Mantels ab.


    Er war ein Aeldari, mit kantigem Gesicht, wasserblauen Augen und langen blonden Haaren, die ihm in Strähnen in der Stirn hingen und sogar die spitzen Ohren verdecken. Auch sein Begleiter gab sich nun zu erkennen. Sein Gesicht war blass und jung, fast noch ein Knabe, mit großen, beinahe durchsichtigen Augen, in denen eine tiefe Traurigkeit lag. Nur die oberen seiner kinnlangen, nussbraunen Haare trug er als einen kurzen Zopf.. Ànathuriel entspannte sich. Etwas sagte ihr, dass sie es mit Freunden zu tun hatte.


    Der Blonde schien die Veränderung ihrer Haltung bemerkt zu haben, denn er nahm die Klinge von ihrer Kehle und ließ sie in seinem weiten Ärmel verschwinden.


    „Wo sind unsere Gefährten?“ fragte er.


    „Ihr seid Freunde von Firondhir“, entgegnete sie.


    Der Blonde sah sie überrascht an. Sein Blick verfinsterte sich. „Was hast du deinen Leuten von uns erzählt?“


    „Garnichts“, antwortete sie. „Bis eben wusste ich nichts von euch. Aber Firondhir ist bei mir. Ihr seid IstuKarun, wie er.“


    Der Jüngere hatte sie die ganze Zeit mit großen Augen angestarrt. Jetzt trat er an seinen Gefährten heran und legte ihm die Hand auf den Arm. Ohne Ànathuriel dabei aus den Augen zu lassen, wisperte er ihm zu: „Margil, es ist sie.“


    Der angesprochene stutzte. „Wie kommst du jetzt darauf?“


    „Schau hin, kannst du es denn nicht sehen?“


    „Ich sehe eine Drukhari, Ydrir. Eine Drukhari, die anscheinend mehr über uns weiß als wir über sie.“


    „Ich bringe euch zu ihm“, warf Ànathuriel ein.


    „Du kannst ihr vertrauen“, versicherte Ydrir. „Sie ist die, die wir suchen.“ Er sah Ànathuriel noch einmal eindringlich an. „Und sie weiß das auch.“


    „Dein junger Freund sagt die Wahrheit. Aber hier ist nicht der richtige Ort, weiter darüber zu sprechen. Ich hatte heute ohnehin schon genug davon. Folgt mir.“

  • Kapitel 8

    Annäherung



    Während des Weges zu ihrer Suite fühlte es sich für Ànathuriel an, als würde sie von lebenden Schatten begleitet. Sie ging den beiden IstuKarun ein Stück voran. Immer wieder begegneten ihr Kabalenkrieger oder anderes Fußvolk. Anfangs wurde sie jedes Mal etwas nervös. Aber stets war es, als wären die beiden Asuryani einfach verschwunden. Konnten sie ihre Gedanken lesen? Sie selbst tat jedenfalls nichts dergleichen. Den Namen „Heimliche Jäger“ trugen sie zurecht. Ihre Fähigkeit, sich unsichtbar zu bewegen, konnte sich mit der der Mandraceilan messen. Und die waren nicht von dieser Welt.


    ***


    Firondhir saß an dem Tisch in der Mitte des Salons, von der Eingangstür der Suite abgewandt, verdeckt hinter der Pflanzeninsel. Er wollte lieber nicht sofort gesehen werden. Das leise Knarren, mit dem die Türlamellen sich aufschoben, ließ ihn sich umschauen. Es war nicht Ànathuriel, die eintrat. Einen Moment war Firondhir starr vor Überraschung, dann sprang er auf und eilte Margil und Ydrir entgegen. Freudig begrüßten sie sich mit Handschlägen.


    Ànathuriel trat als letzte ein, versicherte sich noch einmal, dass niemand sie gesehen hatte, und verschloss die Tür, indem sie mit der Hand über die Lamellen strich. Sie beobachtet das Wiedersehen der drei Asuryani. Unwillkürlich musste sie lächeln. Sie fühlte sich auf eigenartige Weise berührt von dem, was sie sah.


    „Wir haben einiges zu besprechen, denke ich“, sagte sie. „Kommt, setzen wir uns.“


    Die Ranger legten ihre Mäntel und Taschen ab. Zusammen nahmen sie um den Tisch herum Platz. Ànathuriel stellte eine Karaffe mit dunkelroter Flüssigkeit, Gläser und eine Schale mit fast weißen, faserigen Streifen auf den Tisch. Nach ihren Sklaven zu rufen, war ihr in diesem Moment gar nicht erst in den Sinn gekommen.


    Misstrauisch betrachtete Ydrir das Aufgetragene. „Was ist das?“ fragte er.


    „In heißem Öl gegartes Fleisch“, antwortete Ànathuriel. Der junge Weltenläufer verzog leicht angewidert das Gesicht. Irritiert fragte sie: „Essen die Asuryani kein Fleisch?“


    „Selten“, antwortete Firondhir für ihn. „Die Weltenschiffe haben begrenzte Ressourcen und nutzen sie mit Bedacht. Der Aufwand, um eine Vielzahl großer Tiere zu halten, die als Nahrung dienen, übersteigt meist den Nutzen.“


    Auf befremdliche Weise schien Ànathuriel das einleuchtend. Ein Gedanke, auf den in Commorragh niemals jemand kommen würde.


    „Das hier ist von großen Nagetieren, die auf einer Sumpfwelt in Mengen vorkommen. Nichts Besonderes. Wir halten einige in der Menagerie, als Beschäftigung für die Jagdfalken des Prinzen. Ihr könnt es bedenkenlos essen.“


    „Zumindest tötet ihr die Tiere nicht völlig sinnlos“, bemerkte Firondhir.


    Damit hatte er nicht ganz unrecht, musste sie einräumen.


    „Wer die Speisen der Drukhari anrührt, kann die Dunkle Stadt nie mehr verlassen“, sagte Ydrir, mehr zu sich selbst als zu den anderen.


    „Was?“ entfuhr es Ànathuriel mit Unverständnis.


    „Das ist abergläubischer Unsinn“, schalt Margil und goss sich ein Glas ein.


    „Ich weiß nicht, welche Geschichten du gehört hast, aber wir sind Wesen aus Fleisch und Blut wie ihr. Auch wir essen normale Nahrung“, ergänzte Ànathuriel.


    „Bitte verzeih“, sagte Ydrir verschämt. „Margil hat wohl recht.“ Dennoch ließ er sein Glas unberührt.


    Ànathuriel setzte sich nachdenklich. Möglicherweise war an dem Aberglauben sogar ein Stück Wahrheit. Was mochte ein Entsagungen gewohnter Asuryani empfinden, wenn er die unbegrenzten Vergnügungen der Dunklen Stadt erlebte? Wie mochte dann erst Seelenessenz auf sie, die psionisch noch viel empfänglicher waren, wirken?


    Indessen betrachtete Margil Firondhir von oben bis unten. Ànathuriel hatte ihm inzwischen bessere Kleidung besorgen lassen: ein hüftlanges, gewickeltes Hemd mit breitem Gürtel, eine kurzärmelige Jacke mit filigranen Silberknöpfen, halblange Hosen, Strümpfe und Stoffschuhe. Die dunklen Haare hatte er zu einem Knoten gebunden. Von der Bisswunde auf seiner Wange war noch ein großer blauer Fleck übrig.


    „Dir hätte es schlimmer ergehen können“, bemerkt Margil.


    „Du hast keine Vorstellung“, antwortete Firondhir düster.


    „Ein wenig schon. Wir haben einiges aufgeschnappt in den letzten Tagen“, entgegnete er.


    „Wie seid ihr überhaupt hier hereingekommen?“ fragte Firondhir.


    „So, wie es ursprünglich geplant war. Wir haben mehr als einen Tag gewartet, bis der nächste Sklavenzug kam. Es war beim ersten Versuch schlicht der falsche Zeitpunkt.“


    Ydrir wurde von einem tiefen Schauer geschüttelt. Firondhir hatte nicht gesehen, was genau mit seinem Bruder geschehen war, aber er konnte es sich vorstellen. Mitfühlend legte er dem Jungen eine Hand auf die Schulter.


    Margil beeilte sich fortzufahren. „Danach haben wir uns in diesem sogenannten Kabalenpalast versteckt und Etage für Etage hochgearbeitet. Unser Ydrir hat ein ausgesprochenes Talent, Gefahren aus dem Weg zu gehen. Irgendwann haben wir dann von den IstuKarun gehört, die gefangen und dem Sohn des Archons vorgeführt wurden. Ich wünschte, wir hätten früher von euch erfahren.“


    Schweigen setzte ein. Ànathuriel konnte die Bitterkeit von Verlust und Trauer spüren. Das war ungewohnt. Drukhari ergötzten sich am Leid anderer, sie lebten dafür. Doch die Emotionen, die dabei freigesetzt wurden, waren für gewöhnlich extremer, berauschender. Jetzt war es anders. Um die unbehagliche Stille zu durchbrechen, fragte sie: „Wie habt ihr das geschafft? Der Palast ist ein Labyrinth.“


    Margil lachte. „Ein Labyrinth hält einen Weltenwanderer nicht auf, es bringt ihn an sein Ziel.“


    „Bringt es ihn auch wieder zurück?“ fragte Firondhir. „Denn unsere Suche war erfolgreich.“


    „Ich weiß“, entgegnete Margil. „Oder besser gesagt, Ydrir wusste es, kaum, dass er sie gesehen hatte.“


    „Falls es dich interessiert“, warf sie ein, „mein Name ist Ànathuriel, Bestienmeisterin des Prinzen von DorchaKerun.“


    Margil verstummte einen Moment. Erst jetzt ging ihm auf, dass sie sich noch nicht einmal einander vorgestellt hatten.


    „Du hast natürlich recht. Bitte verzeih.“ Er erhob sich und deutet eine kurze Verbeugung an. „Ànathuriel, Bestienmeisterin, ich bin Margil, Weltenwanderer, und dies ist Ydrir, Weltenläufer des Weltenschiffes ZarAsuryan. Wir möchten dich im Namen des Ersten Runenpropheten AreIdainn Eathalvaën einladen und bitten, uns auf das Weltenschiff zu begleiten.“ Er setzte sich wieder.


    Ànathuriel schaute ihn einen Moment verdutzt an. „Äh, danke?“ stammelte sie.


    „Ydrir hat richtig gesehen“, nahm Firondhir das Gespräch wieder auf. „Ànathuriel ist eine Dainnar. Ich habe es selbst erlebt. Und“, er senkte seine Stimme „dem Großen Feind ist es auch nicht verborgen geblieben.“


    Ànathuriel fröstelt. Sie rieb sich die Schläfen mit den Fingerspitzen. Margil und Ydrir starrten sie an.


    „Du hast Psikräfte angewandt? Hier, in Commorragh? Ohne Anleitung? Ohne Schutz?“ fragte Ydrir ungläubig.


    „Ja. Ich wusste nicht, was es ist. Und ich habe nicht vor, es noch einmal zu tun“, antwortete sie. „Und genau das ist das Problem. Und nicht das einzige.“


    In aller Kürze berichtete Ànathuriel von ihrer Audienz bei Quisar an diesem Morgen. Danach herrschte bestürztes Schweigen.


    „Er hat keine Ahnung, was er da vorhat“, stieß Ydrir entsetzt hervor. „Er bringt nicht nur dich und sich in Gefahr, sondern die ganze Stadt. Wenn er dich zwingt, eine Verbindung zum Warp herzustellen, liefert er jede einzelne Seele hier an Sie, die Dürstet aus.“


    „Die anderen Kabalen und der Großfürst werden das nicht zulassen. Eher vernichten sie DorchaKerun mit vereinten Kräften, wenn sie davon erfahren. Wenn sein eigener Vater ihnen nicht zuvorkommt und ihn beseitigen lässt – und mich. Aber so naiv ist Quisar nicht. Er wird nach Möglichkeiten außerhalb des Netzes suchen. Der Hohe Archon hält mehrere Welten für sein Eigentum, ‚Kurnous Gärten‘, seine Jagdreviere.“


    „Dann wird Quisar sicherlich über kurz oder lang zu einer dieser Welten aufbrechen“, sagte Firondhir. „Aus Commorragh kommen wir allein nicht hinaus, jetzt nicht mehr. Aber wenn wir auf einer Welt außerhalb sind, auf der es ein Tor zum SercamBelach gibt…“


    „Eher kurz als lang“, warf Ànathuriel ein. „Ich trainiere seine Felchu für die Jagd. Das ist ein höfischer Brauch, mit dem die Herren von DorchaKerun ihre Abstammung von Kurnous demonstrieren.“


    „Die halten sich für Halbgötter?“ entfuhr es Ydrir. „Asuryans Weisheit!“


    „Davon scheinen sie nicht viel zu haben“, bemerkte Margil.


    „Weißt du, wann es so weit ist?“ fragte Firondhir.


    „Nein“, antwortete Ànathuriel. „Aber ich werde es rechtzeitig erfahren. Und vorher werden sie dich holen.“


    Firondhir zögerte kurz. Die Aussicht, wieder in die Gewalt der Drukhari zu geraten, ließ ihn schaudern.


    „Das werde ich auf mich nehmen. Aber für Margil und Ydrir müssen wir einen Weg finden, sich in die Jagdgesellschaft einzuschleichen.“


    „Können wir nicht einfach auf das Schiff gelangen, so wie wir in den Palast gelangt sind?“ schlug Ydrir vor.


    „Die Jagden sind keine Raubzüge wie andere Kabalen sie veranstalten“, erklärte Ànathuriel. „Quisar benutzt eine Jacht und lädt nur ausgewählte Gäste ein. Die Besatzung besteht aus seiner persönlichen Garde. Unter gewöhnliche Kabalenkrieger könntet ihr euch mischen, aber nicht unter seine Fleischgeborenen.“


    „Niemand weiß von Ydrir und mir außer dir“, warf Margil ein. „Warum sollte es nicht gelingen, zwei dieser Fleischgeborenen auszuschalten und ihre Plätze einzunehmen?“


    „Glaub mir, du stellst es dir zu leicht vor. Sie sind die Elite der Kabalen. Als Krieger sind ihnen nur die Incubi überlegen. Quisar hat jeden einzelnen seines Gefolges selbst ausgesucht. Und mit diesem Selbstverständnis behandeln sie auch jeden anderen.“


    „Du unterschätzt die Fähigkeiten eines IstuKarun, Ànathuriel. Aber wie sollen wir deiner Meinung nach sonst vorgehen. Hast du einen Einfall?“


    „Nicht für euch alle drei, nein.“


    „Dann, schlage ich vor, verfolgen wir Margils Plan und hoffen, dass sich in der Zwischenzeit eine bessere Gelegenheit ergibt“, sagte Firondhir. „Ydrir?“


    „Ich kann weder zustimmen noch ablehnen“, antwortete er.


    „Unser Junge redet wie ein Runenprophet“, sagte Margil amüsiert.


    ***


    In den folgenden Tagen durchstreiften Margil und Ydrir die Palastfestung und versuchten, so viel wie möglich über die Abläufe und Tätigkeiten von Quisars Elitetruppen herauszufinden. Ihre Quartiere, so viel konnte Ànathuriel ihnen sagen, befanden sich in den Ebenen unmittelbar unterhalb der fürstlichen Räume in der Turmspitze. Hier hatten sie auch ihre Rüstkammern, Trainingshallen und Vergnügungsgemächer. Nur dem Hohen Archon und seiner Familie stand mehr Luxus zur Verfügung als den Fleischgeborenen. Und nur die Räume des Hohen Archons waren besser bewacht.


    Firondhir indes war zur Untätigkeit verdammt. Wie Margil, wie Illurayon war er ein Weltenwanderer, gefangen auf dem Pfad der Ausgestoßenen. Sich lange an einem Ort aufhalten zu müssen, nicht seine eigenen, selbstgewählten Wege gehen zu können, versetzen ihn in Unruhe. Schlimmer noch. In den Stunden, die er allein in Ànathuriels Räumlichkeiten verbrachte, kehrten die Erinnerungen zurück und schienen lebhafter zu werden denn je. Nicht nur die jüngsten Erinnerungen an Illurayons Tod durch seine Hand, die ihn auffahren ließen, wann immer er versuchte, etwas Ruhe zu finden. Auch weiter zurückliegende, an seine Jugend auf dem Weltenschiff, die Ereignisse, die ihn auf den Pfad der Ausgestoßenen getrieben hatte, der Weg in die Verdammnis, auf dem er sich befunden hatte, ehe Illurayon auf ihn gestoßen war und ihn gerettet hatte.


    Um sich abzulenken versuchte Firondhir, mit Ànathuriels Haussklaven Bekanntschaft zu schließen, zwei jungen Aeldari, doch keine Asuryani. Sieri, so vermutete er. Sie hatten etwas Naives an sich, nicht die unterschwellige Verschlagenheit, die selbst die niedersten Drukhari umwehte. Doch obwohl er nicht hatte beobachten können, dass ihre Herrin sie misshandelte, waren sie schweigsam und zurückhaltend. Er konnte es ihnen nicht verdenken.


    Ànathuriel war es derweil nicht entgangen, dass Firondhir von Tag zu Tag rastloser und schwermütiger wurde. Wenn Ydrir und Margil nach oft mehrtägiger Erkundung zurückkehrten, verschlimmerten ihre Berichte seinen Zustand nur. Während seine Freunde im zweiten Zimmer schliefen, saß er über Stunden allein im Salon. Erst wenn sie fort waren, legte er sich hin. Dass er dabei Schlaf fand, bezweifelte sie, gleichwohl er reg- und lautlos dalag. Wenn sie ihn ansah, glaubte sie, ihn mehr und mehr dahinschwinden zu sehen. Es schmerzte sie, auch wenn sie nicht sicher war, warum. Und es trieb sie dazu, etwas für ihn tun zu wollen.


    Am nächsten Morgen ließ sie sich Zeit, sich für die Arbeit mit den Tieren vorzubereiten. Als sie schließlich aus ihrem Zimmer trat, saß der Weltenwanderer schon wieder vor sich hinbrütend auf der Polsterbank. Sie stellte sich vor ihn und hielt ihm das zerschlissene Hemd entgegen. Er sah verwundert zu ihr auf.


    „Zieh das über!“ sagte sie. „Sklaven laufen hier nicht so gut gekleidet herum. Das wäre zu auffällig.“


    Immer noch verwirrt ergriff er das Kleidungsstück und streifte es sich über.


    „Und jetzt komm mit!“


    ***


    Ànathuriel und Firondhir standen am Rand der Dressurhalle. Warum er ihr ohne Widerspruch, ohne Fragen zu stellen gefolgt war, war Firondhir selbst nicht ganz klar. Vielleicht war es einfach nur der Instinkt, sein bequemes Gefängnis zu verlassen, egal wohin. Nun scharrten sich die sechs Falkenhunde um sie, aufgeregt tänzelnd und schnarrend.


    „Und jetzt?“ wollte der Weltenwanderer wissen. Nun überkam ihn doch Unbehagen. Das hier war kein Ort der Erbauung.


    „Du brauchst etwas Abwechslung, scheint mir“, antwortete die Bestienmeisterin. Sie legte ihren Speer auf den Boden, trat zu einem Kontrollpaneel an der Wand im Schatten der Alkoven und aktivierte einige leuchtende Runen.


    Ein Summen ertönte, dann ein Knacken und Ächzen. Der Boden des Ovals erzitterte, die Sandkörner begann zu tanzen und zu fließen. Aus der Fläche erhoben sich Formen aus schwarzem Gestein: Säulen, Bögen, Rampen, übereinander gestapelte Blöcke. Als sie zur Ruhe gekommen waren, füllte eine schroffe, vielgestaltige Landschaft die Halle.


    Erstaunt hatte Firondhir den Verwandlungsprozess beobachtet.


    "Findest du den Weg hindurch, ehe die Felchu dich einholen?“, fragte Ànathuriel. Misstrauisch sah der Asuryani sie an. Sie lachte: „Keine Sorge. Die tödlichen Fallen habe ich deaktiviert. Und dass die Tiere dir zugetan sind, egal, welche Befehle ich ihnen gebe, haben wir doch auch schon festgestellt.“


    Er blieb immer noch stumm.


    „Sie es als Training an, als Spiel. So etwas hier müsste deinen Fertigkeiten doch entsprechen, IstuKarun.“ Als wollte er ihre Worte unterstützen, stieß Arithav den Weltenwanderer mit dem Kopf an.


    Firondhir rang sich ein Lächeln ab. Sie schien es ernst zu meinen, ihm einen Gefallen tun zu wollen. Und eigentlich hatte sie recht. Das hier schien eine angemessene Herausforderung.


    „Nun gut“, stimmte er zu und wandte sich einer Öffnung zwischen den Strukturen zu.


    „Wir geben dir einhundert Herzschläge Vorsprung“, sagte Ànathuriel. „Ich erwarte dich am anderen Ende.“ Firondhir nickte und tauchte in das Labyrinth ein.


    Sie hatte nicht zu viel versprochen. Die steinerne Landschaft war eine Herausforderung. Die Elemente lagen so willkürlich und unwahrscheinlich übereinander, als hätte ein Kind eine Schachtel mit Bauklötzen ausgeschüttet. Firondhir suchte seine Wege durch engste Spalten, über steilen Rampen und schmale Stege. Wann immer er konnte, erklomm er erhöhte Punkte und sah sich um, um die Richtung nicht zu verlieren. Sobald die Felchu ihm auf den Fersen waren, konnte er dies nicht mehr tun, ohne Gefahr zu laufen, seine Position zu verraten, denn diese Tiere jagten mit Augen und Ohren. Doch sie konnten sich nicht lautlos bewegen. Er schon.


    Schon nach kurzer Zeit vergaß er alles andere, ging sein Bewusstsein ganz im Reiz der Aufgabe auf, konzentrierte sich völlig auf Weg und Ziel. Er konnte die Klauen seiner Verfolger auf dem Stein scharren hören, ihre unterdrückten Laute, mit denen sie sich verständigten. Stets wusste er, wo sie waren, ging ihnen aus dem Weg, verbarg sich in Nischen und hinter Ecken, verharrte und huschte lautlos an den suchenden Falkenhunden vorbei. Je weiter er das Labyrinth durchdrang, umso mehr hob sich seine Stimmung im Nervenkitzel des Katz-und-Maus-Spiels.


    Schließlich schlüpfte Firondhir unter einer mächtigen, quer liegenden Säule hindurch und sah vor sich zwischen zwei aufragenden Blöcken das andere Ende der Halle. Sichernd sah er sich um und lauschte. Die Felchu befanden sich noch in einiger Entfernung. Er richtete sich auf und schritt durch das Tor hinaus. Im nächsten Moment fiel ein schwarzer Schatten auf ihn herab und warf ihn mit vollem Gewicht zu Boden. Ein Paar schwerer Pfoten drückten ihn nieder, er spürte die Spitzen der Klauen durch den Kleidungsstoff auf seiner Haut. Der hellblau gefiederte Kopf des Felchu senkte sich zu seinem zur Seite gedrehten Gesicht nieder. Ein rundes, goldgelbes Auge starrte ihn an. Furcht überkam den Weltenwanderer, Zweifel. Wie sicher konnte er sein, dass das Tier nicht doch seinen Instinkten nachgab?


    Ein heller Pfiff ertönte. Der Jagdfalke ließ ihn los und setzte sich auf seine Hinterfüße. Firondhir richtete sich auf. Ein Stöhnen entfuhr ihm, als Schmerz in seine Rippen fuhr. Ein schlanker, kräftiger Arm in blauviolett schimmerndem Trikot streckte sich ihm entgegen. Er griff zu und zog sich hoch.


    Ànathuriel stand ihm gegenüber, die bronzene Vogelmaske über den purpurnen Scheitel zurückgeschoben, den Speer in der anderen Hand. Ihre smaragdgrünen Augen leuchteten. Hätte sie noch Schwingen getragen, sie gliche einer humanoiden Inkarnation der Faolchú.


    „Eine ungewohnte Geste von einer Drukhari“, bemerkte er freundlich.


    Sie stutze kurz. „Du hast recht“, gestand sie ein.


    Derweil kamen die übrigen Jagdfalken an unterschiedlichen Stellen aus dem Labyrinth hervor und gesellten sich zu ihrem Artgenossen.


    „Hat es dir gefallen?“ wollte die Bestienmeisterin wissen.


    „Hat es, tatsächlich. Bis auf den Schluss.“ Er rieb sich die Rippen.


    Ànathuriel lachte. „Toneshav ist wie du, IstuKarun. Er schleicht sich lautlos an und schlägt zu, ehe seine Beute ihn bemerkt hat.“ Dabei strich sie dem Falkenhund über sein blauschwarz glänzendes Fell.


    „Jagen sie nicht alle so?“


    „Nein, jeder Felchu ist anders. Erathar[1] verfolgt ihr Ziel über lange Zeit ungesehen. Eikalar[2] schleicht sich ebenfalls an, stürmt denn aber mit großer Kraft vor. Orkanar[3] hetzt ihre Beute, aber sie hält nie lange durch. Arithav und Ariothar führen das Rudel und koordinieren ihre Geschwister. Aber ein wenig sind sie auch immer Konkurrenten.


    „Warum nennt ihr sie nur nach dem Aussehen, wenn sie so unterschiedliche Eigenschaften habe?“


    Ànathuriel dachte kurz nach. „Es ist einfacher, denke ich. Machen die Asuryani es denn anders?“


    „Jeder hat einen Familiennamen. Manche erhalten Beinamen nach ihren Fähigkeiten oder Eigenschaften, mit denen sie sich hervorgetan haben.“


    „Hast du einen solcher Namen?“ wollte sie wissen.


    Firondhir schwieg und sah betreten zur Seite. „Nein, es hat sich noch nicht ergeben,“ sagte er schließlich.


    Sie nahm eine gewisse Bitterkeit in der Antwort wahr. Es erschien ihr besser, nicht weiter nachzufragen. Gerade war eine heitere Stimmung um sie herum entstanden, die sie nicht sofort wieder stören wollte.


    „Du musst mir mehr über die Asuryani erzählen, Firondhir.“


    Er nickte zustimmend. Dann fragte er: „Sag mir eins, Ànathuriel. Wo war heute die Freude für dich?“


    Sie sah ihn erstaunt an.


    „Ist es nicht das, worauf ihr Drukhari stets aus seid?“ setzte er ohne jeden Anflug von Bosheit nach.


    Sie überlegte eine Weile. Die Freude der Jagd mit den Tieren, das wäre ihr übliche Antwort gewesen. Aber nun stellte sie fest, dass da noch mehr war. Firondhir in besserer Stimmung zu sehen erfreute sie ebenfalls.


    „Dann lass uns noch einmal spielen“, schlug er vor, ehe sie antworten konnte. „Aber diesmal spielst du mit. Und jeder geht mit drei der Felchu.“


    Als hätten sie seine die Worte verstanden, sammelten sich die Jagdfalken um die beiden Aeldari und wedelten erwartungsvoll mit den Schwänzen.


    „Also gut“, lächelte die Bestienmeisterin.


    ***


    Später am Tag saßen Ànathuriel und Firondhir im Salon der Suite beisammen. Die Bestienmeisterin hatte Getränke und Früchte bringen lassen. Nun lauschte sie interessiert den Worten des Weltenwanderers. Er berichtete von der Pracht der Weltenschiffe, der Schönheit ihrer Architektur und Gartenkunst, den Pfaden der Asuryani, der Führung der Seher und Autarchen. Alles, was er erzählte, schien ihr fremdartig und vertraut zugleich. Nur von zwei Dingen sprach er nur ausweichend: wie die Asuryani sich Ihr, die Dürstet, entzogen. Und warum er selbst die Pfade verlassen hatte.


    ***


    Einige Tagen später kehrte Margil von einem Erkundungsgang zurück und brachte Firondhirs Kleidung und Ausrüstung mit. Er hatte sie in einem Lagerraum bei den Zellen unterhalb des Amphitheaters gefunden. Firondhir breitete seinen schwarzen Mantel auf der Polsterbank aus und begutachtete die Inhalte der hellledernen Reisetaschen. Alles war da, nur seine Shurikenpistole fehlte. Er versuchte sich zu erinnern, ob er sie beim Kampf auf der Brücke gezogen und sie dort verloren hatte, doch er konnte sich nicht entsinnen.


    Dann legte er ein längliches Futteral aus dem gleichen schwarzen Material wie sein Mantel vor sich, öffnete die silbernen Verschlüsse und faltete den Stoff auseinander. Zum Vorschein kam der geschwungene, elfenbeinfarbene Schaft eines Gewehres. Durch eine Berührung mit der Handfläche schob sich der Kolben aus. Dann tippte er mit zwei Fingern auf die konische Laufmündung, worauf der weiße Lauf wie ein Schilfrohr zu voller Länge wuchs. Aus einer Innentasche des Futterals holte er ein Zielfernrohr und setzte es auf das System. Zuletzt justierte er den Gyrostabilisator unter dem Schaft. Prüfend nahm er die Waffe in die Hand und legte sie im stehenden Anschlag an.


    „Du verwendest keine Zieloptik?“ fragte Margil verwundert.


    „Nein“, antwortete Firondhir. „Nur die Visierung und meine Augen.“ Er legte das Gewehr wieder auf die Bank. Interessiert betrachtete Ànathuriel die Waffe.


    „Es dauert lange, bis es schussbereit ist“, stellte sie fest.


    „Das stimmt. Aber der Weg bis zur besten Schussposition ist oft langwierig und mühsam. In voller Größe wäre das Jagdgewehr dabei hinderlich und könnte Schaden nehmen.“ Er schob die Waffe wieder zusammen und verschloss die Hülle.


    Dann zog Margil noch etwas aus seiner Tasche hervor. „Das hier habe ich auch gefunden.“


    Er hielt einen ovalen, glattpolierten Edelstein von der Größe eines Hühnereis in der offenen Hand. Der Stein war von rotorangener Farbe, doch matt und dunkel. Langsam streckte Firondhir die Hand aus und nahm ihn entgegen. Hart, kalt wie Eis und schwer wie Blei erschien er ihm. Er setzte sich etwas abseits auf die Polsterbank, niedergebeugt, die Arme auf den Knien, den Stein mit beiden Händen umschlossen.


    Ànathuriel betrachtet ihn verwundert und nachdenklich, mitfühlend, hätte sie dieses Wort gekannt.


    „Was ist das?“ fragte sie Margil leise. Der wandte sich ab und antwortete nicht.


    „Illurayons Seelenstein“, antwortete Ydrir an seiner statt.


    „Ydrir! Was fällt dir ein!“ zischte Margil den jungen Weltenläufer an.


    „Was willst du? Sie gehört zu uns. Wir können ihr vertrauen“, gab er zurück. Ànathuriel sah ihn fragend an.


    „Wir sprechen zu Außenstehenden nicht darüber, vor allem nicht zu den Drukhari. Auch wenn wir fürchten müssen, dass es einigen bei euch bekannt ist“, begann Ydrir zu erklären. „Jeder von uns hat einen eigenen CarrecEnad[4]. Er nimmt unsere Seele auf, wenn wir sterben. So schützen wir uns vor Ihr, die Dürstet. Es ist das kostbarste, was jeder von uns besitzt. Aber dieser Seelenstein ist leer.“


    Ànathuriel verstand. Sie hatte schon von den Seelensteinen gehört, wusste aber nicht, welche Bedeutung sie hatten. Nur, dass sie zu den begehrtesten Trophäen gehörten, die von den Asuryani zu erbeuten waren. Nun war ihr klar, warum.


    Sie dachte zurück an den Abend in Quisars Festsaal. Und an ihr erstes Gespräch mit Firondhir. Das hatte er damals gemeint, als er sagte, er hätte IHR Illurayons Seele überlassen. Ein Schauer überkam sie. Was taten die Drukhari, um diesem Schicksal zu entgehen? Sie versuchten, dem Tod zu entgehen, indem sie das Leben anderer nahmen. Sie belebten ihre eigenen, schwindenden Seelen mit denen anderer. Und was konnte dazu wertvoller sein als die eingefangene Seele eines Aeldari?


    So zu handeln, war eine unausweichliche Notwendigkeit und das natürliche Recht ihres Volkes. Die Überlegenen erhielten und erfreuten sich auf Kosten der Schwachen und niederen Kreaturen der Galaxis. Bisher hatte sie keinen Grund gesehen, daran zu zweifeln, geschweige denn, etwas ändern zu wollen. Bisher.


    ***


    Spät am Abend saß Ànathuriel auf ihrem Bett und kämmte ihre langen, purpurroten Haare. Mit einem Mal glaubte sie, eine leise Melodie zu hören. Sie hielt inne. Ihr war, als hätte sie sie schon einmal gehört. Sie saß da und lauschte, bis die Musik zu Ende war. Dann legte sie den Kamm weg, stand auf und trat hinaus in den Salon.


    Firondhir saß auf der Polsterbank, vornübergebeugt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. In den Händen hielt er eine kurze, metallene Flöte. Nachdenklich drehte er sie zwischen den Fingern hin und her. Ànathuriel setzte sich zu ihm. Er schaute auf.


    „Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt“, sagte er. Seine Stimme klang seltsam weich.


    „Nein“, antwortete sie. „Warst du das eben?“


    Er zeigte ihr die Flöte. Sie war kaum dicker als ein Finger, glänzend silbern und hatte sechs Löcher in der unteren Hälfte. „Auf dem Pfad des Musikers bin ich nie weit gekommen“, antwortete er.


    „Ich weiß nicht, was das heißt“, entgegnete Ànathuriel, „aber mir hat es gefallen. Lernt man so etwas auf den Weltenschiffen?“


    „Man kann alles lernen, was man will. Aber immer nur eines zu Zeit. Das ist das Wesen der Pfade der Asuryani. Macht hier niemand Musik?“


    Ànathuriel überlegte kurz. „Nicht so. Es gibt Trommeln, Zimbeln und Gongs, manchmal auch Hörner oder Trompeten, bei Arenakämpfe und Tanzvorführungen. Die werden aber von Sklaven geschlagen. Bitte spiel nochmal.“


    Firondhir folgte ihrer Bitte. Die Melodie war kurz und bestand aus einem einfachen Auf und Ab der Töne und wenigen, langsamen Sprüngen. Ànathuriel erschien es, als würden sie eine Geschichte erzählen.


    „Bedeutet es etwas?“


    „Nur was du darin hörst.“


    Einen kurzen Moment schwiegen beide.


    „Warst du das, in… dem Alptraum?“


    „Was meinst du?“


    „In der ersten Nacht, in der du hier warst. Als…“ Sie stockte. Der Gedanke an das Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu, als müsste sie wieder in Tränen ausbrechen.


    „Da habe ich diese Melodie gesummt. Mich beruhigt sie.“


    Ànathuriel holte tief Luft. „Ja. Aber das meine ich nicht. Es war jemand da. Ein Schatten. Er hat mich zurückgehalten. Ich wollte zu IHR gehen. Ich konnte nicht anders, ich wollte es. Aber er hat mich zurückgehalten.“


    Sie schlug die Hände vors Gesicht. Ihr ganzer Körper bebte. Zögernd legte Firondhir einen Arm um ihre Schultern. Sie lehnte sich an seine.


    „Als ich dazu kam, war SIE schon weg. Ich kann dir nicht sagen, was es war. Nur, dass ich es nicht war. Aber wir können dankbar sein, dass du einen Schutzgeist hattest.“


    Firondhirs Blick fiel auf ihren Scheitel. Am Haaransatz zeigte sich unter dem purpurrot ein kastanienbrauner Streifen. „Das ist also deine echte Haarfarbe.“


    Ànathuriel nahm den Themenwechsel dankbar an. Sie wischte sich das Gesicht mit einem Zipfel ihres langen, dunkelblauen Nachtkleides ab. „Das weiß ich gar nicht mehr so genau. Ich färbe die Haare, solange ich mich erinnern kann. Aber in den letzten Tagen habe ich wohl das Färbemittel vergessen.“


    „Warum tust du das überhaupt? Die Naturfarbe ist viel schöner.“


    Sie lächelte. „Purpurrote Haare sind Tradition im Kult. Obwohl man als Bestienmeister nicht wirklich dazu gehört.“


    „Wozu gehörst du dann?“


    „Zum Haus DorchaKerun.“ Doch in dem Moment, in dem sie es aussprach, wurde ihr bewusst, dass es nicht der Wahrheit entsprach. Firondhir sah sie prüfend an. „Dem Haus DorchaKerun trifft es wohl eher“, seufzte sie.


    Wieder schwiegen sie eine Weile.


    „Darf ich den Seelenstein sehen?“ fragte Ànathuriel.


    Firondhir legte die Flöte zur Seite. Er zog einen kleinen Leinenbeutel, den er an einem Band um den Hals trug, aus seinem Hemd hervor und nahm den Stein heraus. Auf der geöffneten Handfläche hielt er ihn Ànathuriel entgegen. Sie streckte die Finger aus, hielt aber inne und schaute Firondhir fragend an. Der nickte zustimmend. Als ihre Fingerspitzen die polierte Oberfläche berührten, glommen für einen Moment orangene Funken auf. Erschrocken zog sie die Hand zurück.


    „Was habe ich gemacht?“ fragte sie.


    „Ich weiß es nicht.“ Firondhir war nicht weniger verwundert als sie selbst. „Seelensteine sind nur auf den Geist ihres Trägers abgestimmt. Ein bewohnter Stein könnte auf die Berührung einer Dainnar reagieren, aber dieser…“


    Er schloss die Hand und ließ den Stein zurück in den Beutel gleiten.


    „Illurayon und du, wart ihr… wart ihr ein Paar?“


    Firondhir lachte leise. „Wir kannten uns sehr lange. Ich war ein Eshairr[5], verloren, ohne Bindung an ein Weltenschiff. Illurayon hat mich gefunden. Durch ihn hat ZarAsuryan mich aufgenommen. Ich verdanke ihm alles. Wir waren enge Freunde, aber nicht so, wie du es meinst.“


    „Gut“, sagte sie mit einer Spur von Erleichterung. Dann legte sie ihre Arme um seinen Nacken, zog ihn zu sich heran und küsste ihn. Firondhir erstarrte einen kurzen Moment vor Überraschung, doch er dachte keinen Augenblick daran, sie zurückzuweisen.


    „Du nimmst dir, was du haben möchtest“, lächelte er, nachdem sie ihn wieder losgelassen hatte.


    „Ich bin eine Drukhari“, entgegnete Ànathuriel sanft. „Ich nehme mir immer, was ich will.“


    „Hast du nie daran gedacht, dass du nur zu fragen bräuchtest? Es könnte dir geschenkt werden.“ Firondhir nahm ihr Gesicht in beide Hände und erwiderte den Kuss.


    _______________________

    [1] Erath = Purpur

    [2] Eikal = Orange

    [3] Orkan = Grün

    [4] Carrec: die Seele; Enad: der Stein

    [5] Eshairr: der Ausgestoßene

  • Kapitel 9

    Fehlschlag



    Als Margil früh am nächsten Morgen den Salon betrat, fand er dort nur die Jacke, die Firondhir am vergangenen Tag getragen hatte, auf der Polsterbank liegen. Er hob das Kleidungsstück auf und betrachtete es misstrauisch. Die filigranen Knöpfe waren sorgfältig geöffnet worden, kein Anzeichen, dass es gewaltsam heruntergerissen wurde. Nachdem Firondhir erneut nicht im Gästezimmer übernachtet hatte, hatte er vermutet, dass er, nachdem er ihm Illurayons Seelenstein gebracht hatte, lieber für sich allein sein wollte. Anscheinend war das Gegenteil der Fall.


    „Ich hoffe, du weißt, was du tust“, sagte Margil für sich. „Und ich hoffe, das bringt uns nicht noch Schwierigkeiten ein.“ Dainnar hin oder her, diese Frau blieb eine Drukhari, was immer Ydrir auch sagen mochte. Und selbst wenn, für romantische Abenteuer war jetzt der falsche Zeitpunkt.


    „Wo ist Firondhir?“ Ydrir war aus dem Gästezimmer getreten.


    „Das erkläre ich dir, wenn du älter bist“, antwortete Margil gereizt.


    Ydrir sah ihn verständnislos an. „Was denkst du, wie alt ich bin?“


    Margil schnaubte. „Komm Junge, wir haben Arbeit. Und wie es aussieht, müssen wir sie allein erledigen.“


    ***


    Die unterste Ebene der Kabaliten-Quartiere öffnete sich zu einem ausladenden Laubengang, der auf den Arenagarten hinunterschaute. Von den tiefer liegenden Wohnetagen konnte er durch eine waghalsige Kletterpartie entlang von Balkonen, Erkern und Simsen erreicht werden. Margil hatte den Weg in den vergangenen Tagen in akribischer Kleinarbeit ausgetestet, immer auf der Hut vor Harpyien, Hellions oder anderem Gesindel, dass den Luftraum Commorraghs, der den Namen Himmel kaum verdiente, bevölkerte. Aber die schienen sich nicht in diesem Bereich aufzuhalten. So erreichte er auch jetzt unbehelligt den Laubengang.


    Bevor er sich über das Geländer schwang, versicherte Margil sich, dass keine Kabalenkrieger in der Nähe waren. Ein halbes Dutzend offener Korridore mündete in die Galerie, doch in keinem regte sich etwas. Er nahm eine kleine, metallisch grau glänzende Spindel von seinem Gürtel, die sich auf dem Weg hinauf zu einem Seil entrollt hatte, und befestigte das Ende an der Balustrade. Ydrir, der ein weniger gewandter Kletterer war, folgte wenige Augenblicke später, sich an der gespannten Hilfe festhaltend. Nachdem Margil ihn auf den Laufgang gezogen hatte, löste Ydrir das Seil von seinem Gürtel und reichte Margil das Ende. Mit einer lockeren Handbewegung brachte der es dazu, sich von selbst wieder aufzurollen, bis die Spindel wieder ein glatter Körper war. Margil verstaute sie in einer Tasche.


    „Und wie geht es jetzt weiter?“ fragte Ydrir.


    „Wir suchen eine Rüstkammer, besorgen uns zwei Kabalenrüstungen und spazieren zur Vordertür hinaus.“


    „Das klingt zu einfach, um zu funktionieren.“


    „Deshalb vertraue ich auf deine Intuition.“


    Die beiden stahlen sich durch die verwinkelten Gänge und Gassen. Öfter als ihnen lieb war, mussten sie den Bewohnern ausweichen, sich in Nischen und Sackgassen zurückziehen oder andere Abzweigungen und Umwege nehmen. Margil hatte nicht geprahlt, als er über Labyrinthe gesprochen hatte. Sein Sinn für Richtung brachte sie immer wieder zu ihrem ursprünglichen Weg zurück. In der Zwischenzeit entstand im Geist des Weltenwanderers ein immer genaueres Bild der Anlage, die sich über mehrere Ebenen erstreckte, dabei aber keine geschlossenen Etagen bildete, sondern durch kreuz und quer verlaufende Brücken, Galerien und Emporen die Räume verband.


    Die Strukturen brachten Margil recht bald auf die richtige Spur. Ein großer, mehrere Ebenen hoher Komplex stellte sich als eine Trainingshalle heraus. Über einen Torweg gelangten sie auf eine Galerie, die an vier Seiten den hohen, fünfeckigen Saal umlief und dann am Kopfende über Wendeltreppen hinunter auf den gefliesten Kampfplatz führte. Hinter den in sich gewundenen Säulen verborgen, beobachteten die beiden IstuKarun eine ganze Truppe von Kabalenkriegern, die mit langen, gebogenen Kampfmesser gegeneinander fochten. Dabei schien jeder gegen jeden zugleich zu kämpfen.


    Fasziniert verfolgte Ydrir das Geschehen. Die Krieger bewegten sich so schnell, dass er mit den Augen kaum folgen konnte, doch nicht schnell genug, als dass ihre jeweiligen Opponenten die Angriffe nicht hätten parieren können. Es sah so elegant aus, jede Bewegung präzise und fehlerlos. Himmelblaue Stoffbahnen und Helmbüsche wie aus Kupferdraht umwehten die Drukhari mit jeder Bewegung, als würden sie tanzen. An den Kanten der schwarzen Rüstungsplatten brach sich das spärliche Licht in grün und orange und ließ die Gestalten zu irisierenden Schemen verschwimmen. Zugleich umgab sie jedoch etwas dunkles, eine unheilvolle Aura, die er mehr spüren als sehen konnte und die seine Sinne gefesselt hielt.


    „Beeindruckend“, flüsterte er. „Sind unsere Aspektkrieger auch so geschickt?“


    „Geh einen Schrein des Asurmen und finde es selbst heraus“, antwortete Margil leicht gereizt. „Komm, wir haben anderes zu tun. Lass uns sehen, wo sie die Rüstungen aufbewahren.“


    Doch Ydrir konnte sich von dem Anblick nicht losreißen. Margil musste ihn am Arm fassen und mit sich ziehen. Sie umrundeten die Halle auf der Galerie. Eben als sie am anderen Ende durch einen weiteren Torbogen einen Nebenraum betreten wollten, standen sie ohne Vorwarnung einem Kabalenkrieger gegenüber, der gerade die Wendeltreppe heraufgekommen war.


    Einen Moment lang standen alle drei starr vor Überraschung. Dann riss der Drukhari wortlos sein Splittergewehr in die Höhe und legte auf die Eindringlinge an. Doch zum Schießen kam er nicht mehr. Ehe er auslösen konnte, trafen ihn zwei Wurfklingen in den Spalt zwischen Helm und Brustpanzer. Röchelnd ging er zu Boden, stürzte rücklings die Treppe hinunter und schlug auf den Fliesen auf. Ydrir sah Margil überrascht an.


    „EsikCaman[1]“, sagte der knapp. „Ich sagte doch, geh in einen Schrein.“ Er stieß Ydrir hinter eine Säule und presste sich selbst in die Nische des Torbogens, das Geschehen unter ihnen im Blick haltend.


    Unten in der Halle begann der Tumult. Die Kabaliten ließen von ihren Übungen ab, liefen zu ihrem gefallenen Kameraden und richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Galerie. Einer deutete mit einem Ausruf nach ob, in Richtung der e Asuryani.


    „Weg hier!“ rief Margil.


    Die beiden rannten los, erreichten wieder den Durchgang und gelangten auf eine Bogenbrücke, die sich quer über einen mehrere Stockwerke hohen Lichtschacht zwischen der Trainingshalle und den benachbarten Gebäuden spannte. Sie hatte beinahe die andere Seite erreicht, als dort drei weitere Kabalenkrieger auftauchten und sie ohne Vorwarnung unter Feuer nahmen.


    Die beiden Flüchtenden warfen sich zu Boden. Einige Splittergeschosse verfingen sich in den weiten Falten ihrer Mäntel oder streiften die Platten ihrer Anzüge. Aber auch wenn diese sich bei jedem Treffer von selbst verhärteten und die Geschosse abfingen, waren sie doch nicht dafür gemacht, so einem Beschuss lange standzuhalten. Denn nun näherten sich die Krieger aus der Trainingshalle von der anderen Seite.


    Während die Kristallsplitter über seinen Kopf zischten, blickte Margil über den Rand der Brücke. Ungefähr eineinhalb Ebenen tiefer ragte eine offene Dachterrasse aus einer benachbarten Fassade. Margil stieß Ydrir an und deutete auf seine Entdeckung. Ydrir nickte. Sie warteten noch einen Moment, dann hechteten sie über das Geländer und landeten mehr schlecht als Recht auf der Terrasse. Zu ihrem Glück stand die Tür zum angrenzenden Appartement offen. Sie hasteten durch den Raum, ohne von dem überrumpelten Bewohner Notiz zu nehmen. Eine weitere offene Tür führte die Ranger wieder auf einen umschlossenen Korridor.


    „Wohin jetzt?“ fragte Ydrir außer Atem.


    Margil hielt kurz inne, um sich zu orientieren. „Da lang“, sagte er.


    Sie eilten durch die Flure. Irgendein Alarm musste ausgelöst worden sein, denn aus allen Richtungen waren Rufe und eilende Schritte zu hören. Margil bog scheinbar willkürlich in beliebige Gänge ein, so dass Ydrir schon nach kurzer Zeit völlig die Richtung verloren hatte. Doch dadurch gelang es ihnen, den Kabaliten aus dem Weg zu gehen. Trotzdem konnte der junge Weltenläufer spüren, dass sie immer näherkamen und sie einkreisten.


    Mit einem Mal öffnete sich vor ihnen wieder die Außengalerie. Hier gab es kein Weiterkommen.


    „Und jetzt?“ fragte Ydrir nervös und abgehetzt.


    Im selben Moment schlugen Splittergeschossen an der Wand neben ihnen ein. Margil fühlte, wie sein Anzug sich an seiner linken Schulter verhärtete.


    „Jetzt verschwinden wir“, sagte er und stieg auf die Balustrade.


    Wenige Sekunden später stürmten Kabalenkrieger aus drei Korridoren auf den Balkon. Von den Eindringlingen war keine Spur. Drei oder vier lehnten sich über das Geländer, die Gewehre im Anschlag, suchte die Fassade neben und unter ihnen ab und späten hinunter in den Garten. Nichts war zu sehen. Ein Sybarit mit hohem Helmbusch, knisterndem Energiesäbel und gezogener Splitterpistole kam hinzu.


    „Nichts“, meldete einer der Krieger.


    „Sie müssen noch irgendwo drinnen sein“, sagte der Truppführer. „Zwei Mann als Wache.“ Dann verschwand er mit den übrigen Kabaliten wieder im Inneren des Turms.


    Margil und Ydrir lagen bäuchlings auf dem schmalen Vordach des Balkons. Mit einiger Mühe gelang es ihnen, sich an der gewellten, leicht aufgebogenen Dachtraufe abzustützen, um nicht die Dachschräge hinunterzurutschen. Ihre Mäntel hatten sie bis zum Kragen geschlossen und die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, um nicht aus der Luft in dieser verwundbaren Position entdeckt zu werden.


    Langsam, um kein Geräusch zu verursachen, wechselte Ydrir seine Position, um über die Dachkante zu spähen. Mit den Fingern signalisierte er Margil die Zahl der zurückgelassenen Wachen. Der nickte und bedeutete ihm mit einem Handzeichen, zurückzukommen. Verärgert biss er die Zähne aufeinander. Hier war eine Chance, mit der Überraschung und dem Angriff von Oben auf ihrer Seite, sich zweier Kabalenrüstungen zu bemächtigen und die Besitzer verschwinden zu lassen. Aber daran war jetzt nicht mehr zu denken. Seine linke Schulter brannte wie Feuer und der Arm begann taub zu werden.


    ***


    Der hohe, bronzene Türflügel zum Vorzimmer der fürstlichen Gemächer öffneten sich einen Spalt weit, gerade weit genug, dass die Sybarite eintreten konnte. Die Kabalenkriegerin schritt durch den Raum und blieb in der Mitte des fünfeckigen Saales stehen. Außer zweier Incubi, die wie Statuen neben der Pforte standen, war niemand anwesend. Sie sah sich um. Der Raum war weitestgehend leer und schmucklos, mit Ausnahme des Banners des Hauses DorchaKerun, das schräg gegenüber dem Eingang über die Wand drapiert war. Offensichtlich war der Raum nicht dazu gedacht, es Besuchern angenehm zu machen.


    Unterhalb des Banners öffnete sich eine Schwarze Metalltür. Im nächsten Moment nahm die Sybarite ihren hohen, mit einem kupferroten Busch verzierten Helm ab und kniete nieder. Der junge Archon in Begleitung seiner Schwester betrat den Raum. Energischen Schrittes kam er auf die Kabalitin zu. Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr, sich zu erheben. Sie folgte der Aufforderung augenblicklich.


    Quisar betrachtete die Kriegerin. Ihr Haar war dunkelrot gefärbt und zu einem Knoten hochgebunden, das fahle, scharfkantige Gesicht übermäßig stark geschminkt. Warum nur hatten so viele Drukhari-Frauen, je höher ihre Stellung war, die Angewohnheit, sich absichtlich zu verunstalten. Sie könnten die anziehendsten Geschöpfe des Universums sein, wenn sie nur wollten. Der Hochmut in ihrem Blick war das einzig reizende an ihr.


    „Nun", sagte er.


    „Wir vermuten, dass die Eindringlinge zwei weitere Asuryani waren“, berichtete sie. „Wir haben sie bis zur Außengalerie verfolgt. Dort verlor sich ihre Spur. Die Wohnebenen der Fleischgeborenen wurde abgeriegelt und durchsucht. Aber jede weitere Suche in den oberen Wohnebenen war erfolglos. Die Fremden sind verschwunden.“


    „IstuKarun?“


    „So scheint es, mein Prinz. Anders lässt sich ihr Verschwinden nicht erklären.“


    Der Archon schwieg. Die Gesichtszüge der Sybarite verhärteten sich zu noch mehr Arroganz, um ihre Unsicherheit nicht durchscheinen zu lassen. Als Anführerin der diensthabenden Wache hätte es in ihrer Verantwortung gelegen, der Eindringlinge habhaft zu werden. Versagen wurde nicht geduldet und es war ihr auf die Schnelle nicht gelungen, die Schuld auf einen ihrer Untergebenen abzuwälzen.


    „Können Asuryani fliegen?“ fragte Quisar mit einem gönnerhaften Tonfall.


    „Mein Prinz?“ fragte die Sybarite irritiert.


    „Du hast meine Frage gehört." Seine Stimme senkte sich.


    „Selbstverständlich nicht.“


    „Wie also können sie verschwinden, wenn die Zugänge abgeriegelt waren?“ Er gab die Antwort selbst. „Es gibt nur eine Erklärung: sie sind noch hier.“


    „Ich werde umgehend die weitere Suche befehlen", beeilte sich die Sybarite eifrig zu versichern. „Die Asuryani werden uns nicht entkommen.“


    „Das werden sie nicht“, bestätigte der Archon mit einem Lächeln.


    Die Kabalitin verneigte sich erneute, drehte sich um und eilte dem Ausgang entgegen, überrascht und erleichtert, ohne Schaden davongekommen zu sein.


    Quisar ergriff Sirqas Hand, als er bemerkte, dass sie sich anschickte, der Kriegerin zu folgen. Sie sah ihn an. Er hob ihre Hand an seine Lippen und hauchte einen Kuss auf den Handrücken.


    „Liebste Schwestern, wenn du deiner grundlosen Eifersucht jedes Mal freien Lauf lässt, werde ich die Sybariten demnächst nicht nach Können, sondern nach Geschlecht auswählen müssen.“


    Sie zischte verächtlich. „Eifersucht hat damit nichts zu tun. Du bist zu nachlässig mit deinen Untergebenen.“


    „Alles zu seiner Zeit. Zuerst will ich in Erfahrung bringen, was es mit diesen Eindringlingen auf sich hat. Wenn es tatsächlich IstuKarun waren, könne sie uns nützlich sein. Sie wissen vermutlich mehr über Psikräfte als irgendjemand sonst in der Stadt.“


    „Du glaubst also an die Fähigkeiten der Bestienmeisterin?“


    „Selbstverständlich. Oder hältst du es für einen Zufall, dass gerade jetzt Asuryani hier auftauchen und jemanden suchen, ohne zu wissen wen.“


    „Das hat dieser Eshairr behauptet“, warf Sirqa ein.


    „Nach allem, was wir mit seinem Freund angestellt haben, glaube ich nicht, dass er genug Willensstärke übrighatte, um uns irgendetwas zu verheimlichen“, entgegnete Quisar. „Sie sind so schwach, kaum zu glauben, dass sie zum gleichen Volk gehören, wie wir.“


    „Du weißt, was ich von diesen okkulten Praktiken halte. Unser Volk hat gut daran getan, sich davon loszusagen.“


    „Das ist sie wieder, meine eifersüchtige Schwester“, lächelte Quisar. „Sei unbesorgt, deine Künste stehen für mich über allem.“


    „Warum dann das Risiko eingehen?“


    „Wir haben den Nutzen, das Risiko trägt sie.“


    „Außer sie nutzt ihre Fähigkeiten, um uns zu hintergehen.“


    „Nach allem, was wir wissen, ist das kaum möglich. Nicht innerhalb der Stadt und nicht ohne Schutz. Den können nur wir ihr bieten.“


    „Oder die Asuryani", wandte Sirqa ein. „Nicht, dass es diesen Straßenkatern am Ende doch noch gelingt, sich mit unserem seltenen Vögelchen davonzumachen.“


    Quisar lächelte über ihren Vergleich. „Ich denke zwar, du überschätzt diese Eshairr, aber du hast recht. Wachsamkeit kann nie schaden. Ein weiterer guter Grund, sie rasch ausfindig zu machen.“


    Sirqa legte ihre schlanken Arme um seinen Hals. „Und was ist nun dein Plan?“


    „Hättest du Spaß an einer Partie Federspiel?“


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    [1] EsikCaman: Asuryans Rächer

  • Kapitel 10

    Probe



    Eine Bodenluke in der Mitte des Amphitheaters beförderte eine Kreatur ans Licht, die einer kindsgroßen, jedoch fell- und schwanzlosen Springmaus ähnelte. Verwirrt und verängstig sah das Wesen sich um. Dann wurde es des schwarzen, vogelköpfigen Raubtieres gewahr, das auf es zugestürmt kam. Das Geschöpf stieß einen panischen Quieklaut aus, und flüchtete hüpfend in Richtung der Terrassengärten. Doch der Felchu brauchte nur wenig Augenblicke, um es zu erreichen. Er sprang dem Wesen in den Rücken und warf es zu Boden. Jämmerlich quiekend versuchte es, seine kurzen Ärmchen schützen über den Kopf zu legen. Doch der Falkenhund hieb ihm seinen spitzen Hakenschnabel in die Schädelbasis und das Wesen lag still.


    „AmUisar[1]“, befahl Quisar. Augenblicklich ließ der Jagdfalke von seiner Beute ab und kehrte zu seinem Herrn zurück. Er leinte den Vogel wieder an und trat zurück an den Rand des Feldes, wo Sirqa und Ànathuriel mit den übrigen fünf Tieren warteten.


    „Siebzehn“, sagte Quisar triumphierend zu seiner Schwester. „Und so schnell wie keins bisher.“


    Sirqa lächelte spöttisch. „Ist es Zufall, dass du stets die wehrlosesten Ziele bekommst?“ Sie wandte sich der Bestienmeisterin zu. Die reichte ihr die Leine des grünfedrigen Felchu. Sirqa betrat das Feld und gab den Befehl, das Ziel freizulassen.


    Es war ein sehniger, olivhäutiger Zweibeiner mit einem schnabelartigen, überstehenden Unterkiefer. Anders als das vorherige Opfer schien er von dem Raubtier weniger beeindruckt zu sein. Jedenfalls machte er keine Anstalten, die Flucht zu ergreifen. Er stieß ein heiseres Krächzten aus und stellte drohend die langen Hornstacheln auf seinen Scheitel auf. Die Falkenhündin ließ sich davon jedoch nicht in ihrem Angriff aufhalten. Als sie sprang, warf die Beutekreatur sich ihr entgegen und versetzte ihr einen Schlag mit der klauenbewehrten Hand.


    Die Jagdfalkin fiel zu Boden, überschlug sich und stand wieder auf den Füßen. Sie machte sich bereit wieder anzugreifen, doch Sirqa befahl sie zurück. Einen Moment schien das Tier unschlüssig, drehte den Kopf zwischen der Beute und seiner Herrin hin und her, gehorchte dann aber dem Befehl.


    Quisar sah seine Schwester verwundert an. Das Ziel stand immer noch höchst lebendig in der Mitte des Amphitheaters. Mehr als eine Schramme am Oberschenkel hatte die Felchu ihm nicht beigebracht. Das Wesen krächzte erneut drohend und tänzelte, den Kopf zur Seite gelegt, von einem Bein aufs andere, als würde es seine Chancen abschätzen, die drei Drukhari zu attackieren.


    Für einen Moment ging Quisar der Gedanke durch den Kopf, die Kreatur augenblicklich von seinen Kabalenkriegern erschießen zu lassen. Doch ehe er etwas sagen konnte, begann das Wesen laut zu kreischen und sackte wie in Zeitlupe in sich zusammen. Krämpfe durchliefen den sehnigen Körper. Das Geschöpf wälzte sich am Boden, trat und schlug um sich. Seine Qual ergoss sich wie ein plötzlich einsetzender warmer Sommerregen über die Drukhari. Begierig sog Quisar jeden Tropfen auf. Endlose Minuten verstrichen, ehe die Laute erstarben und die Kreatur sich nicht mehr regte.


    „Achtzehn“, sagte Sirqa süffisant.


    Quisar sah sie halb missbilligend, halb anerkennend an. „Das war gegen die Regeln.“


    „Du machst deine Regeln, ich mache meine“, entgegnete sie.


    Er beugte sich nieder und untersuchte die Falkenhündin. „Ich hoffe, dein Gift schadet den Tieren nicht.“


    „Nein, sie unbesorgt. Ich habe es exakt so abgestimmt, dass ihr Körper es nicht aufnimmt. Und meiner und deiner natürlich auch nicht. Für andere Aeldari“, fügte sie mit einem Seitenblick auf Ànathuriel hinzu, „kann ich das allerdings nicht garantieren.“


    „Apropos andere Aeldari. Ànathuriel, wie steht es um den Asuryani?“


    Teils hatte sie gehofft, Quisar hätte Firondhir über sein neues Interesse an ihren Fähigkeiten vergessen, kannte den Archon jedoch gut genug, um zu wissen, dass ihm selten etwas entging. Plumpe Täuschungen entdeckte er schnell, und das war kein Spiel, in dem sie sehr gut war. Deshalb erschien es ihr erfolgversprechender, die Wahrheit zu sagen. Zumindest einen Teil davon.


    „Mir ist ein neuer Gedanke gekommen“, sagte sie. „Wir wissen noch zu wenig über meine Fähigkeiten. Die Asuryani wissen mehr. Vielleicht kann er uns dabei nützlich sein.“


    Quisar lächelte. Sie wiederholte seine Worte, als wüsste sie, was er hören wollte.


    „Genau das war auch mein Gedanke“, gab er zurück. „Du kannst ihn so lange verwenden, wie du es für nötig hältst.“


    Ànathuriel deutete eine Verbeugung an. „Mit Vergnügen, mein Prinz.“


    „Ich nehme an, du hast von den Eindringlingen im Bezirk der Fleischgeborenen gehört?“ fuhr er wie beiläufig fort.


    „Wer hätte nicht davon gehört? So etwas geschieht nicht alle Tage. Die unfähige Wache hat ihre verdiente Bestrafung sicher schon erhalten", antwortete sie im Plauderton, als handelte es sich um den neuesten Klatsch. Sie wollte Zeit gewinnen.


    Quisar ging nicht weiter auf ihre banalen Einlassungen ein. „Unseren beiden IstuKarun scheinen nicht die einzigen gewesen zu sein. Sie hatten wohl Gefährten, die nun nach ihnen suchen. Deswegen glaube ich, dass die Fremden die Festung noch nicht wieder verlassen haben.“


    „Vielleicht kann ich von dem Asuryani etwas in Erfahrung bringen", schlug Ànathuriel vor.


    „Oh, du kannst mehr tun als das. Erinnerst du dich noch an die Erklärung, die der IstuKarun in der Großen Halle abgegeben hat? Ich rechne fest damit, dass seine Gefährten dich über kurz oder lang aufsuchen werden. Und wenn das eintrifft, übergibst du die Asuryani meinen Kriegern.“ Mit jedem Wort wurde seine Stimme härter, bis sie schneidend war wie Glas. Ànathuriels Herz schlug bis zum Hals. Angestrengt versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen und begann, die gelbfedrigen Falkenhündin an ihrer Seite hinter den Ohren zu kraulen.


    „Aber lassen wir das Reden.“ Mit einem Mal war Quisars Tonfall wieder heiter. „Schließlich sind wir hier, um uns zu amüsieren. Ànathuriel, das nächste Ziel ist für dich. Wähle einen der Felchu aus.“


    Mit klopfenden Herzen fasste sie Ariothars Leine, trat vor und nahm den Startplatz ein. Missliebig sah Sirqa die Bestienmeisterin an, wusste jedoch, dass es jetzt keinen Sinn hatte, mit Quisar eine Diskussion über Standesgrenzen zu beginnen.


    Die Gedanken wirbelten durch Ànathuriels Kopf. Auf einmal widerstrebte es ihr, sich an diesem Spiel zu beteiligen. Warum? Sie hatte doch schon unzählige Male wilde Tiere auf Beutekreaturen gehetzt und nie etwas anderes dabei gefühlt, als die Anspannung und Leidenschaft der Jäger zu teilen. Die Freude daran war verschwunden.


    Jetzt erschien das Ziel in der Arena, zweibeinig, schlank und hochgewachsen. Ein Aeldari. Ànathuriel ließ die Falkenhündin los und wünschte sich im nächsten Augenblick, sie hätte es nicht getan. Es war eine Frau. Sie trug nur ein schlichtes, schmutziges Hemd. Ihre dunkelrot gefärbten Haare waren fransig abgeschnitten, ein Zeichen der Ungnade. Ihre Hände und Füße waren mit kurzen Ketten aneinandergefesselt.


    Ànathuriel kannte sie nicht, doch sie spürte, wie sich die Blicke der Kabalitin voll Verachtung in ihre Brust bohrten. Trotzdem, jede einzelne, endlose Sekunde, die Ariothar auf ihre Beute zu jagte, drängte es in ihr, die Hündin zurückzurufen. Sie tat es nicht. Diese Frau hätte sie selbst sein können, und sie würde an ihrer Stelle stehen, wenn sie Quisar auch nur den geringsten Anlass zum Zweifel gab.


    Die Gegenwehr der Kriegerin währte nur Augenblicke. Mit ungestümer Wucht warf das Falkenweibchen sie nieder. Ohne Waffen und Rüstung und mit gebundenen Händen war selbst eine trainierte Drukhari dem Tier nicht gewachsen. Ariothar schlug ihren Schnabel in den Hals ihrer Beute und zerriss ihr die Kehle. Ànathuriel gab der Falkenhündin das Kommando, abzulassen. Das Weibchen gehorchte und stolzierte erhobenen Hauptes zu der Bestienmeisterin zurück. Ànathuriel fühlte sich elend. Quisar dagegen klatschte zufrieden in die Hände.


    Sirqa sah ihn überrascht an. „Die Anführerin der Wache?“


    Ànathuriels Herz setzte einen Schlag aus. Die eben noch beiläufig gesprochenen Worte schossen ihr durch den Kopf.


    Sirqa glitt dicht neben ihren Bruder. „Du hattest doch gesagt: ‚Alles zu seiner Zeit.‘“


    Quisar nahm lächelnd ihre Hände. „Ich dachte mir, die passende Zeit wäre jetzt.“


    ***


    „Alles, was gut und schön ist, nehmt ihr euch und zerstört es zu eurem Vergnügen.“ Firondhirs Worte waren Ànathuriel jäh wieder in den Sinn gekommen. Und nun hatten sie sich festgesetzt, während sie durch die labyrinthischen Treppen, Brücken und Korridore zurück zur ihrer Wohnebene wanderte.


    Wie recht er hatte. Die Felchu waren bemerkenswerte Geschöpfe, geborene Jäger. Sie waren es schon immer gewesen. Ihr war es um die Perfektion gegangen. Die Perfektion, die Tiere zu kontrollieren und zu führen. Dass sie damit ein anderes Ethos verfolgte als die meisten Bestienmeister, war ihr schon immer bewusst gewesen. Sie hatte ihre Arbeit immer für etwas Schönes gehalten. Aber diese Grausamkeiten hatten nichts mit der vollendeten Jagdkunst zu tun, die dieser selbsternannte Nachkomme Kurnous‘ für sich in Anspruch nahm. Nichts mit dem, was in der Natur dieser Tiere lag.


    Aber sie musste sich eingestehen, dass das nur die halbe Wahrheit war. Sie war eine Drukhari, das konnte sie nicht von sich weisen. Es war ihr immer gleichgültig gewesen, wer oder was die Jagdbeute war. Nur die Herausforderung zählte. Und das belebende Hochgefühl, wenn die Beute erlegt war. Das verspürte sie immer noch. Aber inzwischen war es ihr zutiefst zuwider. Und nicht nur das. Das hassverzerrte Gesicht der Sybarite ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Ànathuriel wusste, dass ihre Abscheu auf sie gerichtet war, auf Quisar, auf alles und jeden. Und sie selbst hatte keinen Grund gehabt, ihr gegenüber irgendetwas anderes zu empfinden. Doch es war nicht so. Anstatt Genugtuung darin zu finden, dass sie nicht an ihrer Stelle war, dass ihr Ende dafür sorgte, dass sie ihre Position in der Gunst des Archons festigen konnte, hatte sie – ja, was? Ànathuriel konnte dem Gefühl keinen Namen geben, sie hatte kein Wort dafür.


    Wie es dazu gekommen war, konnte sie sich nicht erklären, und sie hätte sich nie auch nur träumen lassen, jemals zu solch einem Sinneswandel zu gelangen. Jetzt noch mehr als zuvor blieb nur noch eines: Sie musste fort von hier, so schnell wie nur möglich.


    ***


    Margil konnte kaum noch laufen, als die beiden Weltenläufer endlich Ànathuriels Suite erreichten. Die Lähmung hatte sich von seiner Schulter in den linken Arm ausgebreitet und begann nun das Bein hinunter zur kriechen. Das Atmen fiel ihm schwer und die Schmerzen in den Muskeln waren kaum auszuhalten. Ydrir stützte ihn, so gut er konnte. Er wusste selbst nicht, wie sie es geschafft hatten, vom Dach herunter und wieder in den Palastturm, geschweige denn bis zurück zur Wohnung zu kommen. Nicht nur die Wohnebenen der Fleischgeborenen waren in heller Aufregung. Fast der ganze Turm glich einem aufgewühlten Hornissennest.


    Firondhir sprang auf, sobald die Tür sich öffnete, und eilte den beiden entgegen. Gemeinsam halfen sie Margil auf die Polsterbank. Selbst sitzend konnte er sich kaum aufrecht halten.


    „Was ist geschehen?“ fragte Firondhir.


    Ydrir gab in wenigen Worten einen Bericht ihrer gescheiterten Unternehmung ab.


    „Warum“, ächzte Margil, „gestehst du nicht ein, dass es deine Schuld war?“


    Firondhir blickte fragend von einem zum anderen. Ydrir sah verschämt zu Boden.


    „Unser großer Seher“, fuhr Margil fort, „war so hingerissen, den Drukhari-Kriegern beim Tanzen zuzuschauen, dass er für nichts anderes mehr Augen und Ohren hatte.“


    „Ich…“ begann Ydrir, doch Margil fiel ihm sofort wieder ins Wort.


    „Fast könnte man meinen, du fühlst dich bei den Drukhari so wohl, dass du lieber bei denen bleiben möchtest, die deinen Bruder umgebracht haben.“


    Ein Zittern überkam den Jungen, er war nahe daran, in Tränen auszubrechen. Firondhir stellte sich schützend vor ihn und legte ihm die Hand auf den Arm. „Margil redet wirr, nimm es dir nicht zu Herzen,“ versuchte Firondhir ihn zu beruhigen.


    Ich rede wirr?“ gab der heiser zurück und versuchte sich aufzurichten. „Dieses Kind, dass sich für einen IstuKarun hält, bringt uns alle in Gefahr. Und du auch.“ Er hustete.


    „Margil, ich bitte dich…“


    „Und du auch“, setzte er nach, „der, statt sich um einen Ausweg zu bemühen, lieber mit seiner Drukhari-Hexe ins Bett geht.“


    Ohne Vorwarnung schlug Firondhir ihm die geballte Faust ins Gesicht. Margil wurde auf die Polsterfläche geworfen. Mit wutverzerrtem Gesicht holte Firondhir zu einem zweiten Schlag aus. Ydrir ging dazwischen und packte seinen Arm mit beiden Händen.


    „Hör auf!“ rief er flehend. „Firondhir.“


    Doch Firondhir macht sich mit einer heftigen Bewegung los und stieß den jungen Aeldari zu Boden. Blind vor Wut setze er an, statt auf Margil, auf ihn einzuschlagen. Ydrir versuchte sich zu schützen, indem er die Arme vors Gesicht hob.


    Wie aus dem Nichts war Ànathuriel da. Sie stand vor Firondhir und legte ihre linke Hand auf seine Brust und die rechte auf seine Wange.


    „Hör auf“, sagte sie in einem bestimmten, ruhigen Ton.


    Ydrir konnte deutlich spüren, dass in ihrem Befehl mehr lag als nur das gesprochene Wort. Er selbst glaubte für einen Moment, der Anweisung folgen zu müssen, obwohl er überhaupt nichts tat, womit er hätte aufhören können. Und dann war da noch etwas. Als Ànathuriel sprach, schien es ihm, als legte sich ein blassgoldener Schleier aus Licht um sie. Doch im nächsten Moment war der Schimmer schon wieder verschwunden und er war sich nicht mehr sicher, ob es eine Täuschung gewesen war.


    Augenblicklich beruhigte Firondhir sich. Ihm war, als ob er aus einer Trance erwachte. Er sah von einem zum anderen. Dann blieb sein Blick auf Margil haften, der immer noch reglos auf der Bank lag, aus Mund und Nase blutend. Furcht und Scham überkamen Firondhir, als er sah und begriff, was er in seiner Wut angerichtet hatte. Er wollte zu ihm, doch Ànathuriel hielt ihn mit entgegengestreckter Handfläche zurück, und bedeutete ihm, sich um Ydrir zu kümmern. Während Firondhir dem Jungen aufhalf, kniete sie sich neben die Bank und rüttelte an Margils linker Schulter. Der Mantel war feucht, an ihren Fingern blieb Blut zurück. Sein Kopf glühte vom Fieber, so dass sie es spüren konnte, ohne ihn berühren zu müssen.


    „Was ist passiert“, fragte sie an die beiden anderen gewandt.


    „Ich…“ begann Firondhir betreten.


    „Nein, davor“, unterbrach sie ihn.


    „Wir mussten vor Kabalenkriegern fliehen. Ich glaube, er wurde angeschossen“, erklärte Ydrir mit zitternder Stimme.


    Ànathuriel schlug die Hand über die Augen, ungeachtet, dass Margils Blut eine Spur auf ihrer Stirn hinterließ. Dann fingerte sie eine winzige Phiole mit violetter Flüssigkeit aus der Hekatari-Rüstung hervor, die sie immer noch trug. Sie zerrte Margils Mantel herunter und untersuchte den ultramarinblauen, gepanzerten Anzug.


    „Wie macht man das auf?“ Ydrir kam dazu, löste den Verschluss unter dem Kinn und zog die Kleidung an der Schulter herunter. Die Haut an Margils Rücken war bis zur Wirbelsäule feuerrot, aufgequollen und fiebrig heiß. In der Einschussstelle steckte noch das blassgrüne kristallene Splittergeschoss. Ànathuriel zog es heraus und lehrte die Phiole in die Wunde. Die Wirkung riss Margil augenblicklich aus der Bewusstlosigkeit. Stöhnend richtete er sich auf und lehnte sich an die Rückenlehen.


    „Was tust du, Frau?“ ächzte er.


    „Was denkst du wohl?“ entgegnete sie. Doch die beiden anderen sahen sie genauso fragen an. „Die Splitterwaffen der Kabalenkrieger sind vergiftet. Wusstet ihr das nicht? Als Bestienmeister ist man gut beraten, immer ein universelles Gegengift zur Hand zu haben. Hoffen wir, dass in der Mischung auch etwas gegen das Waffengift enthalten ist.“


    „Sehr beruhigend“, flüsterte Margil schwach.


    „Ins Bett mit ihm. Vielleicht hält er dann seine Zunge im Zaum.“


    ***


    Ànathuriel verschwand ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht. Während sie in ihren Spiegel schaute, strich sie sich mit den Händen über die Schläfen. Ein warmes Kribbeln zog durch ihre Gesichtsnerven und floss einfach davon. Sie war sich sicher, ihre Psikräfte benutzt zu haben, unwillkürlich. Aber der Schmerz war ausgeblieben. Vielleicht war es zu kurz oder zu schwach gewesen. Trotzdem musste sie besser auf ihr Tun achtgeben.


    Kurze Zeit später saßen Ànathuriel, Firondhir und Ydrir zusammen um den Tisch im Salon. Ànathuriel hatte sich ihrer verleideten Rüstung entledigt und war in ihr langes blaues Seidennachtkleid geschlüpft. Ydrir war inzwischen wieder ruhiger geworden, wenngleich die Erinnerungen, die Margil aufgewühlt hatte, immer noch schmerzten.


    „Ydrir, verzeih meine Unbeherrschtheit“, ergriff Firondhir das Wort.


    Der junge Weltenläufer schüttelte den Kopf. „Es gibt nichts zu verzeihen. Du warst nicht du selbst, genauso wenig wie Margil. Du hast mehr durchgemacht und nicht weniger verloren als ich.“


    Der Weltenwanderer lächelte dankbar und wohlwollend. Die Duldsamkeit und Feinfühligkeit des Jungen waren bemerkenswert. Ànathuriel konnte nicht anders, als von dieser ihr bisher fremden Gesinnung beeindruckt zu sein. Ein Moment des Schweigens setzte ein, bevor sie sprach.


    „Und jetzt raus mit der Sprache, was war los?“


    Ydrir berichtet von ihrer Suche und dem fatalen Ausgang.


    „Diese Tür ist zu“, stellte Ànathuriel fest. „Und deshalb geht ihr euch gegenseitig an die Kehle? Ihr seid auf bestem Wege, echte Drukhari zu werden.“


    Ydrirs blasse Augen weiteten sich. Seine Mine wechselte von Erkenntnis zu Bestürzung.


    „Das ist es“, wisperte er entsetzt. „Wir beginnen uns zu verlieren.“


    „Was willst du damit sagen?“ wollte Firondhir wissen.


    „Schau doch hin.“ Ydrir starrte Ànathuriel an wie hypnotisiert. „Siehst du das innere Gesicht nicht? Wie ein Spiegelbild über dem äußeren. Was die Drukhari nach außen zeigen, ist eine Maske. Egal wie schön sie aussehen, in Wirklichkeit sind sie vertrocknet und ausgezehrt. Und uns ergeht es genauso, wenn wir noch länger hierbleiben.“


    Ànathuriel konnte es nicht sehen, aber sie wusste, was Ydrir meinte. Sie fühlte es in ihrem Innersten, obwohl sie es die meiste Zeit zu überspielen und verdrängen suchte. Er sprach die Wahrheit. Commorragh zerstörte seine Bewohner. Niemand, der eine längere Zeit hier verbrachte, konnte sich dem entziehen.


    „In zwei Tagen will Quisar auf die Jagd gehen. Auf einer Welt der Sieri, die die Chem-Pan-Sey vor langer Zeit entvölkert haben. Er hat dort Tiere ausgesetzt. Und noch etwas. Er weiß von euch.“ Dabei sah sie Ydrir an. „Er lässt nach euch suchen. Und er rechnet damit, dass ihr zu mir kommt und erwartet, dass ich euch ihm ausliefere. Wir können nicht länger warten.“


    Firondhir saß vornübergebeugt, den Kopf auf die gefalteten Hände gestützt, und sann vor sich hin. Auch er teilte nicht Ydrirs besondere Wahrnehmungsfähigkeit. Aber ihm war deutlich bewusst, wie er die Kontrolle über sich verloren hatte. Er trug immer noch eine tiefe Wunde, die ihn anfällig dafür machte. Und er konnte nicht sicher sein, dass er beim nächsten Mal nicht noch weiter gehen würde.


    „Wir sind einer Möglichkeit, auf sein Schiff zu gelangen, keinen Schritt näher“, sagt er. „Es hilft nichts. Uns verkleidet einzuschleichen wird nicht gelingen. Dann bleibt nichts anderes übrig, als es auf unsere gewohnte Art zu versuchen. Ydrir, morgen werden du und ich die Landestege auskundschaften. Wir finden einen Weg.“


    ***


    „Denkst du, es war ein Fehler, was wir getan haben?“


    Firondhir saßen mit Ànathuriel auf dem Bett in ihrem Schlafzimmer. Sie lehnte mit dem Rücken an seine Brust und er hatte die Arme um sie gelegt.


    „Nein, wie kommest du darauf?“ antwortete sie.


    „Es geht darum, was Margil gesagt hat“, begann er.


    „Ich habe gehört, was Margil gesagt hat. Er war neben sich, das ist alles.“


    Firondhir schwieg einen Moment betroffen. „Mir war nicht bewusst, dass du es mitbekommen hast.“


    „Und wenn schon. Was ist schon dabei? Schlafen die Aeldari auf den Weltenschiffen nicht miteinander?“ fragte sie leicht amüsiert.


    Firondhir musste kurz lachen.


    „Doch schon. Aber es ist gefährlich. Niemals kommen wir Ihr, Die Dürstet, näher als in diesem Moment. Deshalb darf es nicht um der Lust willen geschehen, sondern aus Hingabe zweier, die einander verbunden sind.“


    „Ihr Asuryani seid so völlig anders“, sagte Ànathuriel nachdenklich. „Wir Drukhari tun einfach, was uns gefällt und mit wem es uns gefällt. Aber es ergibt Sinn.“ Ihre Gedanken wanderten zurück zu den Gelegenheiten, die sie mit ihresgleichen geteilt hatte. Sie hatte die Begegnungen genossen, ohne Zweifel. Doch hinterher, wenn das Hochgefühl vergangen war, hatte sie sich nur leer und verlassen gefühlt. Mit Firondhir war es anders gewesen, wundervoll anders. Sie wollte noch einmal so empfinden. „Das heißt, wir sind einander verbunden?“


    Firondhir zögerte. Eathalvaén hatte ihnen nicht eröffnet, wen genau sie in Commorragh finden würden. Was er selbst hier verlieren sollte, hatte er nicht erwartet. Und noch weniger, was er hier finden würde. Ànathuriel war eine Dainnar, und das zeichnete ihren Pfad auf dem Weltenschiff vor. Und sein eigener war der des Weltenwanderers, der ihn immer wieder in das Sternenmeer hinausziehen würde und von dem er genauso wenig lassen konnte, wie ein Exarch von Pfad des Kriegers. Doch das alles schien hier, in der Dunklen Stadt, in unendlich weiter Ferne.


    „Ich weiß es nicht“, seufzte er.


    Ànathuriel drehte sich zu ihm um und drückte ihn sanft in die Kissen. „Dann lass es uns herausfinden.“ Sie öffnete sein Hemd. Die Spuren der Krallen der Felchu waren noch als dünne, hellrosa Streifen zu erkennen. Ànathuriel fuhr mit den Fingerspitzen darüber. Sie bemerkte, dass er zitterte. Verwundert hielt sie inne.


    „Ist etwas nicht in Ordnung?“ fragte sie sanft und legte ihre Handfläche auf Firondhirs Wange.


    Firondhir antwortete nicht. Er rang mit seinen Gefühlen. Nichts wünschte er sich in diesem Moment mehr, als Ànathuriel wieder so nahe zu kommen, wie beim ersten Mal. Aber da bereits war er nahe, viel zu nahe daran gewesen, sich in ihren Sinnesreizen zu verlieren. Die zügellose Art der Drukhari war verlockend – und verheerende.


    „Du fürchtest dich.“ Auf eigenartige Weise konnte Ànathuriel spüren, was Firondhir bewegte. „Was kann ich dagegen tun?“


    Firondhir legte seine Hand auf ihre. Ihre Berührung nahm einen Teil seiner Anspannung von ihm. Er holte tief Luft.


    „Bei den Asuryani gibt es ein Ritual. Die Partner vereinen sich mit ihren Seelen, bevor sie es körperlich tun.“


    Beinahe hätte Ànathuriel spontan gelacht. Aber sie verstand, wie ernst Firondhir die Angelegenheit war. Sie nahm eine Haarsträhne, die über seine Stirn gefallen war, zwischen die Finger, und schob sie hinter sein Ohr zurück.


    „Ich dachte, das hätten wir schon getan“, sagte sie mit einem Lächeln. „Aber zeige mir, wie das geht.“


    Firondhir richtete sich auf und setzte sich ihr gegenüber. „Es ist eine Art Meditation. Ich habe es noch nicht sehr oft gemacht“, sagte er beinahe entschuldigend. Er nahm ihre rechte Hand und legte sie auf seine Brust, dann tat er das gleiche bei Ànathuriel.


    Ànathuriel spürte Firondhirs Herzschlag und seine tiefen Atemzüge unter ihrer Handfläche. Anfangs noch rasch und heftig, wurde er von Mal zu Mal ruhiger. Sie schloss die Augen. Beinahe unwillkürlich glich sie den Rhythmus ihres eigenen Körpers an seinen an. Schon nach wenigen Augenblicken konnte sie kaum mehr einen Unterschied ausmachen, sie waren in völligem Einklang.


    Und dann spürte sie, dass noch etwas anderes geschah. Ihre Gedanken und Gefühle flossen ineinander wie zwei Wassertropfen, ohne Bilder, ohne Worte. Ohne die Sturzflut aus Emotionen, die sie in ihrer ersten gemeinsamen Nacht verspürt hatte. Doch sie vermisste sie nicht.


    Nie hätte sie geglaubt, dass es möglich war, so zu empfinden. Die Zeit schien stillzustehen und das gesamte Sein nur aus ihnen beiden zu bestehen. Sie gehörten zusammen, sie waren eins und nichts anderes hatte mehr Platz.



    _________________________

    [1] Uisar: zurückziehen

  • Kapitel 11

    Infiltration


    Ànathuriel saß in der Dunkelheit ihres Zimmers auf dem Bett, die Knie angezogen, die Arme um die Beine geschlungen. Sie hatte die Augen geschlossen und den Kopf auf die Knie gelegt. Ihr offenes, purpurrotes Haar fiel über ihr Gesicht. Alle Vorbereitungen für ihre Flucht aus Commorragh waren getroffen. Jederzeit hatten sie erwarte, dass Kabalenkrieger vor ihrer Tür auftauchen würden. Doch Quisar hatte sie bisher unbehelligt gelassen. So dachten sie zumindest.


    Firondhir und Ydrir waren sich sicher, einen gangbaren Weg gefunden zu haben, sich auf Quisars Jacht zu schleichen. Der Hafen der Kabalenfestung war groß, mit zahlreichen Landungsbrücken und Andockbuchten. Ydrir hatte zu seinem Talent zurückgefunden, die Nähe von Bedrohungen zu spüren. Sich seiner Schwäche genau bewusst, ließ er sich nun nicht mehr von der dunklen Präsenz der Drukhari anziehen. Den beiden war es gelungen, sämtliche Wachen zu umgehen und unmittelbar vor den Anleger des Schiffs zu gelangen. Jetzt würden sie nur noch eine günstige Gelegenheit abwarten müssen, sich an Bord zu stehlen. Dass die Jacht ein offenes Vorderdeck hatte, schien ihnen in die Hände zu spielen. Und IstuKarun waren in Geduld geübt.


    Margil war so weit wieder hergestellt. Das Gegengift hatte gewirkt und die Entzündung war zurückgegangen. Aber der linke Arm zitterte, wenn er ihn zu lange belastete.


    „Einer von euch wird mir das Gewehr halten müssen, wenn ich etwas treffen soll“, hatte er gesagt.


    Ohne Zögern hatte er Firondhirs Entschuldigung angenommen und seinem Plan zugestimmt. Ànathuriel hatte immer noch Zweifel. „Dein Prinz glaubt, er wäre der Erbe des Großen Jägers“, versuchte Firondhir sie zuversichtlich zu stimmen. „Er wird noch erkennen, dass auch wir IstuKarun von Kurnous gelernt haben.“


    „Im Schatten, unter den Augen seiner Feinde, und doch unsichtbar. Dort wandelt der IstuKarun am sichersten“, fügte Margil hinzu. Dann hatten er und Ydrir sich von ihnen verabschiedet. Jede Stunde, die sie länger bei Ànathuriel verweilten, erhöhte das Risiko, dort entdeckt zu werden.


    Wenig später war sie mit Firondhir in die Dressurhalle gegangen. Ànathuriel wollte noch einmal sicher gehen, dass sie Felchu ihnen nicht doch noch einen Strich durch die Rechnung machten. Doch ihre Bedenken waren unbegründet. Es war, wie Firondhir gesagt hatte. Die Tiere hatten gewählt, wem sie ihr Zutrauen und ihren Gehorsam schenkten. Mit aufgerichteten Ohren und wedelndem Schwanz begrüßte Arithav den Weltenwanderer. Es machte Ànathuriel Freude, Firondhir so vertraut mit den Tieren zu sehen. Ob es möglich wäre, sie ebenfalls mit fortzunehmen? Konnte man so große Raubtiere auf einem Weltenschiff überhaupt halten. Jedenfalls würde sie die Felchu vermissen.


    Dann begleitete sie Firondhir zurück in den Zellenbereich unterhalb der Gartenarena. Es missfiel Ànathuriel, ihn wieder Quisars Schergen zu überlassen. Ihr war, als würde man ihr einen wertvollen Besitz wegnehmen. Aber Firondhir blieb bei seinem Wort. Noch gehörte er dem Prinzen von DorchaKerun, noch mussten sie den Schein waren. Niederrangige Kabalenkrieger nahmen den Sklaven entgegen und führten ihn fort. Mit einem letzten, verstohlenen Blickwechsel hatte Ànathuriel Firondhirs Gedanken aufgefangen: „Ich vertraue dir, Dainnar, bedingungslos. Alles wird gutgehen.“


    ***


    Nun war es früher Abend. Sie selbst würde morgen früh zusammen mit den anderen Jagdteilnehmern an Bord gehen.


    Die drei IstuKarun hatten nicht mehr mitbekommen, was nach ihrem Fortgehen geschehen war. Aus heiterem Himmel war es über sie hereingebrochen, sie hatte es weder kommen sehen noch heraufbeschworen, es passierte einfach. Eine Sturzflut aus Bildern überschwemmten ihren Geist, in einer Menge, dass sie nicht erkennen konnte, was sie zeigten. Die Eindrücke überlagerten sich hundert- und tausendfach. Ihre schiere Gewalt hatte sie zu Boden geworfen und ihr die Luft genommen. Erst nach quälend langen Minuten war sie wieder zu sich gekommen und hatte sich, immer noch benommen, auf ihr Bett gehievt. Erschöpft war sie auf dem Rücken liegen gelblieben.


    In der rechten Hand drehte Ànathuriel den Seelenstein. Firondhir hatte ihn ihr anvertraut, bevor sie zur Dressurhalle aufgebrochen waren. Die Oberfläche fühlte sich hart und makellos glatt an, doch auf seltsame Weise angenehm warm, nicht wie ein gewöhnlicher Stein, der die Wärme der Hand entzog. Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie das, was ihr eben widerfahren war, nicht ignorieren durfte. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich nur auf das Gefühl des Steins in ihrer Hand.


    Die Bilder hatten sich in ihr Gedächtnis eingegraben. Je mehr sie ihrem Geist freien Lauf ließ, umso deutlicher wurden die Erinnerungen. Viele ähnelten sich. Es brauchte einige Zeit, bis Ànathuriel erkannte, was sie zeigten. Sie sah vor ihrem inneren Auge, was Firondhir berichtet hatte, wie die Weltenläufer sich dem Schiff des Archons näherten und einen Eingang suchten. Aber es war nicht Firondhir, der mit Ydrir durch die Gänge schlich. Es war Margil. Das konnte nicht sein! Das war nicht das, was sich bereits ereignet hatte, was sich in ihrem Kopf zu Bildern geformt haben mochte oder sie vielleicht aus den Erinnerungen der IstuKarun gelesen hatte. Sie sah etwas, was gerade jetzt oder vielleicht in den nächsten Stunden geschah.


    Ànathuriel schnappte nach Luft. War das möglich? War dies die mysteriöse Fähigkeit der Asuryani-Seher, von der sie gehört hatte? Die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen? Sie fuhr auf. Nein! Auf keinen Fall dufte sie damit fortfahren. Sie hatte keine Ahnung, was sie tat, wie sie es tat. Sie hatte keine Kontrolle über ihre Fähigkeiten. Sie durfte sich nicht verleiten lassen, dieses Risiko noch einmal einzugehen.


    Doch dann kamen ihr Zweifel. Was, wenn etwas falsch lief? Sie könnte es vorher wissen und vielleicht eingreifen. War es nicht das, was die Seher taten? Sie hörte in sich hinein, achtete auf die Signale ihres Körpers. Ein leichtes Kribbeln in der Schläfe, mehr spürte sie nicht. Und ihren rascheren Herzschlag, sonst nichts. Dafür in ihrem Verstand ein tiefsitzender Drang, die Bilder weiter zu erforschen. Sie holte tief Luft, legte sich wieder lang auf das Bett und versuchte, sich zu entspannen, den Seelenstein mit beiden Händen umschlossen auf der Brust. Sie spürte, wie der Stein wärmer wurde.


    Die Bilder kehrten zurück, diesmal wie durch einen dünnen Nebelschleier, doch zusammenhängend und in Bewegung. Zwei verstohlene Schatten, die sich durch die Hafenanlagen bewegten und den schwarzgerüsteten Gestalten auswichen, die dort patrouillierten. Aber etwas passte nicht. Immer wieder waren Sequenzen dabei, die sich in keine sinnvolle Reihenfolge einfügen ließen. Ànathuriel spürte, wie das Kribbeln stärker wurde.


    Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Es war nicht nur eine Geschichte. Es waren mehrere. Die Bilder zeigten ihr nicht, was gerade passierte, oder was passieren würde, sondern welche verschiedenen Richtungen die Ereignisse nehmen könnten. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie musste alle Möglichkeiten sehen. Vielleicht gab es eine, bei der alles lief wie geplant. Doch es waren viele, zu viele. Sie rauschten in einem Sturzbach aus Eindrücken durch ihren Verstand, immer schneller, so dass sie sie kaum erfassen konnte. Das Kribbeln in der Schläfe wurde zu einem Ziehen. Die Wärme des Steins begann unangenehm zu werden. Nur noch einen Moment, und noch einen weiteren, und –


    Ànathuriel schnellte hoch und rang nach Luft. Der Schmerz in der Schläfe war kurz davor gewesen, unerträglich zu werden. Nun ließ er langsam nach. Der Seelenstein hatte ihre Handflächen leicht verbrannt, als hätte sie ein Gefäß mit heißem Wasser umklammert, doch wagt sie noch nicht, ihn loszulassen. Sie zog die Beine an, schlang die Arme um die Schenkel und ließ den Kopf auf die Knie sinken. Ein tiefes Schluchzen schüttelte sie.


    Sie war sich nicht sicher, ob sie alle Versionen gesehen hatte. Aber eins war sicher: Alle, die sie gesehen hatte, endeten gleich. In keiner gelangten die IstuKarun auf das Schiff. In den Korridoren des Hafenbezirks, auf den Quais, auf der Landebrücke, egal wo: Kabalenkrieger stellten sie, kreisten sie ein, nahmen sie unter Beschuss oder fielen mit ihren Klingen über sie her. Gegenwehr oder Aufgabe, ganz gleich, am Ende lagen Margil und Ydrir tot auf dem schwarzen Marmorboden.


    Das Bild brannte sich schmerzlich in Ànathuriels Geist und Seele. Sie hatte nichts erkennen können, was diesen Verlauf abzuwenden vermochte. Einem wirklichen Seher wäre das vielleicht gelungen. Aber das war sie nicht. In diesem Moment schien es ihr Gewissheit zu sein: Was sie gesehen hatte, musste geschehen und würde geschehen. Nicht konnte es verhindern.


    Sie holte tief Luft und wischte sich mit den Händen über das Gesicht. Es war feucht. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals wegen eines anderen Lebwesens geweint zu haben. Jetzt tat sie es.


    Mit den Tränen flossen auch Anspannung und Verzweiflung aus ihr heraus – eine wohltuende Wirkung, mit der sie nicht gerechnet hatte. Bald wurde ihr Atem wieder ruhig und ihr Kopf klar. Die Visionen hatten ihr keinen Ausweg gezeigt. Aber musste das zwangsläufig heißen, dass es keinen gab? Verließen sich die Asuryani-Seher nur auf das, was ihnen gezeigt wurde? Sie war jedenfalls keine Seherin. Vielleicht würde sie einmal eine sein, aber jetzt musste sie ohne übersinnliche Fertigkeiten auskommen. Sicher war eigentlich nur eins: Ydrir und Margil würden es von sich aus nicht an Bord schaffen. Also musste sie in die Wege leiten, dass sie dorthin kamen. Sie hatte Quisar eine Zusage gemacht. Nun war es an der Zeit, sie einzulösen.


    Ànathuriel stand auf und ging ins Badezimmer. Sie wusch sich und machte die Haare mit einer einfachen, aber festen Flechtfrisur zurecht. Sorgfältig legte sie ihre Hekatari-Rüstung an und steckte ihre Klinge in den Gürtel. Zuletzt setzte sie ihre federgeschmückte Vogelmaske auf. Beim Blick in den Spiegel sah eine Fremde sie an. Aber diese Rolle musste sie jetzt noch einmal spielen. Als Ànathuriel in der Eingangstür stand, drehte sie sich noch einmal um. Wie auch immer der nächste Tag endete, hierher würde sie nicht zurückkommen.


    ***


    In Commorragh wurde es niemals dunkel. Die gestohlenen Sonnen hielten die Stadt in einem andauernden trüben Zwielicht gefangen. Aber es wurde Nacht, oder zumindest etwas, das man damit vergleichen konnte. Zu dieser Zeit versammelten sich große Teile der Bevölkerung der Oberstadt in den Arenen der Hekatari-Kulte, um sich dort mit blutigen Gladiatorenkämpfen zu unterhalten. Zurück blieben diejenigen aus dem Fußvolk, die zum Wachdienst aufgestellt waren. Auch auf den oberen Landungsbrücken, die sich direkt unterhalb der Palastspitze wie ein Dornenring um den Turm von DorchaKerun legten, waren einige Kabalenkrieger unterwegs.


    Ein Ring aus Arkaden, der sich tief bis in die äußere Turmfassade ausdehnte und von Reihen aus Säulenbündeln getragen wurde, bildeten den Zugang zu den Kais. Jede Landungsbrücke war die Verlängerung eines halbrunden, überdachten Balkons, der dem Gebäude entsprang. Margil und Ydrir waren unbehelligt durch das Labyrinth der Korridore und Treppen bis hierher vorgedrungen.


    Die Jacht des Archons lang am äußersten Ende der nächstliegenden Piers vor Anker. Es war ein schnittiges Schiff, am Heck höher als am Bug, mit ausladenden, stachelbewehrten Sonnensegeln, die bereits für die morgige Abreise ausgefahren waren. Das Wappen von DorchaKerun, der grüne Sichelmond und die goldglänzende Rune Kurnous‘, zierten die Segel. Wie ein drohender Raubvogel saß das Schiff an der Seite des Palastturmes. Seine Silhouette zeichnete sich schwarz vor dem fahl erleuchteten Himmel ab.


    Der Weltenläufer und der Weltenwanderer schmiegten sich in die Nischen der segmentierten Strebpfeiler. Das Zweilicht hier draußen machte die Schatten noch dichter, und Schatten war der Verbündete der IstuKarun. Flink huschten sie von einer Säule zu nächsten, bis Ydrir die Hand hob. Sein sechster Sinn hatte ihn alarmiert. Er schloss die Augen und atmete ruhig aus. In seinem Geist bildete sich die Umgebung ab wie aus weißem Nebel geformt. Und in dem Schwaden bewegte sich etwas. Dunkle Formen, wie Phantome, und ein schauderhaftes Gefühl des Verloren seins, wenn er seine Aufmerksamkeit auf sie richtete. Sie nährten sich.


    Er öffnete die Augen wieder, sah zu seinem Gefährten und deutet in die Richtung, in der er die Kommenden wahrgenommen hatte. Margil signalisierten Verstehen. Jeder platzierte sich auf der abgewandten Seite einer der inneren Säule. Der Farbton ihrer Cameolin-Mäntel musste sich nur geringfügig anpassen, um sie in den Schatten unsichtbar zu machen.


    Zwei Kabalenkrieger tauchten um die Kurve des Bogengangs auf. Sie schritten ohne Eile voran, die goldglänzenden Splittergewehre quer vor der Brust. Die hohen, schwarz glänzenden Helme wandten sich gelegentlich nach links oder rechts. Die Wachen passierten den Zugang zur Landungsbrücke, ohne von den Weltenläufern Notiz zu nehmen. Beinahe waren sie schon hinter der gegenüberliegenden Biegung verschwunden, als aus dem inneren des Turms ein bellender Befehl erscholl. Die beiden hielten an.


    In einem Ausgang erschien ein Sybarit mit zwei weiteren Kabalenkriegern im Gefolge. Überrascht sahen die beiden Asuryani sich um. Margil war auch für die Neuankömmlinge außer Sicht. Aber Ydrir stand auf seiner Seite des Pfeilers ihnen halb zugewandt. Mit knarzenden Schritten näherte der Trupp sich. Ydrirs erster Gedanke war, sich zu verbergen, behutsam, Schritt für Schritt, den Pfeiler zu unrunden und aus dem Blickfeld der Drukhari zu verschwinden. Doch seien Hände und Füße gehorchten ihm nicht. Etwas hielt ihn davon ab, sich zu bewegen. War es Furcht, die ihn lähmte?


    Nein, er war vollkommen bei sich. Ein Instinkt hielt ihn davon ab, sich zu rühren. Ydrir konzentrierte sich auf seinen Atem, synchronisierte ihn mit seinem Herzschlag, bis er völlig ruhig und bewegungslos an dem Pfeiler lehnte und sich noch weiter in den Spalt schmiegte, als wollte er mit dem schwarzen Stein verschmelzen. Er schloss die Augen. Die Schritte waren jetzt unmittelbar neben ihm - und verstummten. Sein Geisterblick zeigte ihm, dass die Kabalenkrieger direkt neben ihm stehen geblieben waren. Die beiden anderen kamen ihnen entgegen.


    „Neue Befehle", hörte er den Sybariten sagen. Dann schien der Kommandant eine dirigierende Armbewegung zu vollführen. Die beiden anderen verbeugten sich knapp als Zeichen des Gehorsams, dann zog der nun vier Köpfe zählende Trupp in Richtung der Landungsbrücke ab. Der Sybarit blieb noch an Ort und Stelle stehen und sah sich nach allen Richtungen um. Für einige Momente wiesen seine purpurrot glühenden Augen genau auf Ydrir. Dann folgte er den Kriegern.


    Als sie fort waren, holte Ydrir tief Luft und löste sich mit einem Schritt rückwärst vom Pfeiler. Margil eilten zu ihm.


    „Das war großartig." Der Weltenwanderer legte ihm lobend die Hand auf die Schulter. „Du warst für die Drukhari wahrhaft unsichtbar.“ Ydrir lächelte verlegen. „Meinem Schrein der MeanTokath würdest du alle Ehre machen,“ setzte Margil hinzu.


    „Skorpionkrieger?" fragte Ydrir verwundert. „Sagtest du nicht, du seist ein Rächer Asuryans gewesen?“


    „Das auch.“


    ***


    Die beiden warteten noch einige Minuten, bis sie sich aus dem Schatten der Pfeiler auf den Zugang zum Pier wagten. Der lange Steg, an dessen Ende die Jacht lag, war ein überdachter Laufgang, getragen von schlanken Säulen und gesäumt mit Reihen von Stacheln, die keinen anderen Zweck zu haben schienen, als dem martialischen ästhetischen Empfinden der Drukhari zu gefallen. Die IstuKarun kletterten an den Pfeilern hinauf und schlichen geduckt das Dach des Laufganges entlang. Nach kurzer Zeit hatten sie sich dem Schiff bis auf wenige Meter genähert. Sie hielten inne. Margil sah Ydrir fragend an. Der ging kurz in sich, dann nickte er. Der Weg war frei.


    Der Laufgang mündete unmittelbar vor der torgroßen Zugangsluke im Mittelrumpf des Schiffes. Der Schiffskörper bestand hier aus den bloßen, übereinander geschichteten Strukturen der neun Decks. Darüber thronte die Kuppel der Brücke. Bug- und Heckbereiche dagegen waren mit konkav ansteigenden, glatten und schwarzglänzenden Platten verkleidet, die sich achtern zu einem konkaven Dach wölbten, vorne jedoch in einem offenen Oberdeck endeten.


    Die beiden Aeldari machten sich daran, die Bordwand hinaufzuklettern. Die horizontalen Sparren, durchsetzt mit vertikal oder diagonal verlaufenden Elementen, erleichterten ihnen den Aufstieg. Unbemerkt und schon nach kurzer Zeit hatten sie das Oberdeckt erreicht. Ydrir half Margil über die Brüstung, dessen immer noch angeschlagener linker Arm auf den letzten Metern an Kraft verloren hatte.


    Das Oberdeckt war mit Marmorplatten ausgelegt. Dornenartige Pfosten wölbten sich leicht gebogen über die Fläche. Zwischen ihnen waren Kabel gespannt, daran Bahnen von dunkelblauem Segeltuch aufgerollt und sicher befestigt. Bei Planetenaufenthalten mochten sie als Sonnenschutz ausgezogen werden. Über das Deck verteilt ragten niedrige Marmorblöcke aus dem Boden auf. Die geschwungen gearbeiteten Oberseiten ließen sie als Podeste für Sitzpolster, Liegen und Sessel erkennen. Sie waren halbkreisförmig angeordnet um eine ovale Vertiefung in der Mitte des Decks, in deren Boden sich eine fünfeckige, vergitterte Luke befand. Welchem Zweck sie auch immer dienen mochte, für die Weltenläufer bot sie eine günstige Gelegenheit, den Einstieg in das Schiff zu versuchen.


    Margil kniete nieder und untersuchte das aus einem regelmäßigen Muster aus Dornenranken gearbeitete Gitter, spähte durch die Lücken und lauschte. Im Unterdeck herrschte Finsternis, es drangen keine Geräusche hinauf, die auf die Anwesenheit von Lebewesen hindeuten würden. Er winkte Ydrir zu sich. Der junge Weltenläufer legte sich flach auf den Bauch und spähte hinunter. Dann richtete er sich wieder auf und schüttelte den Kopf. Auch er konnte nichts wahrnehmen. Margil holte aus einer seiner Taschen ein langgezogenes sechseckiges Prisma aus klarem Kristall und eine silberne Spindel hervor. Von der Spindel löste er den Anfang eines dünnen, festen Seils und befestigte den Kristall daran. „Las[1]“ flüsterte er kaum hörbar. Doch es genügte, dass der Kristall aufleuchtete und fortdauernd ein schwaches, goldgelbes Licht abstrahlte. Margil ließ ihn durch den Gitterrost hinunter.


    Der Raum unter ihnen war nicht tief, nicht mehr als die Höhe einer Zimmerdecke. Es waren keine Gegenstände zu erkennen, die auf irgendeine spezielle Funktion hindeuteten.


    Margil holte das Licht wieder ein und ließ es mit dem Wort „Ifiath[2]“ wieder verlöschen. Dann griff er in das Gitter und zog vorsichtig daran. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass es zwar schwer, aber nicht verschlossen war. Ydrir griff mit zu. Gemeinsam gelang es den beiden, das Gitter gegen den Widerstand des Lagers so weit unter den Deckboden zu schieben, dass ein Spalt frei wurde, groß genug, um hindurchzuschlüpfen. Lautlos ließen sich die Ranger nacheinander in das Unterdeck fallen. Zuletzt reckte Margil sich und gab dem Gitter einen Stoß. Es glitt geräuschlos zurück in seine ursprüngliche Position.


    Die beiden sahen sich um. Sie standen auf einer weiteren Gitterplatte, die in ihren Ausmaßen der oberen entsprach. Der Raum im sie herum war nur wenig größer. Es schien ein Schacht zu sein, in den auf dieser Ebene drei offene Türen mündeten.


    „Wie jetzt weiter?“ flüsterte Ydrir.


    Margil dachte kurz nach. Ànathuriel hatte ihnen eine grobe Beschreibung des Inneren der Jacht gegeben, soweit sie ihr bekannt war. Demnach sollten sich in den Ebenen unterhalb des Oberdecks zuerst Kombüse und Lagerräume, noch tiefer um Rumpf die Brig befinden, in der Sklaven und Gefangene untergebracht wurden. Hier würden sie Firondhir finden. Vor einem Realraumüberfall standen die Zellen ansonsten leer und es gab keinen Grund sie zu bewachen. Das ideale Versteckt.


    Margil untersuchte das Gitter unter ihren Füßen. Es saß fest im Boden. Dann entdeckte er an der Wand ein Kontrollpaneel. Die schwach grün leuchtenden Runen zeigten an, dass das Fallgitter von der darunterliegenden Ebene aus gesichert war.


    „Wir müssen einen anderen Weg nach unten finden“, sagte er.


    "Im Mittelschiff wird es Treppen oder Lifte geben“ erwiderte Ydrir. „Aber sicherlich auch mehr Wachen. Und wenn wir versuchen, die Kontrollen zu manipulieren?“


    „Das könnte bemerkt werden“, antwortete Margil.


    Ydrir schwiegen kurz. „Die Gänge hier sind beengter als in der Kabalenfestung“, sagte er. „Wenn sich Wachen nähern, habe wir vielleicht nicht die Möglichkeit, ihnen aus dem Weg zu gehen.“


    „Falls wir einen Alarm auslösen, wird es einige Minuten dauern, bis Krieger hier sind. Genug Zeit, um weiter unten ein Versteck zu finden“, ergänzte Margil.


    „Dann machen wir es so“, stimmte Ydrir zu. Margil versuchte einige Tastenkombinationen, jedoch ohne Erfolg. Daraufhin reichte Ydrir ihm einen in Silber gefassten, halbrunden Edelstein. Mit der flachen Unterseite legte er das Gerät auf das Tastenfeld. Die Kontrollrunen brachen und verzerrten sich in dem gewölbten, transparenten Kristall. Margil bewegte den Stein von einer Rune zur nächsten. Einige Minuten dauerte es, dann wechselten die Tasten die Farben. Er drückte eine Rune. Mit einem leisen Zischen glitt das Bodengitter zur Seite. Zugleich glomm eine schwache, grüne Beleuchtung im Schacht auf, gerade hell genug, um zu erkennen, dass die Plattform des Aufzugs sich am Boden des mindestens drei Decks hohen Laderaumes unter ihnen befand.


    Margil wollte nicht wagen, die Technik des Schiffs noch weiter zu nutzen. Er zog seine Seilspindel hervor und befestiget das Ende mit einer Klammer am Rand des Schachtes. Einer nach dem anderen ließen die Weltenläufer sich in das untere Deck hinab.


    Der Weitläufigkeit des Raumes nach zu urteilen, musste er das gesamte Unterdeck des Vorschiffes einnehmen. Auf dem Grund des Frachtraumes stapelten sich Kisten und Fässer. Darüber waren in der schwachen Beleuchtung über zwei Ebenen breite Galerien an beiden Rumpfseiten zu erkennen. Der nur wenige Meter breite Spalt zwischen den Laufgängen wurde in regelmäßigen Abständen durch Stege überbrückt. Längs der schrägen Bordwände reihten sich enge, finstere Alkoven, die zwischen den blanken Sparren eingesetzt waren.


    Margil zog kurz an dem Seil. Die Klammer löste sich und die Leine glitt lautlose herab. Während er sie wieder zu einer Spindel aufrollte, sucht Ydrir die Laufgänge ab. Schon nach kürzester Zeit hatte er Firondhir gefunden. Der Weltenwanderer saß am Boden einer Zelle auf der unteren Ebene, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen und den Kopf auf den Knien.


    „Firondhir“, flüsterte der junge Weltenläufer.


    Der Weltenwanderer hob den Kopf. Sein Gesicht war blass, die Augen von dunklen Ringen gezeichnet. Seine feinfühligen Sinne ließen Ydrir eine Ahnung von den düsteren Empfindungen wahrnehmen, die dieser Ort in Firondhir aufgewühlten hatten.


    „Wie geht es dir?“ frage Ydrir.


    „Dem Umständen entsprechend“, antwortet der Weltenwanderer. „Ist Margil bei dir?“


    Ydrir wies auf das Unterdeck. „Ich hole dich heraus“, sagte er und begann, sich am Schließmechanismus zu schaffen zu machen.


    „Noch nicht! Es könnten noch Wachen hier auftauchen, ehe wir das Ziel erreichen. Sucht euch ein Versteck. Ohne Verdacht wird niemand nach euch Ausschau halten. Wartet auf Ànathuriel.“


    Ydrir nickte. „Wir sind bei dir.“


    Derweil hatte Margil einen geeigneten Platz gefunden. Nahe eines Treppenaufgangs bildeten einige Frachtcontainer eine komfortable Nische, die von keiner Seite des Decks einsehbar war und Platz genug für sie alle drei bot. Ydrir gesellte sich zu ihm, keinen Moment zu früh.


    Vom hinteren Ende des Frachtraums drang ein Lichtschein herein. Die Hauptluke zum Mittelschiff öffnete sich, ein kleiner Trupp aus drei Kabalenkriegern trat ein. Augenblicklich wurde die Beleuchtung heller. Margil hatte recht behalten, seine Manipulation an der Aufzugskontrolle war nicht unentdeckt geblieben. Einer der Krieger schritt zu einem Kontrollpaneel, überprüfte die Einstellungen und drückte einige Tasten. Prüfend blickte er nach oben. Ein leises Zischen war zu hören, gefolgt von einem Knacken. Das Gitter des Aufzugsschachtes musste sich wieder geschlossen und gesichert haben.


    Dann schwärmten die Kabaliten aus, verteilten sich durch den Frachtraum und gingen die Galerien ab. Einer sah nach dem Gefangenen. Firondhir verharrte reglos, den Kopf gesenkt, ohne auf den Drukhari zu reagieren, als dieser an ihm vorbeiging. Der Krieger warf einen kurzen Blick auf den Asuryani zu seinen Füßen, dann ging er weiter.


    Die Schritte der Wachen hallten metallisch auf den Gitterrosten der Laufgänge. Suchend drehten sie ihre von hohen Helmen bedeckten Köpfe nach rechts und links. Die Augen glühten in bedrohlichem Purpurrot. An den schwarz glänzenden Panzerplatten ihrer Rüstungen brach sich das Licht in grün und orange. Die Splittergewehre hielten sie schussbereit.


    Beinahe direkt über den IstuKarun bleib einer der Krieger stehen. Die beiden zogen die Kapuzen ihrer schwarzen Mäntel tief ins Gesicht und wichen weit in den Schatten zwischen den Sparren der Bordwand zurück. Eine schiere Endlosigkeit bewegte der Drukhari sich nicht von der Stelle. Margil taste langsam nach einer seiner Klingen. Ydrir spürte seine Absicht. Er sandte einen Gedanken in seinen Geist, als würde er ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm legen. Margil entspannte sich und ließ von seinem Vorhaben ab. Wenige Augenblicke später setzte der Krieger seinen Weg fort.


    Nach einigen Minuten hatten die drei Kabaliten ihren Kontrollgang beendet und trafen sich wieder in der Mitte des Raumes. Sie nickten einander zu, signalisierten, dass nichts Auffälliges vorzufinden war, und verließen das Frachtdeck. Die Luke fuhr hinter ihnen zu und das Lichte dimmte wieder zu der dunkelgrünen Notbeleuchtung.


    Margil und Ydrir kamen aus ihrem Versteckt hervor. So gut es ging, richteten sie sich in der Nische zwischen den Containern ein.


    "Das wäre geschafft“, sagte Margil. „Ich würde sagen, wir geben einen recht guten Trupp ab.“ Dabei klopfte er Ydrir anerkennend auf die Schultern. „Jetzt müssen wir nur noch warten, bis unsere Freundin uns abholt.“


    „Wir sollten trotzdem auf der Hut sein“, ließ sich Firondhir leise von oben vernehmen. „Zumindest sollten wir damit rechnen, dass von Zeit zu Zeit jemand herunterkommt, um etwas von der Ladung zu holen. Wir wissen nicht, wie lang die Reise zu diesem Planeten dauert.“


    „Zweifellos“, stimmte Margil zu. „Aber ich habe inzwischen volles Vertrauen in unseren jungen Seher.“


    Ydrir lächelte. „Im Moment droht tatsächlich keine Gefahr. Zumindest keine unmittelbare, die ich wahrnehmen kann. Fürs erste können wir uns ausruhen.“


    „Dann sollten wir diese Zeit nutzen“, sagte Firondhir und lehnte sich gegen die Wand seiner Zelle. Nun da seine Gefährten zu ihm gestoßen waren, fiel ein großer Teil seiner Anspannung von ihm ab. Alles würde gut gehen.


    Wenige Stunden waren vergangen, als ein tiefes, vibrierendes Summen, gefolgt von einem kurzen Beben durch das Schiff lief. Der Antrieb wurde hochgefahren. Die Jacht legte ab und machte sich auf den Weg ins Netz der Tausend Tore.


    __________________

    [1] Las: glühend

    [2] Ifiath: Dunkelheit

  • Kapitel 12

    Verrat

    Margil und Ydrir hatten sich auf dem Boden in ihre Mäntel eingewickelt und schliefen. Während Margil wie ein Stein war, zuckte Ydrir immer wieder zusammen und murmelte unverständliche Worte. Firondhir lehnte mit dem Rücken an der Wand des Alkovens, hatte die Beine angezogen und locker die Arme auf die Knie gelegt. Seine Gedanken waren bei dem Jungen. Er fragte sich, ob seine Träume eine Erscheinungsform seiner Begabung waren, oder ob ihn im Schlaf die Erinnerungen an all die Schrecken der vergangenen Tage und Wochen wieder einholten. Ydrir hatte nicht weniger durchgemacht als er selbst, und dennoch ertrug er alles mit einer Duldsamkeit, um den Firondhir ihn beinahe beneidete, und erhielt sich dabei seine Sanftmut und seine Einfühlsamkeit. Seinen Wert als Weltenläufer hatte der Junge mehr als einmal unter Beweis gestellt. Doch dies war ein Pfad, der diese hervorragen Charakterzüge nur allzu leicht zerstören konnte. Er selbst hatte sie nie besessen, nicht in dieser Größe, doch was er hatte, hätte er beinahe verloren. Mehr hatte Illurayon für ihn nicht tun können. Aber er wollte mehr für Ydrir tun. Für ihn musste es andere Pfade geben als den des Ausgestoßenen.


    Und sein eigener? Es war nicht das erste Mal, dass Firondhir in letzter Zeit diesen Gedanken nachhing. So viel hatte sich verändert, in so kurzer Zeit. Illurayon war fort, für immer. Ein halbes Leben hatten sie miteinander verbracht, mehr Brüder als Freunde. Doch inzwischen hatte er sich mit dem, was geschehen war, abgefunden. Es war vorherbestimmt gewesen. Illurayon hatte es gewusst, als er den Auftrag des AreIdainn angenommen hatte, und er hatte es gewusst in dem Moment, in dem sich die Bestimmung erfüllte. Und was danach geschehen war? Das war seine eigene Entscheidung gewesen. Inzwischen bedeutete Ànathuriel ihm mehr als irgendetwas anderes, selbst mehr als Illurayon ihm je bedeutet hatte. Als diese Erkenntnis über ihn gekommen war, hatte sie ihn noch erschreckt. Doch selbst das war nun vergangen.


    Aber wie sollte es weitergehen? Es war ihnen gelungen, der Dunklen Stadt zu entkommen. Nicht mehr lange und sie würden nach ZarAsuryan zurückgekehrt sein, wie es ihr Auftrag war. Und ganz gleich, welchen Pfad Ànathuriel dann beschreiten sollte, Firondhir war fest entschlossen, an ihrer Seite zu bleiben.


    ***


    Eine kurze Vibration ging durch den Schiffsrumpf, begleitet von einem anhaltenden, dumpfen Rauschen, das die Bordwände zittern ließ. Margil und Ydrir regten sich.


    „Was war das“, fragte Ydrir.


    „Das Schiff hat das Netz der Tausend Tore verlassen und fliegt jetzt in der Atmosphäre unseres Ziels“, antwortete Margil.


    „Wir sollten uns bereithalten, es kann nicht mehr lange dauern“, raunte Firondhir von oben.


    Wenige Augenblicke später erschien Margil vor seiner Zelle. Er untersuchte eingehend den Verschluss und öffnete ihn dann mit Hilfe des Schlüsselkristalls. Dann reichte er Firondhir die Hand und half ihm auf die Füße. In ihrem Versteck angekommen übergab er ihm seinen Anzug, den schwarzen Weltenläufermantel und das Jagdgewehr, die sie mitgebracht hatten. Firondhir legte seine Ausrüstung an. Gemeinsam verharrten die drei IstuKarun zwischen den Kisten und warteten.


    Eine Weile später lief ein weiteres Beben durch den Rumpf, dann fuhren die Maschinen nach einem kurzen Aufheulen herunter. Eine von fast unhörbarem, niederfrequentem Summen untermalte Stille breitete sich aus. Die Jacht musste irgendwo angelegt haben. Kurz darauf öffnete sich die Luke zum Frachtraum. Firondhir spähte um die Kante eines Containers. Einige Kabalenkrieger machten sich an einem Teil der Ladung zu schaffen. Er signalisierte den beiden anderen, in Deckung zu bleiben. Sie mussten sich noch etwas gedulden.


    Ohne Vorwarnung wurden die Seiten ihres Verstecks auseinandergezogen. Margil, der an einer der Kisten gelehnt hatte, fiel der Länge nach auf dem harten Metallboden. Ydrir sah erschrocken auf. Firondhir gelang es, einen Schritt zurückzuspringen.


    Die drei Asuryani sahen sich von einem halben Dutzend Kabalenkriegern umgeben. Mehr befanden sich weiter hinten im Raum und näherten sich gemessenen Schrittes.


    So schnell wie er gefallen war, war Margil wieder auf den Beinen und zog eine seiner Klingen aus den Falten seines Mantels. Firondhir kniete am Boden. Instinktiv fuhr seine Hand an den Holster seiner Shurikenpistole, doch er griff ins Leere. Er erinnerte sich, dass er die Waffe irgendwann verloren hatte, und fluchte. Sein Jagdmesser war die einzige Verteidigung, die ihm blieb, und er war kein gute Nahkämpfer.


    Schon waren zwei Krieger zur Stelle. Mit einem Tritt gegen den Kopf beförderter einer der beiden Ydrir bewusstlos zu Boden, während sein Kamerad mit der Klinge an seinem Splittergewehr auf den Weltenwanderer eindrang und ihm das Messer aus der Hand schlug. Firondhir wich weiter zurück, doch direkt hinter ihm war die Bordwand. Und nun kam der zweite dazu und packte ihn am Arm. Das Handgemenge dauerte nur wenige Augenblicke, dann hatten die Kabaliten ihn überwältigt, hielten ihm die Arme auf dem Rücken fest und stießen ihn in die Mitte des Frachtraums.


    Margil war es nicht besser ergangen. Kurz hatte er sich gegen seine beiden Gegner im Nahkampf behaupten können, doch als ein dritter Krieger dazu kam, musste er sich geschlagen geben. Ydrir war inzwischen wieder halb zu sich gekommen und wurde, noch zu benommen, um sich auf den Beinen zu halten, zu den beiden anderen geschleift und neben seinen am Boden knienden Gefährten auf das Deck geworfen. Die Krieger standen im Halbkreis um sie herum und hielten ihre Gefangenen mit den Klingen der Gewehre auf den Schultern am Boden.


    Derweil hatte der zweite Trupp den Ort des Geschehens erreicht, Fleischgeborene, elitäre Krieger in verzierten Rüstungen. Sie blieben unmittelbar vor den Asuryani stehen und traten auseinander. Ein hochgewachsener Drukhari mit aristokratischen Gesichtszügen und zu einem Knoten aufgesteckten, weißblonden Haaren schritt auf die Gefangenen zu. Ein mitternachtsblau schimmernder Mantel umwogte seine elegante, in eine schwarzglänzende Rüstung gekleidete Gestalt. Silbergrauer Pelz bedeckte seine Schultern, von denen hohe gewölbte Dornen aufragten und seine Erscheinung noch größer und bedrohlicher wirken ließen. Firondhir erkannte ihn sofort. Eine Mischung aus Furcht und Hass überkam ihn.


    Quisar blieb einen Augenblick vor den IstuKarun stehen und musterte sie abschätzig.


    „Ich denke, ich schulde euch Dank“, begann er mit ironischem Unterton zu sprechen. „Für gewöhnlich tun Sklaven uns nicht den Gefallen, sich aus freien Stücken an Bord zu begeben. Ihr habt uns Arbeit erspart.“ Er beugte sich zu Firondhir hinunter und drückte sein Gesicht zur Seite, um seine linke Wange zu begutachten. Die Bisswunde war inzwischen verschlossen, hatte aber eine sichtbare Narbe und noch schwache Spuren eines Blutergusses hinterlassen. Der Archon richtete sich wieder auf und schüttelte den Kopf: „Ich würde mich schämen, so herumzulaufen.“


    Keiner der Weltenläufer erwiderte ein Wort.


    „Aber erwartet kein Lob für diese Leistung“, fuhr Quisar fort. „Immerhin haben wir euch den Weg freigemacht.“


    Eine Frau hatte den Frachtraum betreten und näherte sich gemessenen Schrittes. Sie trug eine Hekatari-Rüstung, den linken Arm bedeckt mit schwarzglänzenden Plattenpanzern, an der rechten Seite bloße, elfenbeinfarbene Haut zeigend. Die langen, purpurroten Haare waren zu einer schlichten Frisur geflochten, das Gesicht bedeckte eine bronzenen, mit blauen Federn verzierte Vogelmaske. Kurz blieb sie stehen und betrachtete die Szene, als würde sie ihren nächsten Schritt abwägen. Dann trat sie neben den Archon. Fassungslos starrte Firondhir sie an. Er wollte es nicht glauben, aber er sah ihre Augen hinter der Maske wie zwei leuchtende Smaragde.


    „Ah, meine hochgeschätzte Seherin gesellt sich zu uns“, begrüßte Quisar sie. „Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann, als ich dich bat, die Asuryani zu mir zu bringen. Dir ist gelungen, wobei all meiner Krieger versagt haben.“ Er nahm ihre Hand und küsste ihren Handrücken.


    In diesem Moment zerbrach in Firondhir etwas, das erst vor kurzem begonnen hatte, wieder heil zu werden. Jedes Gefühl erlosch in ihm, wie eine Flamme, über die eine schwarzes Tuch geworfen wurde. Nicht einmal Hass blieb übrig.


    Ànathuriel neigte ehrerbietig den Kopf vor dem Archon. Sie war dankbar, dass sie die Maske trug. Sie hätte nicht sicher sein können, genug Kontrolle über ihre Mine zu haben, um sich nicht zu verraten. Als Firondhir sie ansah, war es, als würde er sie in ein bodenloses, schwarzes Loch mitreißen. Sie musste tief Atmen holen, um den Schmerz auszuhalten.


    Quisar war die Reaktion des Weltenwanderers nicht entgangen. Lachend schüttelte er den Kopf. „Was hast du denn erwartet, Asuryani? Dass dein tragisches Schicksal deine Herrin dazu bewegt, dir auf dein Weltenschiff zu folgen? So viel Narrheit hat fast schon wieder Anerkennung verdient.“


    Firondhir reagierte nicht. In sich zusammengesunken kauerte er zu Füßen der beiden Drukhari, für nichts mehr zugänglich. Ydrir war indes wieder ganz zu sich gekommen. Seine großen, glasigen Augen ruhten auf Ànathuriel, als würde er in sie hineinsehen.


    „Diese IstuKarun haben es sich offensichtlich zu leicht vorgestellt“, sagte sie. Dabei sah sie Margil direkt ins Gesicht. Für den Bruchteil einer Sekunde schien sein finsterer Blick sich aufzuhellen. Verstohlen sah er zu Ydrir hinüber. Der hatte seinen Kopf gesenkt, aber er nickte kaum merklich. Dann richtete auch Margil die Augen zu Boden.


    „Bedauerlich, dass sie für unser Vorhaben nutzlos sind“, fügte sie hinzu. „Beizeiten werden wir versuchen müssen, eines wirklichen Sehers habhaft zu werden.“


    „Für gute Unterhaltung werden sie genügen.“ Quisar winkte mit der Hand. „Schafft sie vom Schiff.“ Die Kabalenkrieger zogen die drei Weltenläufer auf die Füße und stießen sie vor sich her in Richtung der Luke.


    ***


    Das offene Vorderdeck der Jacht war für die Jagdgesellschaft hergerichtet. Das Sonnensegel war ausgefahren, Polster lagen auf den Liegen und Sitzbänken und auf kleinen Tischen, überall verteilt, standen Kelche, Karaffen und mit Delikatessen überladene Schale und Platten bereit. Ànathuriel stand an der Reling. Das Schiff schwebte nur einige Dutzend Meter über dem Boden. Unter ihr breiteten sich in einem engen Bogen drei flache Krater aus. Zwei lagen nah beieinander, der dritte, kleinste etwas abseits. Die Senken waren mit einem Mosaik aus Gehölzen, Grasflächen und sumpfigen Verlandungszonen überzogen. Im der mittleren breitete sich ein dunkler See fast bis zu den Kraterwänden aus. Ein warmer Wind strich über die Ränder.


    Ànathuriel betrachtete die sich in der Briese wiegenden Palmen, Koniferen und urtümlichen Laubbäume. Dies war nun also die Arena für den letzten Akt. Sie versuchte, sich an ihren letzten Besuch zu erinnern. Es gab hier ein altes Tor ins Netz der Tausend Tore, errichtet von den Exoditen, die die Welt vor langer Zeit kolonisiert hatten. Die Kabalen nutzten es nicht, sie zogen Portalfoki vor, die jederzeit und überall eine Öffnung in das Netz reißen konnten. Vielleicht hatten ihre Freunde das Tor sogar schon gefunden. Wenn sie mit den Felchu unten war, würde sie die Tiere laufen lassen und zusammen mit Firondhir, Margil und Ydrir verschwinden.


    Schritte erklangen hinter ihr. Sie dreht sich um. Quisar stellte sich neben sie an das Geländer.


    „Eine reizvolles Jagdrevier“, sagte er. „In gewisser Weise eine wilde Variante unseres Gartens zuhause. Abwechslungsreich, eine Mischung aus Deckung und offenen Flächen und gut zu überblicken. Du hattest einen großartigen Einfall, Ànathuriel. Die einfachen Tierhetzen daheim verlieren mit der Zeit doch ihren Reiz. Diese IstuKarun können hier unter Beweis stellen, ob sie sich ihren Namen verdient zu eigen gemacht haben. Und uns wird kein Detail entgehen.“


    Er lehnte sich über die Reling und sah Richtung Mittschiffs. Einige Schattenbaken hatten am Rumpf festgemacht und hielten sich bereit, das Publikum bei Bedarf näher ans Geschehen zu bringen.


    Mit einem Unterton von Beipflichtung in ihre Stimme antwortete Ànathuriel: „Gemeine Sklaven wissen, dass sie keine Chance haben, wenn sie den Tieren gegenüberstehen. Selbst die, die kämpfen, wissen es. Ich denke, diese Asuryani sind anders. Sie haben einen Überlebenswillen, der unserem nicht unähnlich ist.“


    „So erscheint es mir auch. Das wird am Ergebnis nichts ändern, aber den Weg dahin sicherlich unterhaltsamer und anregender machen.“


    „Die Felchu sind bereit und begierig, auf die Jagd zu gehen. In der Wildnis können sie ihre Fähigkeiten voll entfalten. Es wird mir ein großes Vergnügen, die Tiere dabei zu führen.“


    „Das glaube ich dir gerne. Aber jetzt ist noch nicht die Zeit. Ich habe schon vor Monaten einige interessante Kreaturen in diesen Kratern ausgesetzt. Manche davon dürften sogar für dich neu sein. Und jetzt möchte ich sehen, was sie leisten.“


    Hätte Ànathuriel nicht immer noch ihre Maske getragen, ihr erschrockenes Gesicht hätte sie verraten. Damit hatte sie nicht gerechnet, das hatte ihr die Voraussicht nicht gezeigt. Oder hatte sie es nur nicht erkannt? Bis eben glaubte sie noch, die Lage unter Kontrolle zu haben. Nun drohte sie, ihr zu entgleiten.


    „Aber sei unbesorgt“, fuhr Quisar fort, „meine Hunde werden zu ihrem Recht kommen. Nach der Jagd wird der Jäger die nächste Beute. Das ist Kurnous‘ Weg.“


    Er ging zu einem der Tische und goss sich einen Kelch mit einem tiefroten Getränk ein. Ànathuriel schien es sicherer, nicht mit dem Rücken zu ihm zu stehen, erst recht an der Reling. Sie drehte sich zu ihm um, rührte sich aber nicht von der Stelle. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie musste einen Weg finden, Quisar dazu zu bringen, sie vom Schiff zu lassen, und zwar so schnell wie möglich.


    „Ich möchte dir noch eine uralte Geschichte erzählen“, begann Quisar wieder zu reden, während er mit dem Glas in der Hand zu seiner Bestienmeisterin zurückkehrte. „Die Geschichte einer Frau. Sie diente ihrem König als Priesterin. Eines Tages kamen zwei Fremde in das Land. Und wie es dort Brauch war, befahl der König ihr, die Fremden ihrer Göttin opfern. Doch sie hinterging ihn und versuchte, gemeinsam mit den Fremden zu entfliehen und ihm auch noch ein wertvolles Artefakt zu stehlen.“


    Ànathuriel holte tief Luft, ehe sie etwas erwiderte. Sie versuchte, beiläufig interessiert zu klingen. „Wie endet die Geschichte?“


    Quisar warf den Becher zu Boden. Das Glas zersprang in tausende Splitter, die Flüssigkeit verspritzen zu ihren Füßen. Er griff ihr ins Gesicht und riss die Vogelmaske herunter.


    „Nicht so, wie du und deine Asuryani-Freunde es sich erhoffen, das versichere ich dir.“ Seine Mine verhärtete sich zu einer elfenbeinernen Maske des Zorns. Er schnippte mit dem Finger. Sirqa kam mit fließenden Schritten auf sie zu. Sie lächelte vor gehässiger Genugtuung, letztendlich rechtbehalten zu haben. Zwei Kabalenkrieger folgten ihr und schleiften eine zerschlagene, elend aussehende Gestalt mit sich. Bestürzt erkannte Ànathuriel einen ihrer Hausdienersklaven. Erst jetzt nahm sie bewusst wahr, dass er ein junger Aeldari war, den Kopf kahlgeschoren, die Augen dunkelgrün. Er sah sie panisch und verzweifelt an. „Herrin, vergebt mir“, flehte er.


    Die Sklaven. Ànathuriel hatte sie völlig vergessen. Sirqa kicherte, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. Es klang wie das Zischen einer Schlange.


    „Du maßt dir an, mich hintergehen zu können, bist noch dazu mit Vorhersicht begabt und machst dann solch einen Fehler? Deine Sklaven zu Mitwissern zu machen? Sklaven geben alles Preis, wenn man die richtigen Mittel anwendet.“


    Quisar brach in schrilles Gelächter aus. Seine Stimme war kalt wie Eis. Dann zog er das Messer an seinem Gürtel aus der goldverzierten Scheide und reichte es Ànathuriel. Die Kabalenkrieger hielten den Sklaven an den Armen fest und zwangen ihn auf die Knie, den Oberkörper grade aufgerichtet. Sie verstand, was Quisar von ihr erwartete. Aber sie rührte sich nicht. Diesmal nicht.


    Der Archon schnaubte verächtlich. Er trat an den Slaven heran. Der Unglückliche versuchte, sich loszumachen, doch die Krieger hielten ihn mit eisernem Griff an Ort und Stelle. Quisar sah ihm ins Gesicht. Reine Todesangst leuchtete aus den grünen Augen, doch selbst das konnte den Drukhari-Prinzen jetzt nicht erfreuen. Er setzte die lange, gebogene Klinge an und stieß sie mehrmals mit Bedacht zwischen die Rippen des Aeldari. Die Wachen ließen los. Der Sklave gab ein entsetzliches Röcheln von sich, während er langsam zusammensackte und zu Füßen des Archons liegen blieb. Dunkles Blut sickerte aus seinen Wunden und vermischte sich auf dem schwarzen Marmordeck mit dem verschütteten Getränk. Ànathuriel sah dem sterbenden Körper einen silbern schimmernden Dunst entsteigen, den Quisar mit einem tiefen Atemzug aufsog. Der Anblick ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Der Archon steckte das Messer weg und wandte sich zu ihr um.


    „Das ist es, was du hättest tun müssen, noch bevor du hierherkamst.“ Seine violetten Augen glühten beinahe, als er sich mit langsamen Schritten nähert. „Ich weiß nicht, was mich mehr an dir abstößt: deine Anmaßung, deine Unfähigkeit oder deine Schwäche.“ Keine Armlänge entfernt blieb er vor ihr stehen. „Sirqa hat mich gewarnt. Aber ich war nicht bereit zu glauben, dass du all das, was wir zusammen erreichen könnten, ausschlagen würdest. Allmählich frage ich mich, ob du überhaupt eine Drukhari bist.“


    Ànathuriel hätte nicht in Worte fassen könne, wie angewidert sie war. Kein Verstellen mehr, das Spiel war vorbei. Entschlossen sah sie Quisar ins Gesicht.


    „Nein!“ sagte sie mit Bestimmtheit. „Nein, ich bin keine Drukhari. Nicht mehr! Ihr haltet euch für allen überlegen und seid doch in Wirklichkeit nur Sklaven eurer eigenen Furcht. Belügt euch weiter selbst und erfreut euch daran! Für mich hat das hier und jetzt ein Ende. Nie mehr! Und jetzt tu was dir beliebt, wie du es ja immer tust.“


    Quisars rechte Hand fuhr reflexartig an seinen Gürtel und umklammerte den Griff des Messers. Ihre Worte hatten ihm die Sprache verschlagen. Die Wut schnürte ihm die Luft ab, so dass er nur stoßweise Atem holen konnte. Er starrte Ànathuriel aus zusammengekniffenen Augen an. Ungerührt erwiderte sie seinen Blick, ohne Furcht oder Bedauern. Für einen Moment zweifelt er, ob er ihr überhaupt noch etwas anhaben konnte. Er atmete tief durch, entspannte sich und zügelte seinen Zorn.


    „Wenn das so ist, Asuryani“, zischte er, „dann gestatte ich dir, das Los deiner neuen Freunde zu teilen – wenn sie dich denn noch als Freund ansehen, nachdem du sie verraten hast.“


    Inzwischen war Sirqa an die Seite ihres Bruders getreten und hatte ihre Arme um seine Schultern gelegt. „Wessen Kunst war nun die überlegen, Bestienmeisterin?“ zischelte sie selbstzufrieden.


    Auf eine Handbewegung des Archons hin ergriffen die Kabalenkrieger Ànathuriel und führten sie in Richtung der Luke zum Mittschiff.


    „Nur für den Fall, dass du dich nicht mehr erinnern solltest“, rief die Lhamea süffisant lächelnd hinterher. Die Krieger blieben stehen und drehte ihre Gefangene den Geschwistern zu. „Das Netzportal, wegen dessen ihr hier seid, ist dort drüben.“ Dabei wies sie auf einen verfallenen Steinkreis auf einem Hügel über dem jenseitigen Hang des mittleren Kraters. Sie lachte gehässig. „Viel Glück.“

  • Kapitel 13

    Losseainn

    Ànathuriel lag auf dem Rücken im hohen Gras und schaute in den blauen Himmel. Weiße Wolkenflecken trieben langsam dahin. Sonnenlicht fiel wärmend auf ihr Gesicht, während sie unter sich die Kühle der Erde spürte. Der Duft des Grases hüllte sie ein.


    Sie war so liegen geblieben, wie ihre Bewacher sie von der Schattenbarke gestoßen hatten. Inzwischen waren sie fort, zurückgekehrt zum Schiff, das schaurige Heulen der Triebwerke war längst verklungen. Geblieben war das Rauschen des Windes in den Wipfeln des nahen Gehölzes und die Laute der Tiere, die dort lebten, ein Chor aus Pfeifen, Summen, Gurren und Zirpen. Ànathuriel hörte ihnen zu und fühlte die Anspannung aus sich herausfließen, als würde die Erde sie aufnehmen wie überlaufendes Wasser. Sie hatte ihren letzten Zug gemacht und dabei auf nichts setzen können als wahnwitziges Glück. Und Quisars Sinn für Dramatik. Sie hatte Erfolg gehabt, sie war hier. Die Erleichterung darüber wurde nur von einer weiteren übertroffen: Letztendlich hatte sie sich von allem losgesagt, was ihr Dasein aus Drukhari ausgemacht hatte.


    Was nun vor ihr lag, war ungleich schwieriger, als sie ursprünglich geplant hatte. Sie stütze die Arme auf den Boden und hob sich in eine sitzende Position. Vor ihren Augen breitete sich der Kraterkessel mit seinem schilfbestandenen Weiher aus, der in der Sonne schimmerte wie flüssiges Silber. Der warme Wind strich ihr über das Gesicht. Erst ohne ihre Maske konnte sie die sanfte Berührung spüren. Dieser Ort war schön und friedvoll. Nie hatte sie dem bisher Beachtung geschenkt. Noch ein Versäumnis der Vergangenheit.


    Aber das war nur die eine Seite. Keinen Moment durfte sie die unbekannten Bestien vergessen, die irgendwo durch das Gras und die Gehölze streifen mussten. Das Tal war nicht groß genug, um jagenden Raubtieren lange aus dem Weg zu gehen. Im Zweifelsfalle würde Quisar nachhelfen. Ànathuriel drehte den Kopf leicht nach rechts. Über dem Rand des Kraters schwebte die Jacht wie ein lauernder Raubvogel. Das erste, was sie tun musste, war, so schnell wie möglich ihre Gefährten zu finden. Die Felchu wären dabei eine große Hilfe gewesen. Aber sie hatte einen anderen Einfall.


    Sie erhob sich, sah sich kurz um und lauschte. Außer dem Wind und den Insekten war nichts zu hören. Zumindest nichts, was von einem größeren Tier verursacht sein könnte. Zügigen, aber nicht rennend, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, schritt sie auf eine nahe Gruppe von Bäumen zu. Einstweilen brauchte sie einen einigermaßen sicheren Ort, denn bei dem, was sie versuchen wollte, konnte sie sich nicht zugleich auf ihre Umgebung konzentrieren.


    Rasch wurde sie fündig: Ein hoher, ausladender Baum mit mächtigem Stamm, aus dem schon eine Körperlänge über dem Boden kräftige, fast waagerechte Äste entsprossen. Mit einem Sprung konnte sie einen der unteren erreichen. Die tief gefurchte Rinde erleichterte den Aufstieg. Als sie sich hoch genug glaubte, um vom Waldboden aus nicht sofort zu bemerken zu sein, ließ sie sich auf einem Ast nieder und lehnte sich an den immer noch dicken Stamm. Die fächerförmigen, fein gerippten Blätter raschelten leise. Grüngoldene Sonnenflecken tanzten in der Baumkrone.


    Ànathuriel atmete ruhig ein und aus und schloss die Augen. Vor ihrem inneren Auge erschien das Bild der drei Krater, wie sie sie vom Oberdeckt des Schiffs aus gesehen hatte. Im nächsten Moment zog es sich zusammen auf den Ort, an dem sich gerade befand. So weit, so gut. Sie hielt inne. Der Seelenstein auf ihrer Brust, wo sie ihn im Oberteil ihrer Rüstung versteckt hatte, verströmte eine gleichmäßige, angenehme Wärme. Es funktionierte. Wie genau, das wusste sie nicht, noch nicht. Aber wie beim letzten Mal half der Stein ihr, ruhig und fokussiert zu bleiben und sich von ihren Kräften nicht überwältigen zu lassen. Sie sandte ihren Geist aus.


    Erneut zog sich die Landschaft um sie herum zusammen, bis ein anderer Ort vor ihrem inneren Auge erschien. Sofort hatte sie eine Vorstellung von Richtung und Entfernung. Sie tastete nach einem vertrauten Geist. Doch eine dunkle Barriere stieß sie gewaltsam zurück. Es fühlte sich an, als hätte jemand ihr einen Schlag in den Unterleib versetzt, der ihr den Atem raubte und Tränen in die Augen trieb. Firondhir. Sein Geist war eingehüllt in einen Mantel aus Zorn und Bitterkeit und weigerte sich, sich ihr zu öffnen. Was hatte sie ihm nur angetan?


    Während sie noch darum rang, ihre Konzentration zu halten, erklang eine vertraute Stimme in ihrem Verstand. „Ànathuriel. Ich sehe dich.“


    „Ydrir!“ Er war ganz in der Nähe. „Ydrir, ich komme zu dir.“ Eben wollte sie sich in die physische Welt zurückbegeben, als sie eines Schattens gewahr wurde. Er bewegte sich schnell, aber unstet, als würde er etwas suchen. Sie versuchte, mit ihm Kontakt auszunehmen, stieß aber nur auf rohen Unverstand. Es musste ein Tier sein, irgendeine wilde Kreatur. Sie war auf der Jagd. „Ydrir. Sei auf der Hut.“


    Eine Reihe harter Schläge erschütterten den Baum. Holz und Rinde sprengten nach allen Seiten weg. Die Wucht der Einschläge riss Ànathuriel aus ihrer Trance und schleuderte sie von dem Ast. Einige tieferliegende Zweige bremsten den Sturz, doch gelang es ihr nicht, sich noch einmal festzuhalten. Rücklings schlug sie auf dem Waldboden auf. Dicke Polster aus Moos und totem Laub federten den Aufprall ab, dennoch blieb sie einen kurzen Moment halb benommen liegen.


    Wie durch einen Nebel sah sie eine riesenhafte Gestalt auf sich zukommen. Es war ein gigantischer Krieger in einer massiven, blaugrauen Rüstung. Die mächtigen, gewölbten Schulterpanzer zeigten auf der Seite seiner Schwerthand zwei gelbe Linien auf Rot, die zu einer Pfeilspitze zusammenliefen, auf der anderen Seite einen schwarzen Wolfskopf auf gelbem Grund. Auf seiner Brust prangten goldene Adlerschwingen, in deren Mitte ein Schädel saß. Die roten Augen seines Helmes glühten feindselig.


    Ein einziger Gedanke beherrschte Ànathuriels Verstand: Steh auf! Mit aller Kraft befolgte sie den Befehl und kam auf die Beine, Sekunden bevor der Riese über ihr war. Die kreischenden Zähne seines Kettenschwerts gruben sich in den Waldboden, wo sie eben noch gelegen hatte. Moos und Erde spritzten in alle Richtungen.


    Der Space Marine richtete seine klobige Boltpistole auf die fliehende Aeldari. Taumelnd hechtete sie hinter den Baumstamm. Die Geschosse explodierten im weichen Holz.


    „Spar dir deine Munition. Du wirst sie für andere Gegner brauchen“, rief Ànathuriel. Sie hatte wenig Hoffnung, dass der Chem-Pan-Sey ihre Worte verstand, geschweige denn sich davon beeinflussen ließ. Stampfende Schritte zeigten an, dass er ihr hinterherkam. Instinktiv tastete sie nach ihrem Messer. Erleichtert stellte sie fest, dass Quisar ihr ihre Hekatari-Klinge gelassen hatte. Gleichwohl, gegen den gerüsteten Krieger würde sie damit nicht viel ausrichten können. Sie war eine Bestienmeisterin, die Fähigkeiten der Arenakämpferinnen fehlten ihr. Der einzige Ausweg war der nach oben.


    ***


    Ànathuriel kletterte hinauf in die Krone des Baumes. In einer Höhe, in der sie den Ästen noch zutraute, sie zu tragen, hielt sie inne. ‚Der Losseainn‘, ging es ihr durch den Kopf. Ein kluger Schachzug. Ein gewöhnliches Tier hätte sie leicht ihrem Willen unterwerfen können. Und sie hatten ihm seine Rüstung und Waffen zurückgegeben. Quisar wollte sichergehen. So konnte sie nicht wiederholen, was sie im Garten mit ihm gemacht hatte. Allerdings schien dieser Chem-Pan-Sey halb intelligent zu sein, vielleicht sogar der Vernunft zugänglich. Eine geringe Chance, aber sie musste sie nutzen.


    Der Baum erzitterte. Ànathuriel sah hinunter. Der Anblick ließ sie schaudern. Der Riese versuchte tatsächlich, ihr zu folgen. Mit übermenschlicher Kraft, aber weniger schnell und gewandt als sie selbst, zog er sich von einem Ast zum nächsten hinauf. Das Holz ächzte unter seinem Gewicht. Was seiner massigen Gestalt im Weg war, bog er einfach zur Seite oder brach es heraus. Wieder schoss er und sprengte einen armdicken Ast weg, der krachend das Gezweig durchbrach und in einem Regen aus Blättern am Boden aufschlug.


    „Sei kein Narr“, rief Ànathuriel zu ihm herunter. „Du bist zu schwer, die Äste tragen dich nicht.“


    „Schweig, Xenos-Hexe!“ bellte der Space Marine. Seine Stimme klang seltsam hohl durch das Metallgitter seines Helmes. Unbeirrt kletterte er weiter. „Ich erschlage meine Feinde, wo immer ich sie finde.“


    Xenos-Hexe. Nun wusste sie, was der Chem-Pan-Sey gemeinte hatte. Vor allen anderen hatte er erkannt, was sie war. Ob der wilde Krieger sie auch verstanden hatte, war Ànathuriel sich immer noch nicht sicher, aber auf irgendeine Weise verstand sie ihn.


    „Deine Feinde sind die gleichen wie meine. Und sie sind da draußen.“ Sie deutete in Richtung des Drukhari-Schiffes. „Was hat er dir versprochen? Dass er dich gehen lässt, wenn du uns tötest? Glaubst du ihm das?“


    Der Space Marine knurrte: „Das spielt keine Rolle. Ich habe den Eid des Einsamen Wolfes abgelegt.“


    Er verstand sie also doch. „Ich weiß nicht, was das heißt“, entgegnete Ànathuriel, „aber wenn du von hier fortkommen willst, brauchst du nichts weiter zu tun, als uns zu folgen.“


    Die Antwort folgte augenblicklich und unmissverständlich. Der Space Wolf hieb sein Kettenschwert in den Seitenast, auf dessen Verzweigungen die Aeldari einige Meter über ihm saß. Die Zähne fraßen sich mit einem reißenden Geräusch durch das Holz.


    Der Ast begann bedrohlich unter Ànathuriels Füßen zu schwanken. Der Geruch von erhitzten Holzspänen breitete sich aus. Sie taxierte kurz einen benachbarten Ast und setzte dann mit einem eleganten Sprung hinüber. Der Losseainn stutze kurz, dann wechselte auch er die Seite des Baumes und stieg ihr nach. So dumm, den Ast zu benutzen, den er selbst angesägt hatte, war er dann doch nicht.


    Ànathuriel hatte nicht damit gerechnet, wie weit der Baum den Hünen tragen konnte. Sie sah hinauf in die Krone. Die Äste über ihr waren nicht viel dicker als ihre Arme. Dann sah sie sich um. Sie hatte bereits eine Höhe erreicht, die mit den Spitzen der umgebenden Bäume gleichauf war. Wenn sie nicht in der Falle sitzen wollte, musste sie jetzt ein Wagnis eingehen. Sie kletterte noch höher. Die Äste federten unter ihren Tritten. Ein Blick nach unten verriet ihr, dass der Losseainn immer noch nicht aufgegeben hatte. Ein Fuß vor den anderen setzend, balancierte sie den Ast entlang, hielt sich an heranragenden Zweigen fest, wo immer sie sie greifen konnte, und entfernte sich immer weiter vom Stamm.


    Inzwischen war der Space Marine weniger als eine Körperlänge an sein Ziel herangekommen. Der Ast, auf dem er stand, knarrte und bog sich unter seinem Gewicht. Aber die Aeldari war knapp in seiner Reichweite. Wieder holte er mit dem Schwert aus.


    Ànathuriel hatte das Ende des Astes erreicht. Hier teilte er sich nur noch in dünne Zweige auf. Sie holte tief Luft. Ohne sich noch einmal nach ihrem Verfolger umzusehen, stieß sie sich zu einem waghalsigen Sprung ab. Elegant tauchte sie in die Krone des benachbarten Baumes ein, fiel einige Meter tief und streifte die oberen Äste, bis sie einen davon zu fassen bekam und sich hinaufzog.


    Im selben Moment hörte sie aus dem Baumriesen nebenan das Geräusch berstenden Holzes, gefolgt vom Rauschen und Knacken brechender Zweige und abgerissener Blätter. Ein wildes Brüllen folgte. Offenbar hatte der Ast nachgegeben und den Losseainn in die Tiefe stürzen lassen. Gerade als sie ihren Blick nach unten richtete, fiel der Krieger aus der Krone wie eine überreife Frucht und schlug mit einem dumpfen Knall auf dem Boden auf. Ein Hagel aus Holzstücken folgte und ging auf ihm nieder. Reglos blieb der Space Marine auf dem Bauch liegen. Erst nach einigen Sekunden bewegte er wieder Arme und Beine.


    Zum Teil war Ànathuriel erleichtert, dass der Losseainn den Sturz offenbar überstanden hatte. Nur half ihr das nicht weiter, im Gegenteil. Sie konnten dieses Spiel weiterspielen, bis ihnen die Bäume ausgingen, und sie hatte dringenderes zu tun. Im Augenblick war ihr Gegner noch benommen, aber das konnte sich rasch ändern. Ihr erster Instinkt war, seine Hilflosigkeit und eine schwache Stelle seiner Rüstung zu nutzen und ihn endgültig zu erledigen. Aber das war ihr altes Ich. Andererseits, selbst wenn sie sich jetzt zurückzog, der Chem-Pan-Sey war immer noch hier. Und er verhielt sich nicht anders als jedes andere Raubtier, dass eine Witterung aufgenommen hatte. Sie konnte vielleicht mit ihm reden, aber der Vernunft zugänglich war er nicht.


    Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Rasch glitt sie vom Baum hinunterunter und eilte zu dem gefallenen Riesen hinüber. Das überdimensionierte Rückenmodul seiner Rüstung schien ihn noch tiefer in den Boden zu drücken. Sein behelmter Kopf verschwand beinahe darunter. Im Vergleich zum gewaltigen Körper wirkte er fast winzig. Ànathuriel hatte gehofft, eine Schwachstelle am Hals zu finden, aber die mächtigen Schulterpanzer und eine hohe Halsberge verdeckten den Bereich. Daran, den Losseainn umzudrehen, war nicht zu denken.


    Ihr Blick fiel auf die Kniekehlen. Sie waren ungepanzert und nur mit einem scheinbar weichen, gerippten Material bedeckt. Sehr gut. Vermutlich hatte der Chem-Pan-Sey dort Sehnen, wie jeder andere Zweibeiner auch. Sie zu durchtrennen, würde ihn vielleicht nicht töten, aber mit Sicherheit bewegungsunfähig machen. Und Quisar konnte sein Spielzeug dann irgendwann einsammeln, wenn er Lust hatte. Sie trat heran und zog das Messer.


    Ohne ein vorheriges Anzeichen schnellte der Losseainn hoch und warf sich herum. Selbst auf einem Knie überragte er Ànathuriel. Seine mächtige Hand stieß vor und versuchte, sie zu packen. Gleichzeitig tastete er mit der anderen nach seinem Kettenschwert, das bei seinem Sturz aus der Baumkrone einige Schritte neben ihm zu Boden gefallen war.


    Mit den überschnellen Reflexen ihrer Spezies sprang die Aeldari zurück. Doch der Space Marine hatte sie überrascht. Er bekam das Ende ihres langen Zopfes zu fassen und riss sie zu Boden. Sie schrie auf vor Schmerzen. Der Losseainn erhob sich, machte einen gewaltigen Schritt zu seinem Schwert und schleifte sie dabei mit. Ànathuriel glaubte, ihr würden die Haare samt Haut vom Kopf gerissen. Sie kämpfte darum, auf die Füße oder zumindest auf alle Viere zu kommen – vergeblich. Ihr blieben nur Sekunden, bis der Chem-Pan-Sey seine Waffe wieder in Händen halten würde, und wenn sie dann noch in seiner Reichweite, war, würde er sie in Stücke hauen.


    In letzter Verzweiflung setzte sie die Klinge an ihrem Hinterkopf an und zog sie schräg nach oben. Der plötzliche Ruck warf sie der Länge nach auf den Boden. Doch sofort war sie wieder auf den Füßen, griff ihr Messer und rannte los. Der Space Marine blieb einen Moment verdutzt stehen, den abgeschnittenen Zopf in der Hand. Dann schleuderte er brüllend die purpurroten Flechten zu Boden, bückte sich nach seinem Kettenschwert und setzte der Aeldari nach.


    ***


    Ànathuriel schlüpfte durch das Gebüsch, das den Rand des Gehölzes umgab, und lief hinaus auf den breiten, grasbewachsenen Uferstreifen des Kratersees – und stand unvermittelt vier gewaltigen Kreaturen gegenüber. Sie waren vierbeinig und groß wie Stiere, mit langgestreckten Körpern und dünnen Schwänzen, das kurze Fell rostrot mit weißen Streifen und Flecken. Die kurzen, stämmigen Beine endeten in Pfoten, deren jeweils vier Zehen keine Krallen, sondern Hufen trugen. Die Schädel der Tiere waren unverhältnismäßig groß im Vergleich zum Körper, die Schnauzen langgezogen und die kurzen, dolchartigen Eckzähne ragten aus den Unterkiefern hervor. Das vorderste Tier riss sein langes Maul zu einem kehligen Brüllen auf. Die Kiefer klafften fast im rechten Winkel auseinander und waren mit einem kräftigen Raubtiergebiss besetzt.


    Hinter Ànathuriel krachte das Geäst. Sie wandte sich um. Der Space Marine brach durch die Sträucher. Seinen Helm hatte er abgenommen. Sie erkannte sein Gesicht wieder, jung und wild, die strohblonden Haare lang und zottig. Um sein kantiges Kinn zeigten sich die Anfänge eines Bartes. Brüllend antwortete er auf die Herausforderung des Tieres und stürmte dem Rudel entgegen. Von der Aeldari nahm einer keine Notiz mehr.


    Drei der Kreaturen gingen auf dem Space Marinelos, ihre Hufe rissen Grasbüschel aus dem Boden. Den ersten Angreifer fällte der Krieger mit einem Hieb seines Kettenschwertes in den langen Schädel. Die beiden anderen rannten den Krieger einfach um und trampelten über ihn hinweg. Doch sofort war er wieder auf den Beinen. Das vierte Tier indes schien sich aus dem Kampf herauszuhalten. Es trabte lauernd, aber in sicherem Abstand um das Geschehen herum und stieß immer wieder kurze, jaulende Laute aus.


    Ànathuriel blieb abseits und verhielt sich ruhig. Sie verfolgte aufmerksam den Verlauf des Kampfs. Sie war in ihrem Element. Solche Tiere hatte sie noch nie zuvor gesehen, aber sie verstand ihre Anatomie und erkannte ihre Verhaltensmuster. Sie jagten als Gruppe, aber nicht als Rudel, ihre Angriffe waren nicht koordiniert wie bei den Felchu. Mit ihren stämmigen Körpern und breiten Hufen verließen sie sich auf Kraft, aber nicht auf Wendigkeit. Die Kiefer mussten in der Lage sein, jeden Knochen durchzubeißen.


    Das einzelne Tier war unwesentlich größer als die anderen, aber es griff selbst nicht an. Viel mehr schien es abzuschätzen, ob es notwendig war, sich einzumischen. Es musste sich dagegen entschieden haben, denn nun wandte es sich der Aeldari zu. Es versuchte ebenfalls, sie niederzurennen, doch Ànathuriel sprang gewandt zur Seite. Sie warf einen kurzen Blick zu dem Losseainn hinüber. Der schien mit seinen eigenen Gegnern vollauf beschäftigt zu sein und auch zurecht zu kommen. Das Kettenschwert hatte er fallen lassen und wälzte sich mit den beiden Biestern in einem wilden Ringkampf über das Gras, als wäre er einer der ihren. War das bei den Kriegern der Chem-Pan-Sey so üblich?


    Erneut stürmte das Tier auf Ànathuriel los und wieder wich sie ihm aus. Sie stellte fest, dass es jedes Mal einige Augenblicke benötigte, um anzuhalten und sich auf der Stelle zu drehen. Es scharrte mit den Hufen und zögerte einen Moment, als dächte es darüber nach, ob seine Angriffstechnik es weiterbrächte. Die Bestienmeisterin nahm ihm die Entscheidung ab und spurtete ihm entgegen.


    Das Biest setzte sich seinerseits in Bewegung. Kurz vor dem Zusammenprall wandte Ànathuriel sich zur Seite und lief auf den Schilfgürtel des nahen Tümpels zu. Das Tier konnte dem schnellen Richtungswechsel nicht folgen. Es musste anbremsen und sich umdrehen, nur um dann feststellen, dass seine Beute die Flucht ergriffen hatte. Es stieß ein wütendes Grollen aus und folgte ihr.


    Durch ihr Manöver hatte Ànathuriel einigen Abstand gewonnen, doch nun spürte sie das Beben des Bodens unter den Hufen des näherkommenden Biests. Es war schneller, als seine massige Gestalt vermuten ließ. Ànathuriel tauchte in das Schilfdickicht ein. Die Rohre überragten sie fast völlig, aber das war es nicht, worauf sie aus war. Sie lief weiter, bis sie knietief im Wasser stand. Dann blieb sie stehen und drehte sich um.


    Mit voller Wucht brach das Tier in den Bestand ein und walzte die Pflanzen nieder, das grünbraune Wasser spritzen nach allen Seiten. Vorsichthalber wich Ànathuriel noch einige Schritte zurück, bis ihr das Wasser bis zur Hüfte reichte. Weiter wollte sie nicht gehen, es würde ihre Beweglichkeit zu sehr einschränken.


    Das Tier versuchte ihr zu folgen, doch schon wenige Augenblicke später sank es bis an die Schulter ein. Der morastige Boden konnte sein Gewicht nicht tragen. Panisch warf es den schweren Kopf in den Nacken, um die Nüstern über Wasser zu halten. Ànathuriel stand einige Schritte entfernt und beobachtete die Kreatur. Das Tier jaulte und wühlte Wasser, Schlamm und Pflanzen auf, während es immer noch versuchte, die Aeldari zu erreichen, kam aber kaum mehr voran.


    Ànathuriel zog ihr Messer und hieb ein langes, daumendickes Schilfrohr ab. Mit der Rute in der Hand näherte sie langsam, aber bestimmt, dem Tier, sorgsam darauf achtend, mit ihrer gesamten Körperhaltung Selbstsicherheit zu vermitteln. Sie hatte das Raubtier in eine unterlegene Situation gebracht. Jetzt musste sie ihm ihre Dominanz klar machen. In sicherem Abstand blieb sie vor ihm stehen und sah ihm fest in die Augen. Das Tier versuchte, ihrem Blick auszuweichen, konnte den Kopf aber kaum abwenden, wollte es ihn nicht ins Wasser eintauchen. Testend streckte Ànathuriel ihm den Stab entgegen. Sofort schnappe das Geschöpf zu und verbiss sich in das Rohr, bis es zwischen seinen Zähnen splitterte.


    Ànathuriel zog den Stab zurück, brach das aufgefaserte Ende ab und schnitt die Spitze wieder zurecht. Sie schritt langsam um das Tier herum, ging dabei wieder etwas auf Abstand. Es versuchte ihr zu folgen, ihr nicht den Rücken zuzudrehen. Es watete und schob sich durch den Schlamm und die Pflanzenstiele, war aber kaum in der Lage, die Füße zu heben. Immer wieder blieb Ànathuriel stehen und wartete, bis das Tier sich ihr zugewandt und genähert hatte, ehe sie wieder die Richtung wechselte.


    Nach einiger Zeit begann die Kreatur zu schnauben und hatte erkennbar Mühe, den Kopf über Wasser zu halten. Erneut hielt Ànathuriel ihr den Stab hin. Doch diesmal machte das Tier keine Anstalten, zuzubeißen. Nun war es an der Zeit, die Strategie zu ändern. Zielstrebig stapfte die Bestienmeisterin auf das Ufer zu. Nach einigen Schritten wandte sie sich um. Schwerfällig folgte das Tier. Sie ging weiter, wiederholte das Spiel noch zwei, drei Mal, dann hatten sie wieder festen Boden unter den Füßen. Erschöpft sackte das Tier zusammen und blieb schnaufend auf der Seite liegen. Ànathuriel stieß es mit dem Stab an. Es grollte nur schwach und leistete keine Gegenwehr.


    Als sie sich umdrehte, stand der Losseainn vor ihr.


    Das wettergegerbte Gesicht des Chem-Pan-Sey zeigte nur Verwunderung. Die verschrammte, blutverschmierte Rüstung und die Fellfetzen an den Zähnen seines Kettenschwertes zeigten, dass auch er erfolgreich mit seinen Gegnern gewesen war – auf seine Weise.


    „Þú hefur tamið vargur. Hvernig?“ fragte er. Ànathuriel verstand kein Wort, aber sie erkannte die Anerkennung und das Staunen, die in den Worten lag. Offensichtlich war der Losseainn jetzt zumindest nicht mehr darauf aus, sie umzubringen.


    „Dreptu dýr“, sagte er und wies mit dem Schwert auf die Kreatur. Diesmal glaubte Ànathuriel, verstanden zu haben, was er sagte. Nicht die Worte, aber die Bedeutung. „Dreptu dýr[1]“, wiederholte er.


    „Das ist nicht nötig“, entgegnete sie und stellte sich demonstrativ zwischen das Tier und den Krieger, den Stab senkrecht vor sich. „Es ist keine Gefahr mehr und wird für uns auch keine mehr sein.“


    Wie kannst du dir sicher sein, Eldar-Frau?“ Die Worte waren immer noch die seiner eigenen Sprache. Ànathuriel ging auf, dass er wohl seinen Helm tragen musste, damit sie ohne psionische Hilfe miteinander reden konnten. Glücklicherweise war es keine Anstrengung. Sie musste einfach nur bewusst zuhören und sprechen.


    „Tiere bändigen ist das, was ich tue – oder war es.“


    Der Space Marine nickte anerkennend. „Auf Fenris töten Krieger die Wölfe, doch die Helden zähmen sie und sie begleiten sie in die Schlacht.“


    „Fenris, ist das deine Heimat? Willst du dorthin zurückkehren?“


    „Ich will in den Kampf zurückkehren. Ich will die Feinde des Allvaters erschlagen und so die gefallenen Brüder meines Rudels ehren.“


    Innerlich schüttelte sie den Kopf über seine Verbohrtheit. Doch solange er einstweilen sie nicht zu diesen Feinden zählte, ließ sie es gut sein. „Ich kann dir helfen, von hier wegzukommen“, wiederholte sie ihr Angebot.


    „Ich brauche deine Hilfe nicht. Ich kann hier ausharren, bis meine Ordensbrüder mich finden und holen. Und ich rate dir, Xenos, lauf uns dann nicht über den Weg.“ Damit setzte er seinen Helm wieder auf, hakte sein Schwert am Gürtel ein, drehte sich um und stapfte davon. Ànathuriel seufzte. Sie konnten vielleicht miteinander sprechen, aber anscheinend nicht miteinander reden.


    Sie wandte sich wieder dem Tier zu. Vargur hatte der Chem-Pan-Sey es genannt. Wahrscheinlich war das auch nur ein Name für ein anderes, ähnliches Geschöpf, das er von seiner Heimatwelt kannte. Bestimmt stieß die Bestienmeisterin mit dem Stab gegen seine Schulter. Das Tier bemühte sich, wieder auf die Beine zu kommen. Ànathuriel trat näher, ein Schritt nach dem anderen, und hielt Blickkontakt. Der Vargur blieb grollend stehen, machte aber keine Anstalten mehr, sie anzugreifen.


    Platschendes Wasser und das Rascheln und Brechen von Schilfrohren war mit einem Mal aus dem Dickicht hinter ihnen zu hören. Das Tier drehte sich um, legte die kleinen Ohren an und knurrte drohend. Eine große, dunkle Gestalt tauchte zwischen den Halmen auf. Geistesgegenwärtig sprang Ànathuriel hinzu, packte den Vargur an den Lefzen und zog den schweren Kopf nach unten. „AmEathan!“ befahl sie ruhig und bestimmend. Es jaulte protestierend, gehorchte aber. Sie ließ los, hielt aber sicherheitshalber den Rohrstab quer vor seine Schnauze.


    „Ydrir!“ entfuhr es Ànathuriel. Der junge Weltenläufer watete aus dem Röhricht hervor. Sein Mantel und seine Stiefel waren fast bis zu den Knien mit Wasser und Schlamm durchzogen. Die scharfen Blätter des Schilfs hatten einige Striemen auf seinem Gesicht hinterlassen. Den Vargur mit dem Stab auf Abstand haltend, trat sie ihm entgegen und reichte ihm ihren Arm. Ydrir ergriff ihre Hand.


    „Ist mit dir alles in Ordnung?“ fragte sie, nachdem er auf festen, trockenen Boden stand.


    Ydrir schaute misstrauisch auf das gewaltige Tier, das sich inzwischen hingesetzt hatte und die beiden Aeldari mit zur Seite gelegtem Kopf interessiert beobachtete. „Sie waren auf meiner Spur“, antwortet er. „Deswegen habe ich mich im Schilf versteckt. Ich dachte, so große Tiere könnten sich dort nicht gut bewegen. Aber es waren vier.“


    „Quisars Spielzeuge“, antwortete Ànathuriel mit bitterem Unterton. „Die drei anderen hat der Losseainn erschlagen.“


    „Ein Losseainn der Chem-Pan-Sey? Ich habe einen feindseligen, fremdartigen Geist wahrgenommen, aber ich wusste nicht, was es war. Wo ist er?“


    „Er hat es vorgezogen, hier allein umherzustreifen. Ich denke, von ihm haben wir nichts zu befürchten. Ich glaube, er war ziemlich beeindruckt davon, wie ich sie hier gebändigt habe.“ Bei diesen Worten klopfte sie dem Vargur auf die Flanke.


    „Was fängst du jetzt mit dem Tier an?“


    „Ich lassen sie laufen. Sie ist jetzt wahrscheinlich die einzige ihrer Art auf diesem Planeten. Das ist traurig genug.“


    Ydrir lächelte. „Redet so eine Drukhari?“


    „Nein“, erwiderte Ànathuriel ebenfalls lächelnd. Nach einer kurzen Pause fuhr sie mit verhaltener Stimme fort: „Ich glaube, ich bin euch mehr als nur eine Erklärung schuldig.“


    „Nicht mir. Ich wusste vom ersten Moment an, dass wir dir vertrauen können. Daran hat sich nichts geändert. Und Margil hat deinen Hinweis verstanden. Aber Firondhir…“


    Ànathuriel seufzte tief. „Ja, ich weiß.“


    Sie wandte sich dem Vargur zu. „AmUiaddra“, sagte sie ruhig und gab ihm mit dem Stab einen sanften Stoß gegen den Hinterlauf. Das Tier setzte sich in Bewegung. Am Rand des Gehölzes blieb es stehen und untersuchte die Körper seiner toten Artgenossen.


    „Und wie geht es jetzt weiter?“ fragte Ydrir.


    „Wir gehen zum Tor. Firondhir und Margil werden sicher auch dorthin kommen. Und wir müssen Acht geben. Der Losseainn und die Vargur waren wahrscheinlich nicht das Einzige, was Quisar hier ausgesetzt hat.“


    „Das sind sie nicht“, stimmte Ydrir zu und erschauerte.



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    [1] Isl.: Töte das Tier.

  • Kapitel 14

    Margil

    Margil richtete sich vom Boden auf und rieb sich den Hinterkopf. Aus irgendeinem Grund schienen die Wachen es für nötig gehalten zu haben, ihn niederzuschlagen, nachdem sie ihn hier abgesetzt und bevor sie ihm die Handfesseln abgenommen hatten. Als hätte er es allein mit zwei bewaffneten Kabalenkriegern aufnehmen können. Hätte er, mit Glück sogar erfolgreich, zumindest wenn sie nicht mit Gegenwehr gerechnet hätten. Aber anscheinend hatte er bereits einen bestechenden Eindruck bei den Drukhari hinterlassen.


    Er sucht die versteckten Innentaschen seines Mantels ab. Gut, seine Messer waren noch da. Das in seiner Stoffhülle eingeschlagene Jagdgewehr lag neben ihm. Margil hob es auf ein schnallte sich das Bündel wieder auf den Rücken. Was auch immer die Drukhari bewogen haben musste, ihm diese Waffe zu lassen, es war wahrscheinlich, dass man sie im Nahkampf mit welchen Kreaturen auch immer allenfalls als Prügel benutzen konnte.


    Der Weltenwanderer stand inmitten einer fast kreisrunden Grasfläche. Die sattgrünen Halme und blassgrünen Blütenrispen reichten ihm bis zu den Schultern. Der Wind strich hindurch und trieb rauschende Wellen wie auf einem Ozean durch die Wiese. Der gräserne See war umgeben von steilen, mit dichtem Buschwerk bewachsenen Hängen. Margil rief sich die Geografie der Landschaft ins Gedächtnis, wie er sie von oben gesehen hatte, als die Drukhari sie auf einer Schattenbarke vom Schiff hierher heruntergebracht hatten: ein grünes Hügelland aus Wiesen und Wäldern und kleinen Flüssen, überragt von einzeln, niedrigen, kegelförmige Berge. Drei flache, runde Talkessel reihten sich in einem engen Bogen aneinander, wie in die Hügel eingestanzt. Er selbst befand sich im kleinsten, der etwas abseits lag. Im nördlichen Krater hatte er einen kleinen Teich, ausgedehnte Schilfflächen und vereinzelte Baumgruppen gesehen. Der mittlere und größte wurde fast vollständig von einem anscheinend flachen See mit schmalem Grassaum eingenommen. Die beiden Senken lagen so nah beieinander, dass nur ein flacher Erdwall sie trennte und dem verlandenden Teich den Wasserzufluss verwehrte. Auf einer Hügelkuppe oberhalb des größeren Sees waren ihm halb verfallene Säulen aus elfenbeinfarbenem Stein aufgefallen. Dies musste das Tor zum Netz sein.


    Margil war zuerst abgesetzt worden, allein. Er konnte nur vermuten, dass Firondhir und Ydrir sich in den anderen Kratern befanden. Wahrscheinlich hatte der Archon auch jedem von ihnen eines seiner Spielzeuge dazugesetzt. Was auch immer es hier war, es konnte nicht übermäßig groß sein, sonst hätte er es längst bemerkt. Hier gab es keine Deckung außer dem hohen Gras und das konnte er überblicken.


    Der Weltenwanderer setzte sich in Bewegung, in Richtung des Kraterrandes, in Richtung des Tores. Er war sich sicher, dass die drei anderen das auch versuchten. So war ihre Flucht nicht geplant gewesen. Aber Ànathuriels unerwarteter Auftritt im Frachtraum der Jacht konnte nur bedeuten, dass sie letztlich Recht behalten hatte: aus eigener Kraft wären sie nicht bis hierher gekommen.


    Ein beunruhigender Gedanke schoss ihm in den Kopf. Er hatte ihre Absichten verstanden. Und Ydrir konnte in den Geist anderer blicken. Aber Firondhir? Von dem Moment an, in dem er Ànathuriel neben Quisar erkannt hatte, war es, als wäre seine Seele zerbrochen. Die kurze Zeit, die sie danach noch zusammen gewesen waren, hatte er sich vollkommen willenlos gezeigt, vollkommen gleichgültig gegenüber allem, was mit ihnen geschah. Man musste kein Seher sein, um zu ahnen, was in ihm vorging. Margil kannte ihn erst seit dieser Reise, aber er hatte bereits schmerzhaft erfahren, was passieren konnte, wenn er die Kontrolle über sich verlor. Und wenn er sich jetzt gerade nicht in einem gefühlsmäßigen Ausnahmezustand befand, wann dann? Entweder hatte er sich selbst bereits aufgegeben oder –


    Eine Auffälligkeit am Rande seines Blickfeldes erregte Margils Aufmerksamkeit. Etwas stimmte nicht mit der Bewegung des Grases. An einer Stelle nicht weit von ihm entfernt schien es stärker zu wogen als in der Umgebung, und ohne eine bestimmte Richtung, unabhängig vom Wind. Sofort ging der Weltenwanderer in die Hocke und tauchte in die Halme ein. Seine rechte Hand fuhr unter den Mantel und griff nach einer der versteckten Klingen.


    Ein riesiger Vogel schoss aus dem hohen Gras hervor. Er musste auf dem Boden gesessen haben, denn nun, da er stand, ragten die Grashalme ihm nur bis zur Brust. Das graubraune, fleckige Gefieder ähnelte eher einem zottigen Fell, die Flügel waren winzig. Auf dem langen, kräftigen Hals saß ein Kopf mit kleinen, gelben Augen und einem massiven Schnabel mit einer hakenartigen Spitze, hoch und schmal wie ein Axtblatt.


    Der Vogel legte rückartig seinen Kopf zur Seite, gab eine dumpfes schnarren von sich und starrte in Richtung des Weltenwanderers. Es war fast unmöglich, dass er ihn aus seiner erhöhten Position nicht gesehen hatte. Margil hielt das Tier im Blick und rührte sich nicht. Vielleicht reagierte es nur auf Bewegungen.


    Die Hoffnung zerschlug sich im nächsten Augenblick, als der Vogel zu einem gewaltigen Sprung ansetzte, um seine potenzielle Beute in den Boden zu stampfen. Margil erkannte seine Absicht und hechtet ihm entgegen. Grotesk mit den Stummelflügeln flatternd, setzte der Vogel über ihn hinweg. Die langen, klauenbewehrten Zehen gruben sich in die Erde. Der Vogel kreischte erbost und drehte sich umständlich auf der Stelle.


    Inzwischen war Margil aufgesprungen und losgerannte. Das Tier stand zwischen ihm und dem Übergang zum Nachbarkrater. Es zwang ihn, in die entgegengesetzte Richtung zu fliehen – doch zum Fliehen war in dem engen Kessel ohnehin wenig Raum. Und rasch musste er feststellen, dass er nicht weit kommen würde. Der Vogel jagte ihm hinterher. Und er war auf seinen zwei muskulösen Beinen deutlich schneller.


    Im letzten Moment, bevor sein Verfolger ihn erreichte, schlug Margil einen Haken. Zu seinem Glück war der Vogel nicht in der Lage, dem plötzlichen Richtungswechsle seiner Beute zu folgen. Er rannte noch ein gutes Stück weiter, bevor er in einem engen Bogen wieder auf den fliehenden Aeldari einschwenkte und neuen Ansturm begann.


    Margil sah den Vogel von der Seite näherkommen und änderte erneut die Richtung. Lange würde er das Tempo nicht durchhalten könne. Das hohe, dichte Gras tat sein Übriges und zehrte zusätzlich an seinen Kräften. Er musst den Kraterrand erreichen, in der Hoffnung, dass das dichte Gestrüpp das Tier ausbremsen würde. Aber der Vogel schien gerissener zu sein, als sein urtümliches äußeres vermuten ließ. Mit immer neuen Sprints trieb er den Aeldari vor sich her und hielt ihn in der offenen Grasfläche fest. Gleichzeitig ließ er ihm keinen Moment Ruhe, um seine Waffen zu benutzen.


    Dem Weltenwanderer begannen die Beine zu schmerzen und die Lunge zu brennen. Weglaufen hatte keinen Sinn. In kürze würden seine Kräfte so weit nachgelassen haben, dass das Tier ihn trotz seiner Haken einholte. Er musste die Verhältnisse angleichen. Grade hatte er wieder etwas Abstand zwischen sich und seinen Verfolger gebracht. Nach Luft ringend blieb er stehen und strich sich mit dem Arm die schweißnassen blonden Haare aus dem Gesicht. Dann holte er zwei seiner größeren, schweren Wurfklingen hervor.


    Der Vogel hatte wieder auf ihn eingeschwenkt. Margils Verstand, sein Instinkt, alles in ihm drängte gleichzeitig darauf, vor dem anstürmenden Raubtier zu fliehen oder sofort die Messer zu werfen. Er kämpfte dagegen an und besann sich auf sein Training im Aspektschrein. ‚Der Rächer Asuryans erkennt den rechten Moment. Er setzt seine Waffe nicht zu früh ein und nicht zu spät.‘ Er hob beide Arme in Position, ein Messer in jeder Hand, und zählte seine Atemzüge, während der Vogel auf ihn zustürmte. Dann warf er.


    Eine der Klingen drang in die breite Brust des Tieres ein, die andere in den linken Oberschenkel. Der Vogel kreischte wütend, strauchelte und knickte mit der linken Seite kurze ein, richtete sich aber sofort wieder auf.


    Die Wurfmesser hatten weniger Schaden angerichtet, als Margil gehofft hatte. Ein Teil des Schwungs war wohl durch das dichten Federkleid abgefangen worden. Das Tier schüttelte sich und stocherte mit dem Schnabel im Gefieder. Es gelang ihm, die Klingen herauszuziehen. Die Federn begann sich an den Trefferstellen nur langsam zu röten.


    Der Kopf des Vogels schnellte wieder nach vorne. Er starrte den Aeldari an und riss den Schnabel zu einem lauten, heiseren Kreischen auf. Der lange Federschopf auf seinem Scheitel stellte sich auf. Dann startete das Tier einen erneuten Angriff, leicht humpelnd, aber dafür umso wütender. Denn nun jagte es nicht mehr eine vermeintlich hilflose Beute, sondern bekämpfte einen wehrhaften Feind.


    Einige Sekunden erwog Margil, weitere Klingen loszulassen. Aber wenn die auch nur die gleiche Wirkung hatten wie die vorherigen, würden ihm die Messer ausgehen, bevor er den Rennvogel außer Gefecht setzen konnte. Ihm blieb nichts weiter, als erneut die Flucht zu ergreifen.


    Er hatte sich zu viel Zeit gelassen. Der Vogel holte ihn ein. Margil versuchte noch einmal, auszuweichen, doch das Tier versetzte ihm einen harten Tritt, der ihn an der Hüfte traf. Sich überschlagend wurde der Weltenwanderer meterweit durch das Gras geschleudert. Benommen kämpfte er darum, sich wieder aufzurichten. Sämtliche Knochen schmerzten von dem Aufprall, aber er konnte sich bewegen. Der dichte Bodenbewuchs und seine Rüstung hatten das schlimmste verhindert. Aber nun war sein Verfolger über ihm. Der Klauenfuß ging zu einem weiteren Tritt nieder.


    Margil rollte sich zur Seite und versucht, auf dem Rücken kriechend zurückzuweichen. Der Vogel wechselte seine Waffe und ließ den massiven Schnabel wie einen Hammer auf den Aeldari niedersausen. Margil stieß sich weiter zurück und zog sie Beine an. Der Schnabel rammte in den Boden, wo eben noch seine Füße gewesen waren. Er wollte aufstehen, doch mit einem erneuten Satz war der Vogel wieder in Angriffsreichweite und holte erneut aus. In letzter Verzweiflung trat Margil mit dem rechten Bein aus und traf den Kopf des Vogels in dem Moment, in dem er herunterschnellte, an der Seite.


    Der Effekt war völlig unerwartet. Nicht nur schwang der Kopf wie ein Pendel weit zur Seite, der ganze Körper des Tieres kam ins Taumeln, so dass es sich durch Versetzen der Füße abfangen musste. Anscheinend war der Hals nicht dafür gemacht, Kräften von der Seite zu widerstehen. Und der breite Schnabel war eine ideale Angriffsfläche dafür.


    Margil nutzte den Moment und löste den Verschluss, der das Waffenfutteral auf seinem Rücken hielt. Dem nächsten Zustoßen des Vogels ausweichend, rollte er sich zur Seite und nahm dabei das Bündel auf. Erneut zog das Tier den Hals zurück. Margil hockte sich auf den Boden und spannte seine Muskeln an. In dem Moment, in dem der Kopf niedersauste, schnellte er auf und hieb den Gewehrkolben mit aller Kraft gegen die rechte Seite des hohen Schnabels. Der Vogel kreischte und sackte mit seinem angeschlagenen linken Bein zu Boden.


    Keine Sekunde zögernd, warf Margil sich mit vollem Gewicht auf den Hals des Tieres und drückte es vollends auf die Erde. Auf der Seite liegend trat es um sich, doch sein Widersacher war über den Hals auf seine Rückenseite geglitten und außer Reichweite. Das Tier kreischte und versuchte, den Kopf zu heben. Der Weltenwandere hielt mit aller Macht dagegen, ganz gleich wie heftig die Kreatur sich gegen den Griff seiner immer noch schmerzenden Glieder aufbäumte.


    Seine Rechnung ging auf. Ohne die Drehung des Halses war der Vogel nicht in der Lage, die Beine unter den Körper zu bekommen und aufzustehen. Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis das Tier so erschöpft war, dass es keine Gefahr mehr sein würde. Doch diese Zeit und die Kraft, es so lange festzuhalten, hatte Margil nicht. Darauf bedacht, in seinem Griff nicht nachzulassen, zog er sein langes Kampfmesser aus der Scheide am Oberschenkel, setzte die Spitze dem Vogel an die Kehle und stieß es mit einer ruckartigen Bewegung durch den Unterkiefer in den Schädel. Augenblicklich fiel der Kopf zu Boden. Das Tier lag still. Dunkelrotes Blut sickerte in den zerwühlten Grasteppich.


    Schwerfällig hockte der Weltenwanderer sich auf die Knie. Erleichtert holte er Luft. Jeder Atemzug schmerzte. Er hielt das leblose Haupt des Vogels fest und löste sein Messer aus dem Schnabelknochen. Einen Moment betrachtete er andächtig die hellsilbern glänzende, leicht gebogene Klinge, von der das Blut des Vogels in dünnen Rinnsalen von selbst fast vollständig abfloss: eher ein Kurzschwert denn ein Messer, einschneidig, mit abgeschrägter Spitze und bänderumwickeltem Griff - die runenverzierte Ritualklinge eines Rächers Asuryans. All die Jahre hatte er sie bei sich gehabt, aber jetzt zum ersten Mal seit seiner Zeit als Aspektkrieger wieder gegen einen Feind eingesetzt.


    Er wischte die Schneide mit einem Tuch sauber und verstaube beides wieder. Dann hob er das Futteral auf und untersuchte den Schaft des Jagdgewehres. Schäden waren auf den ersten Blick nicht zu erkennen, Phantomkristall war widerstandsfähig wie kaum ein anderes Material. Auf die Zielgenauigkeit wollte er sich dennoch nicht mehr verlassen.


    Er schwang das Bündel wieder über den Rücken und richtete sich schwankend auf. Dann wandte er sich von dem erlegten Tier ab und eilte so schnell es seine schmerzenden Beine ihm erlaubten dem Kraterrand entgegen. Er erklomm die Böschung und arbeitet sich durch das Gestrüpp aus Dornenranken und Ginsterbüschen.


    Auf dem Kamm angekommen blieb der Weltenwanderer wie angewurzelt stehen. Vier Schattenbarken, die Rümpfe schwarz glänzend gepanzert und vor Dornen und Klingen starrend, schwebten knapp über dem Boden und versperrten ihm den Weg. Auf den ausgefalteten Segeln und flatternden Bannern prangte das Zeichen des grünen Sichelmondes. Die Krieger und Bordschützen richteten ihre Waffen auf ihn. Margil verharrte reglos und ließ die Arme leicht vom Körper abstehen, die Handfläche nach außen, um zu zeigen, dass er unbewaffnet und nicht auf einen Kampf aus war.


    „Ich beglückwünsche dich, IstuKarun.“ Der blonde Archon erschien an die Reling der Barke links von ihm. „Du warst der erste von euch, der seinen Jäger zur Beute gemacht hat.“


    „Ich hoffe, die Vorstellung war zu Euer Hochwohlgeboren Zufriedenheit“, entgegnete Margil spöttisch. In Gedanken fragte er sich, was die Worte des Drukhari für seine Gefährten bedeuten mochten.


    Quisar lachte. „Das werden wir noch sehen. Dies war erst der erste Akt.“


    Die Schattenbarken schwenkten zur Seite. Die hohen, konkaven Bordwände bildeten einen dornengesäumten Korridor. Zielstrebig, ohne den lachenden Drukhari weitere Beachtung zu schenken, eilte Margil den Pfad entlang. Er wollte dem selbstgefälligen Prinzen und seiner Entourage nicht noch mehr Befriedigung verschaffen, indem er Besorgnis zeigte. Der vorgegebene Weg führte ohnehin genau dorthin, wo er hinwollte, und dass der Archon dort eine weitere, wahrscheinlich noch tödlichere Herausforderung für sie bereithielt, stand auch außer Frage. Aber als erstes musste er sich um etwas anderes kümmern.


    ***


    Firondhir nahm kaum etwas von seiner Umgebung wahr. Alles war in einen schwarzen Nebel gehüllt, der jedes Gefühl und jede Wahrnehmung erstickte. Er kniete am kahlen Ufer des Weihers und starrte mit gesenktem Kopf auf das Wasser. Welche Farbe es hatte, drang nicht zu ihm durch. Er sah nur das träge, sich endlos wiederholende Auf und Nieder, ohne Sinn und ohne Ziel. Die Kabalenkrieger hatten ihn hier abgesetzt und er war einfach an Ort und Stelle geblieben. Was immer da kommen mochte, ob es ihn hier traf oder anderswo, es spielte keine Rolle.


    Er hätte es besser wissen müssen. Eine Drukhari, falsch und hinterhältig wie alle ihres verdorbenen, verlorenen Volkes. Wie hatte er ihr nur vertrauen können? Er kannte die Antwort: Sein Wunsch, etwas zu finden, das die tiefe Wunde, die in seine Seele gerissen worden war, wieder heilte. Er war sich sicher gewesen, es gefunden zu haben. So sicher wie nichts anderes in seinem bisherigen Leben. In Wahrheit hatte sie seine Verletzung ausgenutzt und er war ihrem niederträchtigen Zauber erlegen. Er hatte sich täuschen lassen, weil er es selbst so wollte.


    Nun zahlte er den Preis. Es blieb nichts als Lehre und Finsternis. Er hatte es verdient. Margil und Ydrir nicht. Margil hatte versucht, ihn zu warnen. Er hatte nicht auf ihn hören wollen. Durch sein fehlgeleitetes Vertrauen in die Drukhari hatte er seine Gefährten mit ins Verderben gezogen. Die Tragweite seines Versagens für ZarAsuryan konnte er nicht einmal ermessen. Und Illurayon war umsonst gestorben. Blieb noch etwas anderes, als ihm zu folgen? Firondhirs Geist verfinsterte sich zu tiefster Schwärze. Ja, eines blieb noch zu tun. Sie war hier. Er hatte sie gespürt, als sie ihre Psikräfte nach ihnen ausgestreckt hatte. Und er würde sie nicht davonkommen lassen.


    Er erhob sich. Ein schmaler Streifen trockenen Bodens fasste den See ein, ehe der Kraterrand sich als steiler, spärlich bewachsener Hang gegen den fahlen Himmel reckte. Einzelne, herausgebrochene Felsbrocken verteilten sich am Ufer. Die niedrige, eingesunkene Böschung auf der anderen Seite des Sees war ihm schon während des Anflugs aufgefallen. Das Echo ihres Geistes deutet in diese Richtung. Wenn sie hier war, musste sie durch diesen Durchlass zu ihm kommen. Dort wollte er sie erwarten.


    Firondhir umrundete das Gewässer. Am Ziel angekommen, studierte er die Umgebung. An der rechten Flanke des Durchgangs bildeten die sechseckigen Basaltbruchstücke eine unregelmäßige Treppe. Er erklomm die eingefallene Felswand und sucht zwischen den grauen Steinen nach einer passenden Position, verborgen, aber mit Blick über den Hohlweg.


    Rasch wurde er fündig. Er legte sein Futteral auf einem flachen Stein ab und wickelte sorgsam das zusammengeschobene Jagdgewehr aus. Mit routinierten Handbewegungen zog er die Waffe zu voller Länge aus und befestigte das Zielfernrohr. Die Stelle bot keinen Platz, um sich für den Schuss hinzulegen, doch Knien sollte genügen. Die Entfernung war nicht groß und er musste weder rasch fliehen noch Entdeckung vermeiden.


    Der Weltenwanderer nahm seine Position ein. Prüfend legte er das Gewehr an. Durch das Zielfernrohr schauend, ließ er seinen Blick durch den Hohlweg zwischen den beiden Kratern schweifen. Nichts verdeckte die Schussbahn. Dann setzte er das Gewehr wieder ab, verharrte im Knien, und wartete.


    ***


    Margil stolperte den steilen Abhang des Kraters hinunter. Der Bewuchs war hier weniger dicht, dafür der Fels loser. Immer wieder brachen große Stücke unter seinen Füßen heraus und rutschten talwärts. Auf halber Höhe, so dass er sicher sein konnte, die Drukhari nicht mehr unmittelbar im Rücken zu haben, hielt er inne. Mit einer Bewegung der flachen Hand schob er die Zieloptik seines Helmkragens über das linke Auge. Aufmerksam suchte er den Kessel ab. Die Wasserfläche erstreckte sich fast bis zu den Kraterrändern und kräuselte sich nur wenig. Die spärlichen Schilfbüschel, die am flachen, felsigen Ufer genug Grund fanden, um zu wurzeln, wiegten leicht im Wind. Die Landschaft schien in angespannter Ruhe zu liegen.


    Mit einem Gedankenimpuls änderte Margil die Brennweite der blauen Kristalllinse. Das Sichtfeld verkleinerte sich, das Bild rückte näher heran. Auch aus der Nähe war nichts zu sehen. Hier und da große, rot oder blau glänzende Libellen zwischen den Stängeln. Seltsamerweise keine Vögel, weder ihm Schilf noch auf dem Wasser. Von Firondhir, Ànathuriel oder Ydrir fehlte jede Spur.


    Margil ließ die Zieloptik wieder einfahren und seinen Blick noch einmal durch den Krater schweifen. Er dachte kurz nach. Wenn Firondhir tatsächlich das vorhatte, was er befürchtete, gab es hier nur eine Stelle, wo er ihn finden würde – weil er selbst sie genauso wählen würde. Eilig setzte er seinen Abstieg fort.


    ***


    Firondhir hatte nicht lange warten müssen. Das Echo auf dem Geröll knirschender Schritte hallte zwischen den Felsbrocken wider. Eine ungewohnte Anspannung ergriff ihn. Woher sie kam, konnte er sich nicht erklären. Schließlich hatte er schon dutzenden Male einem Ziel aufgelauert. Warum sollte es jetzt anders sein? Er nahm das Jagdgewehr in Anschlag und senkte das rechte Auge ans Zielfernrohr. Sein Blick wanderte durch den Hohlweg.


    Dann sah er sie. Bei jeder ihrer fließenden Bewegungen glänzten die schwarzen Platten ihres Anzugs in der schräg einfallenden Sonne und brachen das Licht an den Kanten und Wölbungen in grün und orange – so wie es die Rüstungen der Kabalenkrieger taten. Sie schritt bedachtsam voran, wandte den Kopf nach links und rechts, als würde sie etwas suchen. In der Hand hielt sie einen langen Stab aus Schilfrohr.


    Firondhir konnte ihre falschen Gesichtszüge erkennen, wie aus bleichen Knochen geschnitzt. Die Maske hatte sie abgelegt, als könne sie sich dadurch ihrer Verdorbenheit entledigen, wie ein Aspektkrieger, der seinen Helm ablegt – doch dies stand einer Drukhari nicht zu.


    Aber noch etwas war anders. Ihre Haare. Die maßlos langen Flechten waren verschwunden. Wie willkürlich abgeschnitten, hingen ihr Strähnen verschiedener Länge vom Scheitel. Die obszöne, purpurrote Farbe war beinahe ganz verschwunden, nur noch ein Rest an den Enden. Stattdessen schimmerte ihr Haupt in einem warmen, satten Kastanienbraun. Firondhir legte seinen Finger an den Abzug.


    Ànathuriel schaute zurück. Hinter ihr, am Rande des Sichtfeldes bewegte sich ein Schatten. Firondhir schwenkte das Gewehr leicht in die Richtung und verringerte die Vergrößerung, um ein weiteres Blickfeld zu haben. Über die Bodenwelle am Scheitelpunkt des Durchlasses kam eine zweite Person herauf. Ànathuriel drehte sich um und lief die wenigen Schritte zurück. Sie reichte der Gestalt eine Hand. Es war Ydrir. Er ergriff ihren Arm und sie half ihm hinüber. Dann setzten sie Seite an Seite ihren Weg fort.


    Dieses leichtgläubige Kind ließ sich immer noch von ihr zum Narren halten. Dabei gebärdete er sich die ganze Zeit wie ein Seher, und hatte es auch noch geschafft, seine Gefährten das Glauben zu machen. Inzwischen wusste Firondhir es besser. Und Ydrir würde seinen Irrtum auch in Kürze erkennen.


    Der Weltenwanderer nahm sein Ziel wieder ins Visier, erhöhte die Vergrößerung, bis er nur noch das Gesicht der Drukhari im Blickfeld hatte. Ihre Lippen bewegten sich, sie schien dem jungen Weltenläufer etwas zu erzählen. Die türkisenen Augen leuchteten tückisch. Die kreisrunde Markierung in der Linse des Zielfernrohrs lag genau darüber auf ihrer blassen Stirn. Firondhirs rechte Hand umfasste den Griff des Gewehrs, der Zeigefinger lag auf dem Abzug. Einer Bewegung durfte es nicht, der Gedanke genügte, um den Schuss auszulösen.


    Aber er konnte ihn nicht fasse. Etwas blockierte seinen Geist. War sie es? Nein, das wäre ihm nicht entgangen. Er legte erneut an, atmete aus und hielt den Atem an. Alles außer dem Ziel verschwand aus seiner Wahrnehmung. Doch wieder gelang es ihm nicht, den Schuss abzugeben. Er hielt weiter an, immer weiter, bis das Gewehr zu schwanken begann und ihm die Luft ausging. Sein Herz schlug bis zum Hals, er musste mehrere Male tief durchatmen. Seine Hände waren feucht. Das Ziel war unbekümmert weitergegangen und hatte nun schon fasst den Ausgang des Hohlweges erreicht.


    Firondhir richtete sich auf. Er hatte den Fehler erkannt. Das Ethos der Weltenwanderer war der saubere Schuss, ungesehen. Das Ziel erfuhr niemals, wer es getroffen hatte. Er hatte es versucht, wie es seine Gewohnheit war. Aber es war nicht das, was er wollte. Er wollte, dass sie ihn sah, bevor er schoss. Das Gewehr fest in der linken Hand, eilte er den Hang hinunter.


    Ànathuriel und Ydrir hatten eben den Rand des Weihers erreicht, als Firondhir ihnen entgegentrat.


    Ànathuriels Gesicht hellte sich vor Erleichterung und Freude auf, als der Weltenwanderer auf sie zukam. Wie gerne wäre sie ihm um den Hals gefallen, doch ihr war bewusst, dass nach allem, was geschehen war, sie behutsamer vorgehen musste. Sie reichte Ydrir ihren Stab und tat einen Schritt auf ihn zu. Firondhir hob das Jagdgewehr und zielt auf ihre Brust. Erschrocken bleib sie stehen.


    „Firondhir, was tust du!“ entfuhr es Ydrir voll Bestürzung.


    Firondhir antwortete nicht. Er wartete auf eine Reaktion von Ànathuriel, irgendetwas, das ihn erkennen ließ, dass jetzt der Zeitpunkt war, abzudrücken. Er hatte erwartet, dass sie sich mit irgendwelchen Lügen zu erklären versuchte, dass sie versuchte, seinen Geist zu beeinflussen. Doch sie tat nichts. Sie stand nur da und sah ihn an, nicht angsterfüllt, sondern bekümmert.


    Stattdessen handelte Ydrir und stellte sich zwischen die beiden, direkt in seine Schussbahn.


    „Firondhir, es ist nicht so wie du denkst. Alles, was geschehen ist, hat seine Richtigkeit“, versuchte er den Weltenwanderer zu beschwichtigen.


    „Sie hat dich immer noch in ihrem Bann“, entgegnete er hitzig. „Merkst du das nicht? Du willst doch ein Geisterseher sein.“


    „Ich sehe es ganz klar, Firondhir. Sie ist das, was sie immer war. Sie ist die, wegen der wir hier sind. Sie hat uns nie getäuscht, keinen von uns, in nichts. Ohne sie wären wir nicht einmal lebend auf das Schiff gelangt.“


    „Geh aus dem Weg, du Narr!“ herrschte Firondhir ihn an. Doch auch wenn sein tief verletztes Inneres sich immer noch dagegen wehrte, begann sein Verstand nun zu zweifeln, ob er wirklich im Recht war.


    „Nein“, widersprach Ydrir ruhig. „Tu, was du denkst, tun zu müssen.“


    Jetzt fand auch Ànathuriel die Sprache wieder. Sie legte dem jungen Weltenläufer die Hand auf die Schulter und schritt an ihm vorbei. „Ydrir, bitte tritt zur Seite. Ich will nicht, dass dir etwas zustößt.“ Demonstrativ ließ sie ihren Stab zu Boden fallen. „Firondhir, er sagt die Wahrheit. Bitte verzeih mir. Lass mich zu dir kommen, ich werde dir alles erklären. Und dann entscheide, was du tun willst.“ Sie streckte dem Weltenwanderer die Hand entgegen.


    Tief in seinem Innersten wünschte Firondhir, ihr glauben zu können, nur einen Wimpernschlag lang. Dann gewann der Zorn wieder die Oberhand. Das war der Moment, auf den er gewartet hatte. Und wenn dieses dumme Kind nicht aus dem Weg gehen wollte, sei es drum. Sein Finger legte sich auf den Abzug.


    Mit Wucht stieß ihn etwas zur Seite, griff nach der Waffe und riss den Lauf nach oben. Das Gewehr fiel ihm aus der Hand, als er mit seinem Angreifer zu Boden ging. Er machte sich los und kam wieder auf die Füße. Margil brauchte einige Augenblicke länger. Blindwütig nutzte Firondhir die Gelegenheit und warf sich auf ihn. Die beiden stolperten zum Ufer des Sees und landeten miteinander ringend im seichten Wasser. Margil erwies sich einmal mehr als der bessere Nahkämpfern. Mit geübten Griffen gelang es ihm, den Tobenden bei den Armen zu packen und ihn auf die Knie zu drücken.


    „Besinne dich, Firondhir“, sagte er in gebieterischem Ton. „Wir haben einen Auftrag zu erfüllen. Du bist ZarAsuryan verpflichtet, und Illurayon.“


    Doch Firondhir dachte nicht daran. Er wand sich in seinem Griff. Dass Margils linker Arm verletzt war, hatte er bei aller Wut nicht vergessen und richtete allen Widerstand gegen diese Schwachstelle. Margil bemerkte es. Er biss die Zähne zusammen und hielt dagegen. Einen Augenblick erwog er, sein Kurzschwert zu ziehen, um Firondhir zur Aufgabe zu zwingen. Aber dafür hätte er ausgerechnet mit der rechten Hand loslassen müssen. Und ob Firondhir sich in seiner Tollheit davon beindrucken ließ, war eine andere Frage. Bis zum letzten wollte Margil nicht gehen.


    Doch nun waren Ànathuriel und Ydrir bei ihnen. Der junge Weltenläufer sprang Margil zur Seite und packte den linken Arm ihres Gefährten, während Margil den rechten festhielt. Ànathuriel umfasste das Gesicht des so festgehaltenen mit beiden Händen und drückte ihre Handflächen gegen seine Schläfen.


    Diesmal war es schwieriger. Der Weltenwanderer sträubte sich heftig, warf den Kopf zur Seite, um sich ihrem Griff zu entwinden und versuchte, seinen Geist zu verschließen. Ànathuriel fühlte ein leichtes Spannen in ihrer Schläfe. Schließlich fand sie einen Zugang. Keine Schwäche in seiner Abwehr, sondern ein winziger Funke des Zutrauens, der bereit war, sich ihr noch einmal zu öffnen. Ihr? Sie war sich nicht sicher, doch es erschien ihr, als ob da noch etwas anderes war, eine Art Echo, sie wusste nicht, wovon, auf das sein Unterbewusstsein reagierte und sie einließ.


    Firondhir gab den Widerstand auf. Einen Moment noch hielt Ànathuriel ihn fest, dann hatte sie ihm alles gezeigt und alles gesehen, was er zu zeigen bereit war. Langsam ließ sie die Hände sinken, ihr Magen begann sich zu verkrampfen. Firondhir atmete ruhig und tief. Margil und Ydrir ließen ihn los und traten zurück. Schwerfällig richtete der Weltenwanderer sich auf. Er sah Ànathuriel an. Sein Gesicht war nicht mehr zornig, aber finster, traurig und verschlossen. Der Anblick ließ Ànathuriels Kehle sich zusammenschnüren. Sie fühlte sich elend und hilflos. Nichts hätte auch nur annähernd ihre Scham und ihr Bedauern beschreiben können. Die Täuschung war der einzige Weg gewesen, sie gemeinsam und lebend bis hierher zu bringen, dieses Wissen teilte Firondhir nun mit ihr. Und doch konnte es ihr nicht das schmerzliche Empfinden darüber nehmen, wie tief sie ihn verletzt hatte. Erst jetzt hatte sie vollends begriffen, was sie ihm wirklich bedeutete, was sie tatsächlich aufs Spiel gesetzt hatte. Mehr, viel mehr als die angenehme Zweisamkeit der letzten Wochen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er etwas sagte, dass er Verständnis zeigte für alles, was sie getan hatte, und dass er ihr sagte, was sie tun musste, damit er ihr vergab. Aber nichts geschah. Schweigend standen sie sich gegenüber.


    Währenddessen wanderte Ydrirs Blick nervös hin und her. Irgendetwas ließ ihn zunehmend unruhiger werden. Plötzlich ergriff ihn Panik.


    „Weg vom Wasser!“ schrie er. „Weg vom Wasser! Lauft! Zwischen die Felsen!“


    Im nächsten Augenblick bäumte sich der Kratersee in einer gewaltigen Fontäne auf.

  • Kapitel 15

    Ath-NaranKuras

    Das Wasser ergoss sich schäumend über den schmalen Uferstreifen. In der Flutwelle warf sich eine monströse Kreatur an Land. Entfernt ähnelte sie einem gigantischen Hundertfüßer. Der dicke, lange Körper war in viele Dutzend Segmente unterteilt, jedes mit einer grünschwarz glänzenden Rückenplatte und einem Paar kräftiger, fünfgliedriger Beine versehen. Am Vorderleib waren die Platten zu einem kurzen, gewölbten, Körperschild verwachsen, wie der eines Flusskrebses der Länge nach von stacheligen Graten überzogen. Jedes der zehn Beinen unter dem Panzer endetet in einer Doppelklaue. Das Tier hatte keinen erkennbaren Kopf, doch aus den Seiten der stumpfen Vorderseite des Schildes ragte ein Paar großer, runder Facettenaugen auf kurzen, dicken Stielen hervor, jedes so groß wie der Kopf eine Aeldari. Genau dazwischen trug es ein Paar segmentierter Greifarme, die es unter dem Rumpf eingerollt hatte.


    „Was bei allen Göttern ist das?“ stieß Margil entsetzt hervor.


    „Ath-NaranKuras!“ rief Ànathuriel. „Tut, was Ydrir gesagt hat! Lauft!“


    Die vier rannten los, auf den Durchgang zu. Sie erklommen die geborstene Kraterwand und zwängten sich zwischen die Felsbrocken. Der Gliederwurm schwenkte in ihre Richtung ein und folgte ihnen. Wenn sie gehofft hatten, dass seine Größe ihn langsam und schwerfällig machte, wurden sie eine besseren belehrt. Die zahllosen Beine wogten in Wellen auf und ab und schoben ihn mit rasanter Geschwindigkeit vorwärts. Nur Sekunden nach den Aeldari hatte er ebenfalls den Einschnitt in der Kraterwand erreicht. Sein gewaltiger Leib füllte den Hohlweg beinahe vollständig aus. Der Vorderkörper schwang suchend hin und her. Dann richtete er sich auf und erklommt die Felswand. Die mächtigen Basaltblöcken lagen so eng beieinander, dass die Bestie nicht dazwischenkommen konnte. Sie rollte die Fangarme aus. Jeder einzelne war fast so lang wie die Körpergröße eines Aeldari und an der Innenseite mit kurzen, dicken Stacheln versehen.


    Die vier warfen sich flach auf den steinigen Boden. An der Unterseite des Vorderkörpers konnten sie jetzt die kreisrunde, wie mit einer Iris von flachen Chitinplatten umgebene Maulöffnung erkennen. Die Fangarme tasteten wild nach ihnen, streiften sie mit den Spitzen, konnten die Beute aber nicht zu fassen bekommen.


    Firondhir zwängte sich in einem Spalt zwischen zwei Felsbrocken. Das Tier war direkt über ihm und präsentierte seinen Bauch. Doch sein Jagdgewehr lag irgendwo im Schlamm des zerwühlten Ufers. Margil erkannte die Lage, löste seine Waffe vom Rücken und schob sie zu Firondhir hinüber. Der legt auf die Kreatur an. Zielsicher traf er den Spalt zwischen zwei Körpersegmenten. Der Wurm bäumte sich auf und zischte wütend. Doch selbst aus nächster Nähe schien der Energiestrahl des Gewehres keinen wirksamen Schaden angerichtet zu haben. Firondhir gab einen weiteren Schuss ab und traf eines der Beine. Der Wurm krümmte es ein, wandte die getroffene Körperseite ab und ließ sich zurück in die Senke fallen. Das schien eine Schwachstelle zu sein. Aber er hatte dutzende davon.


    „Das hat keinen Sinn. Das ist ein Ath-NaranKuras“, rief Ànathuriel. „Aus seinem Panzer fertigt DorchaKerun die Rüstungen seiner Krieger und die Panzerung seiner Barken.“


    „Wie erlegen sie solche Monster“, fragte Firondhir ungläubig.


    „Mit Schattenlanzen.“


    Firondhir ließ das Gewehr sinken. Diese Waffen der Drukhari waren in der Lage, die mächtigen Kettenfahrzeuge der Losseainn in Stücke zu sprengen.


    Derweil wälzte sich die Kreatur über die Felsbrocken und suchte nach einem Zugang. Vermutlich wäre sie in der Lage gewesen, ihr Versteck einfach aufzubrechen. Doch um dies zu erkennen, reichte ihr Verstand nicht.


    „Können wir in den anderen Krater gelangen, um dort hinauszuklettern?“ fragte Margil.


    „Das hilft uns nicht weiter“, antwortete Ànathuriel. „Das Schilf und die Gehölze dort sind für ein Ath-NaranKuras kein Hindernis. Und Quisar wird das nicht zulassen. Es gibt nur diesen einen Ausweg. Das gehört zu seinem Spiel.“


    „Also müssen wir durch diesen Krater hindurch das Tor erreichen. Andernfalls legen wir uns nicht nur mit diesem Wurm, sondern auch noch mit den Kriegern der Kabale an“, ergänzte Ydrir.


    „Nein“, sagte Firondhir ernst. „Ànathuriel muss das Tor erreichen. Von uns genügt einer, der sie durch das SercamBelach nach ZarAsuryan führt.“


    Betroffenes Schweigen setzte ein.


    „Nein! Das kommt nicht in Frage!“ protestierte Ànathuriel. „Ich habe euch bis hierher nicht im Stich gelassen. Und jetzt werde ich nicht damit anfangen. Ich bin nicht bereit, auch nur einen von euch hier zurückzulassen.“


    „Das hast du nicht zu entscheiden!“ fuhr Firondhir sie scharf an. „Unser Auftrag ist, dich nach ZarAsuryan zu bringen. Deswegen sind wir hier. Alles andere zählt nicht.“


    Ànathuriel holte tief Luft. Der Gedanke, tatenlos davonzulaufen, während ihre Gefährten sich in tödliche Gefahr begaben, widerstrebte ihr zutiefst.


    „Willst du deine ehemaligen Freunde um eine Schattenlanze bitten?“ warf Margil nun ein und wies dabei in den Himmel. Sie wussten beide, dass die Drukhari in ihren Schattenbarken sich in diesem Augenblick weidlich an ihrer verzweifelten Lage ergötzen. „Firondhir hat recht. Am Ende bist du das Einzige, was zählt. Nicht nur für das Weltenschiff, auch für Ydrir und mich.“ Er warf Firondhir einen auffordernden Blick zu, doch der beobachtete angestrengt die Bewegungen des Wurms unten im Hohlweg. „Du hast getan was nötig war, um uns hierher zu bringen. Jetzt tun wir was nötig ist, um dich von hier fortzubringen.“


    „Und du kannst nicht auch dieses Tier beherrschen, so wie den Vargur?“ fragte Ydrir fast flehentlich. Auch er erkannte das Unvermeidliche. Aber er war noch nicht lange genug auf dem Pfad des Ausgestoßenen, um die Fügungen des Schicksals so gefasst anzunehmen, wie die beiden Weltenwanderer es taten.


    Resigniert schüttelte Ànathuriel dem Kopf. „Sie haben nur Instinkt, keinen Verstand. Alles, was sich bewegt, ist Beute für sie.“


    „Und deine Psikräfte?“


    „Wage es nicht!“ fiel Firondhir den beiden hart ins Wort. Dann wandte er sich wieder an Ànathuriel: „Du meinst, sie reagieren auf Bewegung?“


    „Ja. Was sich nicht bewegt, ignorieren sie. Aber mit ihren Stielaugen sehen sie alles um sich herum. Und sie spüren Erschütterungen mit ihren Beinen.“


    „Das könnte unsere Aussichten etwas verbessern“, sagte Firondhir. Er spähte zwischen den Felsen hinunter in den Hohlweg. Der Gliederwurm hatte sich beruhigt. Er mäanderte zwischen den Felswänden hin und her und tastete mit seinen Fangarmen den Boden ab. „Kann es sein, dass er uns schon wieder vergessen hat?“ fragte er.


    „Das ist nicht unwahrscheinlich“, antwortete Ànathuriel.


    Der Weltenwanderer dacht kurz nach. „Ydrir, mach deine Waffe bereit“, befahl er. Der junge Ranger gehorchte und nahm sein Futteral vom Rücken. Firondhir reichte Margil dessen Jagdgewehr. Der winkte ab. „Du bist der bessere Schütze, selbst wenn mein Arm unverletzt wäre.“ Firondhir nickte.


    „Ich locke den Wurm von hier oben bis zum Ende des Hohlweges. Er wird einige Augenblicke brauchen, um sich darin umzudrehen. Ànathuriel, du läufst als erste los, und zwar direkt den Abhang zum Tor hinauf. Halte nicht an und dreh dich nicht um. Margil, Ydrir, verteilt euch im Krater, ich stoße dann zu euch. Wir lenken den Wurm auf uns, wann immer er sich Ànathuriel zuwendet. Wenn er euch zu nahekommt, verharrt regungslos. Das ist ungewohnt, aber vor seinen Augen sind wir selbst im Offenen versteckt, solange wir uns nicht rühren.“


    „Und was ist mit den Drukhari?“ wollte Ydrir wissen.


    „Ehe sie an uns herankommen, müssen sie erst einmal mit dem Wurm fertig werden“, antwortet Firondhir.


    „Von den Drukhari gerettet zu werden. Was für eine Aussicht“, spottete Margil.


    Firondhir hängte sich das Jagdgewehr über die Schulter. Ehe er sie verließ, wandte er sich noch einmal Ydrir zu. Er legte dem jungen Weltenläufer die Hand auf die Schulter. „Traust du dir zu, den Weg durch das Netz allein zu finden?“


    „Ja“, antwortete er. „Aber Margil versteht mehr von Richtung als ich.“


    Die Weltenwanderer wechselten kurz einen Blick. Margil nickte.


    „Das ist wahr“, sagte Firondhir. „Aber dir stehen noch alle Pfade offen, uns nicht. Du bist zu mehr fähig, als das Leben eines IstuKarun zu führen. Wenn nur einem von uns beschieden ist, auf das Weltenschiff zurückkehrt, dann sollst du es sein. Bleib in Ànathuriels Nähe und versuche, das Tor zu erreichen.“


    Ydrir sah den Weltenwanderer erhobenen Hauptes an, voll Respekt und Dankbarkeit. Und Zuversicht, als wüsste er bereits, dass ihr Unternehmen ein gutes Ende nehmen würde. „Mach dich selbst nicht geringer, als du bist, Firondhir. Angaur b’fheidir harakh iem liran“[1]. Der Weltenwanderer nickt dem Jungen zu. Dann dreht er sich um und tauchte in den Schatten der Felsen ein.


    ***


    Ànathuriel saß da und sah ihm nach. Sie war im Zweifel, ob sie noch etwas hätte tun oder sagen sollen. Aber es gab nichts mehr, was er nicht von ihr wusste. Schweren Herzens musste sie einsehen, dass sie nur abwarten konnte, wie er mit diesem Wissen umging und welche Entscheidung er für sich traf. Und hoffen, dass sie später noch einmal eine Gelegenheit haben würden, miteinander zu sprechen.


    Margil fasste Ànathuriel am Arm. „Komm, Bestienmeisterin. Lass uns unserem Publikum eine Vorstellung bieten, die es so schnell nicht vergessen wird.“


    ***


    Darauf bedacht, keine Erschütterungen zu verursachen, schlich Firondhir den Hohlweg entlang. Wo immer möglich mied er den Erdboden, doch ein ums andere Mal musste er den Schutz der Felsen verlassen, da sie kein Durchkommen zuließen. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, hielt inne, tat den nächsten Schritt, sich immer wieder versichernd, dass er den Wurm nicht vorzeitig auf sich aufmerksam machte.


    Der Weg erforderte seine ganze Aufmerksamkeit. Dennoch konnte Firondhir nicht verhindern, dass seine Gedanken immer wieder abschweiften. Alles, was auf dem Schiff geschehen war, hatte Ànathuriel herbeigeführt, damit ihre Flucht nicht scheiterte, bevor sie überhaupt eine Chance hatten, die Dunkle Stadt zu verlassen. Das hatte er längst begriffen und der Blick in ihren Geist hatte die letzten Zweifel ausgeräumt. Er verwünschte sich für seine Verirrung sein fehlendes Vertrauen. Und er war Margil und Ydrir von Herzen dankbar, dass sie ihn aufgehalten hatten.


    Aber sie war sich auch im Klaren darüber gewesen, was sie ihm damit antun würde. Auch das hatte er in ihren Gedanken gesehen. Firondhir wusste, dass sie keine Wahl gehabt hatte, darauf Rücksicht zu nehmen, und keine Gelegenheit, ihn zu warnen. Auch, weil er selbst in dem einzigen Moment, in dem dies noch möglich gewesen wäre, sich ihr bereits verschlossen hatte. Und er hatte die Reue und das tiefe Bedauern gesehen, dass sie darüber empfand, nicht um ihretwillen, was sie selbst zu verlieren riskierte, sondern um seinetwillen, den Schmerz, den sie ihm zugefügt hatte. Sie war keine Drukhari mehr, denn kein Drukhari würde jemals so empfinden. Und dennoch, etwas in seinem Inneren verweigerte sich immer noch, ihr zu verzeihen. Ob er jemals wieder so für Ànathuriel würde empfinden können, wie zuvor - er wusste es nicht.


    Aber wenn es ihm nicht gelang, sie alle von hier fortzubringen, spielte das ohnehin keine Rolle mehr. Er holte tief Luft und schob diese Gedanken beiseite.


    Wenige Schritte vor der Öffnung des Hohlweges in den benachbarten Krater kauerte Firondhir sich zwischen den Basaltblöcken nieder. Der Gliederwurm war noch ein gutes Stück entfernt. Er schien unschlüssig, ob er seinen Weg fortsetzen sollte. Seine Vorderbeine tasteten den Boden ab, der Kopf schwang wie suchend hin und her. Ein Geschenk des Schicksals, wenn er sich entschließen würde, dort drüben nach anderer Beute zu suchen.


    Doch im nächsten Moment bemerkte der Weltenwanderer, was das Tier zurückhielt. Drei Schattenbarken kreisten über den wogenden Gras- und Schilfflächen, gerade so hoch, dass sie die Baumkronen nicht streiften. Langsam wie jagende Raubvögel, schienen sie etwas zu suchen. Das dunkle Summen ihrer Antigravtriebwerke schien auch der Wurm als Bedrohung wahrzunehmen. Schon machte er Anstalten, sich wieder umzuwenden.


    Firondhir kletterte auf den höchsten Felsblock in seiner Nähe, sichergehend, dass der Wurm ihn sehen konnte. Dann blickte er den Hohlweg hinunter und hob die Hand. Die drei anderen machten sich bereit.


    Es dauerte nur Sekundenbruchteile, bis das Tier seiner gewahr wurde. Der Weltenwanderer hatte in Erwägung gezogen, ihn mit Schüssen auf sich aufmerksam zu machen, aber das erwies sich als unnötig. Die kleine Bewegung hatte ausgereicht und der Wurm schoss mit blitzartiger Geschwindigkeit in seine Richtung. Keinen Augenblick zu früh ließ Firondhir sich wieder zwischen die Steine fallen. Das Ungeheuer war über ihm und mühte sich, mit den Greifarmen an seine verborgene Beute zu gelangen. Doch schon nach wenigen Minuten ließ sein Interesse wieder nach. Es hob seinen Vorderleib und schickte sich an, seinen langen Körperumzuwenden. Etwas anderes hatte seine Aufmerksamkeit erregt.


    ‚Zu früh‘, schoss es Firondhir durch den Kopf. Er richtete sich halb auf, sprang in die Höhe und bekam zwei der Laufbeine an der hinteren Körperhälfte zu fassen, jedes halb so lang wie er selbst. Er umklammerte die Gliedmaßen und hielt sich daran fest wie an einem Ast. Der Wurm zischte erbost und versuchte mit Wellenbewegungen seiner Beinreihen die unerwünschte Last loszuwerden. Doch der Weltenwanderer blieb hartnäckig. Erst als sein Gegner ansetzte, ihn aus seinem Versteckt zu ziehen, ließ er los.


    ***


    Als sie Firondhir auf dem Basaltfelsen stehen sahen, rannten Margil, Ydrir und Ànathuriel los, zur diesseitigen Öffnung des Hohlweges hinaus. Links von ihnen erhob sich der Hügel mit dem Steinkreis über den Kraterrand. Wie verabredet, schlugen Ànathuriel und Ydrir diesen Weg ein. Sie mussten den Kratersee fast um ein Drittel umrunden.


    Margil lief in die entgegengesetzte Richtung. Wenige Augenblicke später schoss der Gliederwurm aus der Öffnung heraus und hielt ohne Zögern auf das nächstgelegene Ziel zu – die beiden fliehenden Aeldari. Margil stieß einen Warnruf aus. Sofort zog Ydrir Ànathuriel zur Kraterwand, stellte sich vor sie und verdeckte sie mit seinem Mantel. Augenblicklich nahm der schwarze Stoff die basaltgraue Farbe des Gesteins an. Doch die blanke Wand bot keine Deckung und sie standen im hellen Tageslicht.


    Der Wurm näherte sich. Er wurde langsamer, ließ suchend den Kopf hin und her pendeln und begann, in Schlangenlinien zu laufen. Ydrir atmete aus, hielt die Luft an und schloss die Augen. Er konnte spüren, dass Ànathuriel das gleiche tat. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er ihr bisher noch nie sie nahegekommen war. Sein Herz begann schneller zu schlagen, seine Wangen wurden wärmer.


    Ànathuriel fühlte Ydrirs Scham und Verlegenheit. Sie sandte beruhigende Gedanken in seinen Geist. „Alles ist gut, keine Sorge.“


    Das Knacken der gepanzerten Glieder war nun direkt hinter ihnen. Ihr Jäger hatte die Spur seiner Beute verloren, er konnte sie nicht mehr sehen. Aber solange der Wurm in der Nähe war, konnten sie sich nicht von der Stelle rühren. Doch im nächsten Moment drehte die Bestie ab.


    Sie hatte Margil entdeckt, der auf der anderen Seite des Kraters am Ufer entlanglief. Sofort warf das Tier sich ins Wasser und hatte in kürzester Zeit den See umrundet. Für Margil dauerte es lang genug. Er kauerte sich auf den Boden und regte sich nicht, wie ein Felsblock am Ufer. Das Geschöpf ging an Land, hielt inne und trippelte verwirrt hin und her. Erleichtert setzten Ànathuriel und Ydrir ihren Weg fort. Ihr Plan schien aufzugehen.


    Der Gliederwurm war nicht mehr weit davon entfernt, auf Margil zu stoßen, als etwas seine empfindlichen Beine traf. Zischend wandte er sich um. Firondhir stand im Ausgang des Hohlweges, das Jagdgewehr noch im Anschlag. Sofort eilte das Tier in seine Richtung. Ihm blieb nicht mehr genug Zeit, wegzulaufen. Stattdessen schlüpfte er wieder zwischen die Basaltfelsen.


    Margil stand einen Moment unschlüssig da. Er hatte kein Gewehr mehr, um den Wurm aus sicherer Entfernung auf sich aufmerksam zu machen und die Reichweite der Shurikenpistole war zu gering. Firondhir saß fest. Er sah sich nach Ydrir und Ànathuriel um. Die beiden hatten eben die Böschung unterhalb des Hügels erreicht und machten sich an den Aufstieg. Wenn der Wurm die Suche nach Firondhir aufgab, würden sie sein nächstes Ziel sein.


    Ohne weiter nachzudenken, lief er dem Gliederwurm entgegen. Das Tier reagierte schnell, drehte sich herum und eilte auf ihn zu. Kaum, dass er das Biest auf seine Fährte gebracht hatte, stoppte der blonde Weltenwanderer, machte auf der Stelle kehrt und ergriff die Flucht.


    Firondhir nutzte die Zeit, sprang aus seinem Versteck und eilte die Kraterwand entlang hinter Ànathuriel und Ydrir her. Margil erreichte derweil eine Gruppe niedriger, verstreut liegender Felsblöcke, die sich irgendwann einmal von der Wand gelöst haben und in den Kessel gerollt sein musste. Er warf sich hinter die spärliche Deckung, nicht einmal groß genug, um sich vollständige dahinter zu verbergen, und rührte sich nicht. Doch sie reichte aus. Der Wurm eilte zwischen den Felsen hindurch und an ihm vorbei, wurde langsamer und begann wieder irritiert mit der Suche nach der Beute, die eben noch da gewesen war.


    Bis hierher hatte ihr Plan funktioniert. Doch nun saß Margil in der Falle. Das Tier war direkt hinter ihm. Wenn er sich rührte, hatte er keine Chance, ihm zu entkommen. Firondhir war inzwischen am Hang unterhalb des Tores angekommen, hielt dort inne und sah sich nach Margil um.


    Sofort erkannte er dessen verhängnisvolle Lage. Doch jetzt den Wurm noch zu sich zu locken, war zu riskant. Er würde ihn gleichzeitig auf Ànathuriel und Ydrir aufmerksam machen. Der Weltenwanderer blickte die Böschung hinauf. Die beiden hatten weniger als die Hälfte des Anstiegs hinter sich gebracht. Wenn sie sich im Steinkreis befanden, waren sie außer Sicht. Aber das brauchte Zeit. Und die blieb Margil womöglich nicht mehr. Die einzige Möglichkeit war, sich selbst wieder vom rettenden Ziel zu entfernen. Er zögerte. Firondhir musste sich eingestehen, dass ihm Margils Wagemut fehlte.


    Der Gliederwurm nahm ihm die Entscheidung ab. Er merkte kurz auf, dann setzte er sich blitzschnell in Bewegung und huschte an Margil vorbei in seine Richtung. Aber Firondhir, immer noch am Fuß des Abhangs kauernd, war nicht sein Ziel. Die Kreatur hielt auf den Ausgang des Hohlweges zu. Eine hünenhafte Gestalt trat aus dem Schatten des Durchgangs. Sie trug eine graublaue Rüstung mit gewaltigen, gelb und rot leuchtenden Schulterpanzern. Als er das riesige Ungetüm auf sich zustürmen sah, setzte der Krieger seinen Helm auf das blondhaarige Haupt. Er brüllte seinem Gegner einen rauen Kampfschrei entgegen, verzerrt durch das Voxgitter, hob sein mächtiges Kettenschwert und rannte los. Der Boden erzitterte unter seinen Schritten.


    Mit voller Wucht ließ der Losseainn seine Waffe auf den Kopf der Bestie niedersausen. Kreischend zogen die Kettenglieder Scharten durch den Panzer, konnte ihn aber nicht durchdringen. Sein Gegner antwortete mit einem Seitwärtsstoß seines Carapax, mit dem er den Space Marine durch die Luft schleuderte. Krachend landete er im Schlamm des Seeufers. Sofort richtete er sich wieder auf. In Sekundenschnelle war der Gliederwurm bei ihm und hob den Vorderkörper an, als wolle er seine Beute anspringen. Der Space Wolf drehte sich zu Seite, parierte den Angriff und trennte eines der langen Vorderbeine ab. Zuckend fiel die Gliedmaße in den Schlamm. Aus dem Stumpf quoll tintenblaue Körperflüssigkeit.


    Das Monster zischte aufgebracht und stapfte zur Seite, griff dann aber noch wütender an. Blitzschnell kreiste es den Space Wolf mit seinem langen, mächtigen Körper ein. Der Krieger ließ sich nicht beirren und konzentrierte sich auf den Kopf der Bestie. In einem erneuten Vorstoß hieb er nach den Greifarmen und trennten einem der beiden die untersten Segmente ab. Im gleichen Moment hob die Kreatur ihr Schwanzende an, ergriff ihren Gegner mit den hinteren Laufbeinen und drückte ihn zu Boden.


    Der Space Marine versuchte sich loszumachen, doch die Vielzahl der Glieder hielten ihn mit eisernem Griff umklammert. Die Kreatur schwang ihren Vorderkörper herum, packte ihn mit den Greifarmen und schob ihn in die kreisrunde Öffnung ihres Maules. Der Ring aus flachen Zähnen schloss sich knirschend und versuchte, die dicken Ceramitplatten der Servorüstung zu zerbrechen. Doch es gelang nicht, die Rüstung des Space Marines hielt stand. Einzelne Zähne splitterten und brachen knackend aus dem runden Kiefer. Das brachte das Ungeheuer jedoch nicht dazu, von seiner Beute abzulassen. Wild schwang es den Kopf hin unter her. Wenige Augenblicke später hatte es den Space Marine in einem Stück verschlungen.


    ***


    Schockiert hatten die Aeldari dem kurzen Kampf zugesehen. Ànathuriel war die erste, die ihre Fassung wiedererlangte. „Lauft!“ schrie sie. Ihre Worte hallten mächtiger in den Köpfen ihrer Gefährten wider als ihre Stimme allein es vermochte. „Lauft, solange der Ath-NaranKuras beschäftigt ist!“


    Die beiden Weltenwanderer rannten los. Firondhir macht sich daran, eilig den Hang zu erklimmen. Margil entschied sich für den kürzesten Weg und lief ins Wasser. Er musste feststellen, dass er sich von der dunkel schimmernden Oberfläche hatte täuschen lassen. Wenige Schritte von Ufer entfernt sank der Seeboden steil in die Tiefe ab. Margil begann zu schwimmen.


    Das Verhängnis des Losseainn hatte ihnen weniger Zeit verschafft, als sie gehofft hatten. Auch die Hoffnung, dass er mit diesem Fang erst einmal genug hatte, zerschlug sich, denn sofort, nachdem er sich seine Beute einverleibt hatte, machte sich der Ath-NaranKuras wieder auf die Jagd. Suchend schwenkte sein Kopf hin und her. Die langen Vorderfüße tasteten den Boden ab.


    ***


    Ànathuriel und Ydrir eilten die Böschung hinauf und versuchte, den Steinkreis zu erreichen. Firondhir war noch ein Stück weiter unten. Margil trieb im tiefen Wasser. Durch einen Gedankenimpuls ließ er den silbernen Helm seines Anzuges sich wie eine Blütenknospe um seinen Kopf schließen. Dann tauchte er unter die Wasseroberfläche, um aus dem Sichtbereich der Bestie zu kommen. Er kämpfte gegen den Auftrieb an, den sein weiter, wasserundurchlässiger Mantel ihm aufzwang. Durch die goldenen Linsen des schwarzen Helmvisiers konnte er erkennen, dass der See die Form eines Trichters hatte, zur Mitte hin steil abfallen, so tief, dass er den Grund nicht ausmachen konnte.


    Während der Weltenwanderer auf das jenseitige Ufer zuhielt, glitt der Wurm in den See. Mit schlängelnden Bewegungen war er nicht minder schnell wie an Land, als wäre das Wasser sein zweites Zuhause. Aber er mied die Tiefe.


    Margil sah sich nicht um. Mit unnachgiebiger Anstrengung behielt er die Richtung bei. Doch sein linker Arm begann, seinen Dienst zu versagen. Mit jedem Schwimmzug nahm der Schmerz zu. Und dabei bleib es nicht. Die Jagd mit dem Rennvogel, die Flucht vor dem Ath-NaranKuras, Erschöpfung machte sich in ihm breit. Trotz der Luftversorgung seines Anzuges konnte er kaum noch atmen.


    Mit Mühe erreicht er das Ufer. Auf den Knien kroch er ins flache Wasser, öffnete den Helm und rang nach Luft. Sein erster Blick galt seinen Gefährten. Ànathuriel und Ydrir hatten den Kamm fast erreicht. Firondhir war kurz hinter ihnen. Dann sah er sich nach seinem Verfolger um. Der Gliederwurm umrundete den Trichter des Sees. Margil verharrte regungslos. Doch das Ungeheuer hielt geradewegs auf ihn zu.


    ‚Das Wasser!‘ schoss es dem blonden Weltenwanderer durch den Kopf. Die Wellen, die das schwimmende Ungetüm vor sich hertrieb, schlugen gegen seinen Körper und wurden zurückgeworfen wie ein Echo, das sein Verfolger wahrnehmen konnte. Der Ath-NaranKuras wusste, wo er war. Und um zu fliehen, reicht seine Kraft nicht mehr. Das Schicksal hatte entschieden. Es war an ihm, zurückzubleiben, und dafür zu sorgen, dass seine Gefährten entkommen konnte. Margil griff nach der Ritualklinge, die er an seinem Oberschenkel trug.


    ***


    Ànathuriel und Ydrir erreichten den Kamm des Kraterrandes. Vor ihnen öffnete sich ein grasbewachsenes Hochplateau. Nur wenige Dutzend Schritte entfernt erhob sich ein niedriger Hügel. Auf seiner runden Kuppe reckte sich der Steinkreis des Tores in den blauen Himmel. Die beiden blickten zurück in dem Moment, in dem Margil das Ufer erreichte. Der Gliederwurm war nicht mehr weit entfernt. Doch der blonde Weltenwanderer kauerte im flachen Wasser und rührte sich nicht. Der Wurm hielt genau auf ihn zu.


    „Lauft weiter!“ drang Firondhirs Stimme zu ihnen hinauf. „Lauft weiter!“


    „Margil!“ rief Ànathuriel. „Der Ath-NaranKuras ist noch auf seiner Spur.“


    Firondhir nahm keine Notiz davon. „Lauft weiter!“ befahl er.


    Doch Ànathuriel blieb stehen, wo sie stand. Zum ersten Mal, sie wusste nicht warum, wanderte ihr Blick in den Himmel. Nur wenig höher als sie selbst schwebten drei Schattenbarken über dem Krater. Konnte sie Quisar in einem der Fahrzeuge erkennen? Oder war es nur eine Einbildung? Was sie jedoch deutlich wahrnahm, war die grässliche Freude ihrer Zuschauer. Abscheu und Zorn stiegen in ihr auf. Irgendetwas musste sie tun. Wenn nicht für Margil, dann gegen die Drukhari. Wenn er jetzt durch die Bestie sein Ende fand, dann wollte sie ihnen wenigsten das Vergnügen daran nehmen. Ihr Herz klopfte. Ihre Fingerspitzen begannen zu kribbeln, als würden sich ihre Kräfte dort sammeln. Sie spürte Ydrirs Hand auf ihrem Arm und ihr war, als strömte ihr Energie von ihm zu.


    „Tu es nicht.“ Sie hörte seine Stimme wie ein entferntes Flüstern. Dann ließ er sie los und war fort. Ànathuriel schreckte auf wie aus tiefen Gedanken. Ydrir hatte sein Gewehr vom Rücken genommen und rutschte mit einer Woge von losem Tuffgestein den Hang hinunter.


    „Ydrir, nein, bleib hier!“ schrie sie und setzte ihm nach. Doch im nächsten Moment war Firondhir bei ihr und hielt sie zurück. Dann zog auch er das Gewehr.


    ***


    Margil hielt den Griff seines Kurzschwerts umklammert, bereit, es seinem Angreifer in den Schlund zu stoßen, sobald er ihm nahe genug war. Mit beinahe friedvoller Gelassenheit erwartete er sein Verderben, das im nächsten Augenblick über ihn kommen musste.


    Unvermittelt zischte der Energiestrahl eines Jagdgewehres an ihm vorbei. Er traf das recht Stielauge der Bestie. Auch die Augen waren von transparenten Chitinplatten geschützt, doch der Treffer lenkte den Gliederwurm von seiner Beute ab. Der nächste Schuss folgt sofort und streifte gleich mehrere der Laufbeine.


    Margil sah auf. Ydrir kniete am unteren Drittel des Abhanges, das Gewehr im Anschlag, und legte jetzt zum dritten Mal auf das Untier an.


    „Was tust du, du Narr?“ herrschte Margil den jungen Weltenläufer an.


    „Was du auf der Brücke getan hast“, entgegnete Ydrir.


    Der Gliederwurm änderte seine Richtung. Margil kam schwerfällig wieder auf die Beine und stolperte aus dem Wasser heraus. Doch nach wenigen Schritten gaben seine Knie schon wieder nach. Ydrir ließ das Jagdgewehr fallen und hastete los, weg von Margil, weg von dem Abhang. Wieder zischten Schüsse durch die Luft. Firondhir stand weiter oben am Hang und feuerte. Mit der ihm eigenen Präzision traf er die Beine des Ungeheuers. Doch jetzt ließ es sich dadurch nicht mehr von der sicheren Beute abbringen.


    Ydrir war dem Ath-NaranKuras zu nah gewesen, als er die Flucht ergriffen hatte. Nach kurzer Verfolgung hatte die Bestie ihn erreicht, umschlang den Jungen mit den Greifarmen und zog ihn in die Höhe. Die kurzen Hornstacheln bohrten sich in die Rüstung. Zu durchdringen vermochten sie sie nicht, doch das Gewebe verhärtete sich unter der Vielzahl einzelner Druckstellen zu einem festen Ring, der Ydrirs Brustkorb einschnürte. Er konnte kaum mehr Atem holen. Dann sah er den Kreis aus zerbrochenen Zähnen vor sich und in dessen Mitte den schwarzen Schlund der Bestie. Mit einem letzten Gedanken schloss er seinen Helm, ehe ihn die Finsternis umgab.


    ***


    Voll Wut und Entsetzen schrie Ànathuriel auf. Wut auf ihre eigene Handlungsunfähigkeit. Und Wurt auf die Drukhari, die hierfür verantwortlich waren. Firondhir wollte sie festhalten, um sie davon abzuhalten, etwas Unheilvolles zu tun, aber der psionische Widerhall ihres Gefühlsausbruchs stieß ihn zurück. Sie entwand sich seinem Griff und stolperte den Abhang hinunter, doch im nächsten Moment hatte er sie wieder ergriffen und nahm sie fest in die Arme, nicht sicher wissend, ob er sie zurückhalten wollte, oder selbst bei ihr Halt suchte.


    „Es ist vorbei“, sagte er mit erstickter Stimme. Er hatte den Jungen beschützen wollen, doch wieder hatte er versagt, wie bei Illurayon. Jetzt blieb nur noch eins. „Du kannst nichts mehr tun. Wir müssen hier weg, oder uns widerfährt das gleiche. Komm mit mir!“


    Ànathuriel versuchte immer noch, sich von ihm loszumachen. Wenigstens die Drukhari sollten dafür bezahlen, und wenn es das letzte war, was sie tat. „Komm mit mir!“ Firondhirs Stimme erklang wie aus weiter Ferne. In ihr lag etwas Flehendes. „Ich will dich nicht verlieren, nicht an den Ath-NaranKuras und nicht an Sie, die Dürstet. Du bist das Einzige, was mir noch bleibt.“ Die Worte trafen Ànathuriel tief in ihrem Inneren, unerwartet, einen Funken der Freude in ihren Zorn setzend. Sie gab ihren Widerstand auf und ergriff Firondhirs Hände. Doch sich von Margil abzuwenden, der immer noch um sein Leben kämpfte, brachte sie nicht fertig.


    ***


    Margil wankte dem Abhang entgegen, obwohl er wusste, dass er den Aufstieg nicht mehr schaffen würden. Erschöpft drehte er sich nach dem Untier um, das, offensichtlich immer noch nicht satt, sich nun wieder ihm zuwandte. Bald konnte er Ydrir Gesellschaft leisten. Er sank auf die Knie und wartete, die Ritualklinge fest in der Hand. Hoch über sich glaubte er, das begeisterte Johlen der Drukhari zu vernehmen. Doch sie kümmerten ihn jetzt nicht mehr. Wenn das Geschick es wollte, würden ihre Seelenstein irgendwann den Weg nach ZarAsuryan und ihre Seelen Ruhe in der Unendlichkeitsmatrix des Weltenschiffes finden. Auf jene dort oben wartete nur Sai'lanthresh.


    Der Ath-NaranKuras war nur noch wenige Schritte entfernt. Mitten im Ansturm durchlief ein Zucken seinen langen Körper, die wogenden Beine kamen aus dem Rhythmus. Schon im nächsten Moment hatte das Tier seine Glieder wieder unter Kontrolle. Doch ein weiterer Anfall folgte augenblicklich und umso heftiger. Der Wurm zischte laut, krümmte und streckte sich wie in Krämpfen, warf sich auf die Seite und landete dabei im flachen Wasser. Seine unkontrollierten Windungen und zappelnden Beine wühlten das Ufer auf. Das schlammige Wasser spritzte in die Höhe, wie es es bei seinem ersten Auftauchen getan hatte. Die Bestie bäumte sich noch einmal heftig auf und drehte sich dabei einmal über den Rücken. Dann sank ihr Vorderkörper in das tiefere Wasser und sie lag still.


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    [1] Angaur: die Bestimmung; b’fheidir: möglicherweise; harakh: führen; iem: uns; liram: Heim

  • Kapitel 16

    Konfrontation

    Sprachlos starrte Margil auf die reglose Kreatur. Endlose Sekunden dauerte es, bis er begriff, was eben geschehen war. Das Ungeheuer war tot. Wie, dafür hatte er keine Erklärung. Das eben noch aufgewühlte Wasser beruhigte sich, schwankte nur noch platschend gegen die schwarzglänzenden Panzerplatten. Tiefe Stille herrschte, in der nicht einmal der Wind zu hören war. Während er noch wie erstarrt dasaß, breitete sich eine tiefblaue Flüssigkeit wie Tinte um den Kadaver herum aus. Dann durchbrach ein Körper die Wasseroberfläche. Reglos trieb er im flachen Wasser, umwogt von zerrissenen schwarzen Stofffetzen. Jäh sprang Margil auf, und stolperte ins Wasser.


    „Kommt her, helft!“ schrie er seinen Freunden zu. Firondhir und Ànathuriel, die ungläubig das Geschehen verfolgt haten, liefen los, rutschten den Abhang hinunter und waren nur Augenblicke später an seiner Seite.


    Firondhir half Margil ans Ufer und ließ ihn sich hinsetzen. Dann folgte er Ànathuriel, die bereits im tieferen Wasser war. Gemeinsam zogen sie den Reglosen an Land. Ein zäher, bläulicher Schleimfilm hüllte ihn ein wie ein Kokon. Ànathuriel befreite ihn davon und zerrte dabei den zerrissenen Mantel herunter. Firondhir berührte eine Wölbung an der Seite des silbernen Helmes, der sich daraufhin auffaltete und wie ein Kragen um den Hals legte.


    Ydrirs Gesicht war blass und ausdrucklos, seine Augen geschlossen. Firondhir beugte sich über ihn. Sein Blick fiel auf den goldgefassten Wegstein auf der Brust des jungen Weltenläufers. Der Stein schimmerte matt in dunklem orange. Ydrir atmete schwach, aber jeder Atemzug wurde tiefer. Schließlich schlug er die Augen auf. Er sah seine Freunde an und lächelte matt. Ànathuriel schlug die Hände vors Gesicht und stieß einen gedämpften Freudenschrei aus. Am liebsten hätte sie ihn in die Arme geschlossen, doch sie wusste, Enge war das letzte, was er jetzt ertragen konnte. Margil, neben ihm sitzend, legte ihm Hand auf die Schulter. Er war immer noch sprachlos, doch sein Gesicht zeigte ein dankbares, stummes Lachen.


    Mühsam versuchte Ydrir, sich aufzusetzen. Ein heftiges Zittern überkam ihn. Er begann wie in Panik nach Luft zu schnappen. Firondhir stütze ihn. Der Junge klammerte sich Halt suchend an seinen Armen fest und lehnte sich gegen seine Brust.


    „Es ist vorbei, du hast es überlebt, Ydrir“, sagte Firondhir beruhigend. „Hast du Schmerzen? Bist du verletzt?“ fragte er, während er Brust, Rücken und Glieder des Jungen abtastete. Ydrir schüttelte den Kopf.


    Derweil fand Margil seine Sprache wieder. „Wie hast du das nur geschafft, Junge?“ stieß er hervor.


    Ydrir hustete, bevor er mit heiserer Stimme antworten konnte: „Nicht ich. Der Losseainn.“


    Die drei Aeldari verstummten vor Staunen. Ànathuriel begriff als erste. Sie eilte zum Kadaver des Ath-NaranKuras, der schon halb im tieferen Wasser versunken war. Zwischen zwei Gliedern des langen Hinterleibs klaffte ein tiefer Spalt. Nachtblaue Körperflüssigkeit quoll daraus hervor. Die Öffnung war grade groß genug, um einen Aeldari freizugeben. Doch im nächsten Moment brach der Panzer auf und der Leib der toten Bestie wurde nahezu in zwei Teile gerissen.


    In einem Schwall blauen Schleims wälzte der Losseainn sich aus den Überresten und richtete sich schwerfällig auf. Tiefe Scharten waren in die graublauen Platten seiner Rüstung gegraben. Der geflügelte Goldschädel auf seiner Brust war kaum mehr als solcher zu erkennen. Das Voxgitter seines Helmes troff vor Schleim, so dass er ihn abnahm. Wie ein Hund schüttelte er den Kopf, sein strähniges, blondes Haar flog in alle Richtungen und stand dann wirr von seinem Haupt ab. Die gelben Augen funkelten die Aeldari an. Nur eine Armlänge entfernt stand sie ihm gegenüber, zierlich und zerbrechlich wie eine Puppe. Er überragte sie um mehrere Köpfe. In einer Hand hielt er noch sein langes, breites Kampfmesser. Mit einer einzigen Bewegung könnte er sie töten. Firondhir erhob sich und griff nach seinem Gewehr, doch Ànathuriel hielt ihn mit einer Geste zurück. Sie blickte dem Krieger direkt ins Gesicht. Worte formten sich in ihrem Geist, ob aus dem Gedächtnis des Losseainn oder von anderswo her, vermochte sie nicht zu sagen.


    „Takk fyrir hjálpina, járn bardagamður[1]“, sprach sie sie aus.


    Der Space Marine hob die Augenbrauen, verwundert, dass die Eldar-Frau ihm in der Sprache seiner Heimatwelt dankte. Die Geste anerkennend, antwortete er: „Wenn du über meine Taten sprichst, Wolfsbändigerin, dann nenn meinem Namen dabei.


    Dann sag ihn mir“, entgegnete Ànathuriel.


    Er zögerte kurz. „Bjarne.“


    „Bjarne, TillAthNaranKuras[2]. Ohne deine Hilfe wären meine Freunde gestorben. Ich danke dir von ganzem Herzen.


    Der Space Wolf nickte mit einem kurzen, tiefen knurren. Dann steckte er das Messer weg und sah sich kurz um. Er griff ins Wasser und holte sein Schwert herauf. In den Zähnen hingen Fetzen von Innereien und Panzerstücken des Gliederwurms. Doch die Kette war gerissen und hing nutzlos aus dem Gehäuse. Wortlos hakte er die Waffe an seinem Gürtel ein. Dann wandte er sich wieder der Eldar zu.


    Du hast gesagt, du kennst einen Weg fort von hier?


    Ànathuriel nickte.


    Dann führ mich dahin.


    ***


    So schnell sie konnten, erklommen die Fünf den Kraterhang. Trotz dem, was er durchgemacht hatte, konnte Ydrir laufen. Dennoch blieb Ànathuriel an seiner Seite. Margil aber war immer noch so abgekämpft, dass er kaum mithalten konnte. Mehrmals musste Firondhir ihm aufhelfen – bis Bjarne die Geduld verlor und sich kurzerhand den blonden Aeldari, ungeachtet dessen Protesten, unter den Arm klemmte. Immer wieder drehte Ànathuriel sich um und schaute in den Himmel. Die Schattenbarken waren verschwunden. Von der Kabale war weder etwas zu sehen noch zu hören, bis auf die Jacht, die auf der gegenüberliegenden Seite der Kraterkette drohend, aber reglos in der Luft stand. Trotzdem konnte sie nicht glauben, dass Quisar sie einfach so ziehen lassen würde. Sie war froh, dass es ihr am Ende doch gelungen war, den Losseainn zu ihrem Verbündeten zu machen. Seine wilde Entschlossenheit und kolossale Kampfkraft würden sie noch nötig haben.


    Sie sollte rechtbehalten. Die kleine Truppe erreichten den Kamm der Kraterböschung und überquerten den schmalen Grasstreifen zwischen der Senke und dem Hügel. Als sie den Steinkreis betraten, wurden sie bereist erwartet.


    Zwei Dutzend oder mehr Kabalenkriegern trat hinter den Stelen hervor. Ihre Rüstungen schimmerten im Sonnenlicht des späten Nachmittags in grün und orange, tiefblau und violett, wie der Panzer und das Blut des Ath-NaranKuras. In den Visieren der hohen Helme glühten purpurrote Augen. Die Krieger richteten ihre goldglänzenden Splittergewehre auf die Flüchtigen und schlossen einen Kreis um sie, während sie sich ohne Eile näherten.


    Die Asuryani und der Space Marine drängten sich Rücken an Rücken aneinander. Firondhir nahm das Jagdgewehr in Anschlag, Margil und Ydrir hatten noch ihre Shurikenpistolen. Ànathuriel griff nach der Hekatari-Klinge. Doch jeder einzelne von ihnen war sich im Klaren, dass sie dieser großen Zahl von Gegnern nichts entgegenzusetzen hatten. Stummes Einverständnis herrschte zwischen ihnen. Ohne Gegenwehr würden die Drukhari ihrer nicht mehr habhaft werden.


    Die Kabalenkrieger blieben stehen, unternahmen aber nichts. Endlose Augenblicke angespannter Stille folgten, bis Bjarne nicht mehr an sich halten konnte und wollte. Er riss sein Kampfmesser aus der braunen Lederscheide, stieß ein wildes Heulen aus und stürzte sich auf die ihm nächsten Drukhari. Zwei der Krieger wurden schon durch den bloßen Ansturm des mächtigen Space Marines in den Boden getrampelt. Einen dritten spießte er mit dem Messer auf, hob ihn die die Höhe und warf den erschlafften Körper auf dessen Kameraden. Die übrigen Kabaliten waren nicht so unvorsichtig, sofort eine direkte Konfrontation mit dem Losseainn zu wagen, sprangen auf Distanz und eröffneten mit ihren Splittergewehren das Feuer.


    Ein Hagelsturm aus vergifteten Splittergeschossen gingen auf den Space Wolf nieder. Die meisten der Projektile prallten an seiner Ceramitrüstung ab oder blieben in den Platten stecken. Doch etliche trafen sein Gesicht wie die Stiche eine Hornissenschwarms. In der ungestümen Kampfeslust eines Blutwolfes hatte Bjarne den Fehler begangen, seinen Helm nicht rechtzeitig aufzusetzen. Er verfluchte seine Leichtsinnigkeit. Das Gift der Xenos-Waffe tat bereits seine Wirkung mit brennenden Schmerzen und beginnenden Lähmungen im ganzen Körper. Mitten im Kampf konnte Bjarne es sich nicht erlauben, das Bewusstsein zu verlieren, um sein Blut sofort zu entgiften. Ihm blieb nichts anderes übrig, als seinen Angriff zu unterbrechen und den Helm aufzusetzen, damit nicht noch mehr der toxischen Substanzen in seinen Organismus gelangten.


    Wie er erwarten mussten, nutzten seine Gegner die Schwäche augenblicklich aus. Mit der unnatürlichen Geschwindigkeit ihrer verderbten Spezies stürmten die Drukhari heran. Nur wenigen Sekunden, dann hatte er den Helm aufgesetzt und verschlossen, doch sie genügte einem der Xenos, ihm sein Messer durch das ungepanzerte Hüftgelenk des rechten Beines in die Leiste zu stoßen. Die Wunde würde sich in kürzester Zeit schließen, doch war er in seiner Bewegung für eine gewisse Zeit eingeschränkt. Der Space Wolf brüllte wütend, packte den Angreifer am Hals und brach ihm mit der bloßen Faust das Genick. Doch schon waren die nächsten heran und gingen den hünenhaften Krieger an wie eine Hundemeute auf Bärenjagd.


    ***


    Die nahezu unüberwindbare Gegenwehr des Space Marines zog die Kampfkraft der meisten Kabalenkrieger auf sich. Dennoch konnten sich die Asuryani ihrer Angreifer kaum erwehren. Die IstuKarun waren auch mit den Pistolen hervorragende Schützen. Ein Teil der hauchdünnen Projektilscheiben der Shurikenpistolen durchdrangen die Kabalenrüstungen, etliche prallten jedoch ab oder blieben stecken, trieben die Angreifer einige Schritte zurück, hielten sie aber nicht auf., Im nächsten Moment waren sie wieder näher als zuvor. Trotz allen Könnens, die Schussfrequenz ihrer Waffen war schlicht zu gering, um genug Schaden anzurichten. Bisher hatten sie nicht mehr als drei oder vier Krieger so ausschalten können. Und die Magazine würden nicht ewig reichen.


    Firondhir hatte es aufgegeben, das Gewehr zu benutzen, die Gegner waren zu nah und zu viele. Margil hatte ihm seine Pistole in die Hand gedrückt und seine Ritualklinge gezogen. Er und Ànathuriel wehrten die Kabaliten im Nahkampf ab, so gut sie es vermochten. An Geschick war er der Bestienmeisterin dabei deutlich überlegen, parierte in Augenblickes Schnelle die zustoßenden Klingen der Kabaliten. Doch die kurze Atempause zuvor hatte ihm nur wenig Erholung verschafft und seine Gegenangriffe wurden zunehmend schwächer.


    Keiner der Kabalenkrieger gab indes auch nur einen Schuss auf die Asuryani ab. Die vier wussten, was dies zu bedeuten hatte. Quisar wollte sie nicht tot sehen, noch nicht. Umso verbissener und verzweifelter setzten sie sich zur Wehr. Doch ihre hoffnungslose Unterlegenheit zeichnete sich schon nach kürzester Zeit ab.


    In einem freien Moment sah Ànathuriel sich nach Bjarne um. Selbst der mächtige Space Wolf schien Mühe zu haben, seiner Angreifer Herr zu werden. Und es machte nicht den Eindruck, als würde der Archon viel Wert auf dessen Leben legen. Dann sah sie ihre Freunden einem nach dem anderen ins Gesicht.


    Margil war erschöpft, aber entschlossen. Ydrir nicht minder, doch seine Furcht konnte sie deutlich zu spüren. Firondhir jedoch umgab eine seltsame, finstere Aura aus Zorn, Mordlust und Todessehnsucht. Jeden einzelne Drukhari, den er niedersteckte, ließ er büßen für das, was sie ihnen angetan hatten, bis er selbst von ihnen niedergemacht werden würde. Ànathuriel erschauerte bis tief in ihre Seele.


    Auf einmal wusste sie, was sie zu tun hatte. Die Eingebung kam von irgendwo her, vielleicht aus ihrem Unterbewusstsein, sie konnte es nicht sagen. Aber sie wusste, dass es funktionieren würde. Es musste.


    Sie ließ ihre Klinge sinken, schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Vor ihren inneren Augen zeichnete sich ein Bild der Umgebung ab, silbrig und verschwommen, wie aus Nebel geformt. Sie sah ihre Freunde wie strahlende, weiße Flammen, selbst Bjarne, wenn auch weniger hell. Sie sah die Öffnung zum SercamBelach, eine bernsteinfarben glühende Sphäre in der Mitte des Steinkreises. Und sie sah die Drukhari. Ihre Seelen schwelten in schwarzer Leere. Der Anblick versetzte sie in Schrecken.


    Ein leichtes Kribbeln zog Ànathuriels Schläfe hinauf. Ihr Herzschlag wurde stärker. Die Schatten flossen dicht um sie zusammen. Die weißen Flammen flackerten, als wehrten sie sich dagegen, von der Schwärze erstickt zu werden. Sich selbst jedoch fand sie eingehüllt in einen schützenden, goldenen Mantel aus Licht. Nichts konnte ihr etwas anhaben. Wenn eben noch Furcht dagewesen war vor dem, was sie tun würden, war sie jetzt verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Ihr war, als würde sie in dem goldenen Licht schweben.


    Ànathuriel lenkte ihren Geist auf die finstern Schemen. Irgendwo aus weiter Ferne hörte sie eine furchtvolle Stimme ihren Namen rufen. Sie glaubte, dass es Firondhir war, und sah sich nach ihm um. Eine andere Stimme, wortlos, tief aus ihrem Inneren, bestärkte sie, nicht abzulassen. Dann spürte sie eine vertraute Berührung, wie schon einmal, vor noch nicht allzu langer Zeit, die ihr Kraft zufließen ließ. Alles war richtig. Alles würde gut ausgehen. Dann ließ sie ihren Geist frei.


    ***


    Ein halbes Dutzend Kabalenkrieger hatten Bjarne niedergerungen. Sie zerrten ihm den Helm vom Kopf. Ihr Sybarit schwang theatralisch seine Energieschwert, um für sich das Vergnügen in Anspruch zu nehmen, dem Chem-Pan-Sey den Todesstoß zu versetzen. Die übrigen Kabaliten schlossen ihren Kreis um die Asuryani. Margil musste seine Klinge mit beiden Händen festhalten, um den Schlag eines Drukhari abzufangen. Trotzdem zwang der Krieger ihn auf die Knie. Zwei ergriffen Firondhir und wanden ihm die Pistole aus der Hand.


    Dann wurden er und Ydrir der Veränderung gewahr, die mit Ànathuriel vor sich gegangen war. Wie in Trance stand sie mitten im Kampfgeschehen, ungerührt von allem, was um sie herum vor sich ging. Im selben Moment erkannten der Weltenläufer und der Weltenwanderer, was sie zu tun im Begriff war. Wie wahnsinnig kämpfte Firondhir gegen seine Gegner an, versuchte sich loszureißen, zu ihr zu gelangen, sie aufzuhalten. Er schrie sie an, doch sie reagierte nicht. Ydrir dagegen, der direkt neben ihr stand, ergriff ihr Hand.


    Eine Welle aus psionischer Energie flutete über die Hügelkuppe hinweg, unsichtbar und lautlos, doch jeder, selbst der Space Marine, konnte sie spüren. Sie umfloss die Asuryani wie ein kühler, erfrischender Windhauch an einem schwülen Sommertag. Die Drukhari jedoch ließen ihre Waffen fallen und griffen sich unter schrillen Schmerzensschreien an ihre Köpfe. Jene, die ohne Helme in den Kampf gegangen waren, verzerrten die Gesichter zu grauenvollen Grimassen. Dunkles Blut floss ihnen aus Augenwinkeln, Nasenlöchern und Ohren.


    Den drei IstuKarun stockte der Atem. Um sie herum brachen die Kabalenkrieger einer nach dem anderen zusammen. Manche rührten sich noch einige Augenblick oder wälzten sich stöhnend am Boden, andere lagen mit grausig aufgerissenen Augen und Mündern starr zu ihren Füßen.


    Bjarne erhob sich. Seine Bezwinger glitten von ihm ab wie Kleidungsfetzten. Nur der Sybarit regte sich noch, doch der Space Marine macht dem mit einem verächtlichen Fußtritt auf den Schädel ein Ende.


    Margil richtete sich schwerfällig auf. Er und Firondhir wandten sich Ànathuriel zu. Sie stand kerzengrade mit erhoben Haupt und leicht abgespreizten Armen inmitten der gefallenen Kabaliten. Ihre abgeschnittenen, halb kastanienbraunen, halb purpurroten Haare schienen sich wie in einem leichten Wind zu bewegen. Ydrir war neben ihr, den Kopf gesenkt wie in tiefer Andacht, und hielt ihre rechte Hand mit seinen umschlossen. Dann, ohne vorherige Anzeichen, sank sie ohnmächtig nieder. Ydrir fing sie auf.


    ________________________________________________

    [1] Isl.: Danke für deine Hilfe, Eisenkrieger.

    [2] Till: Töter

  • Kapitel 17

    Firondhir

    Ein verzweifelter Schrei entfuhr Firondhir. Er stürzte zu den beiden hinüber und fiel neben Ànathuriel auf die Knie. Ihr Kopf ruhte auf Ydrirs Schoß. Der jungen Weltenläufer hielt ihn zwischen seinen Händen. Sie hatte die Augen geschlossen, ihre Züge waren seltsam ruhig und ausdruckslos. Firondhir strich mit den Fingern über ihr Gesicht. Die Haut war blass und wie mit einer dünnen Schicht aus Eis überzogen. Dann bemerkte er ein rötliches Leuchten unter ihrem Mieder. Vorsichtig zog er den Stoff auseinander. Auf ihrer Brust lag Illurayons Wegstein. Er pulsierte in einem gleichmäßigen, rotorangenen Licht wie ein Herzschlag. Verwundert streckte Firondhir seine Hand danach aus, doch Ydrir hielt sie zurück. „Berühre ihn nicht an“, sagte er hastig.


    „Was passiert mit ihr?“ stieß Firondhir mit erstickter Stimme hervor.


    „Ich kann es nicht sage“, antwortete Ydrir ruhig. „Aber es hat seine Richtigkeit. Lass es geschehen.“


    Firondhir erstarrte. Eine schmerzliche Erinnerung durchfuhr ihn. Dies waren die letzten Worte gewesen, die Illurayon zu ihm gesprochen hatte. „Du hast den Geisterblick. Sag mir, was mit ihr passiert!“ fuhr er den Jungen mit einer bitteren Mischung aus Zorn und Verzweiflung an. Margil war hinter ihn getreten und legt ihm beschwichtigend die Hand auf die Schultern. Firondhir schluchzte und ließ den Kopf auf die Knie sinken.


    Ein helles, eisiges Lachen ertönte. Es ließ Firondhir das Blut in den Adern gefrieren, noch bevor er sich nach dem Urheber umgedreht hatte. Hinter einer Stele des Steinkreises trat der junge Prinz von DorchaKerun hervor. Das Rudel der Felchu tänzelte erregt um ihn herum. In einiger Entfernung auf der Hochebene sammelten sich weitere Kabalenkrieger. Schattenbarken schwebten knapp über dem Boden, um ihre Passagiere abzusetzen.


    ***


    Die ganze Zeit hatte Bjarne abseitsgestanden und die Szene beobachtet, unschlüssig, ob und wie er reagieren sollte. Die Hexenkünste der Eldar-Frau waren ihm zutiefst verhasst. Dennoch musste er sich eingestehen, dass sie nicht nur ihre Gefährten, sondern auch ihn damit gerettet hatte. Und er blieb ungerne etwas schuldig. Das Auftauchen des Drukhari-Anführers holte ihn in sein antrainiertes Verhalten zurück. Er hob sein Kampfmesser und ging auf den Xenos los.


    Quisar lächelte amüsiert, als er den grobschlächtigen Chem-Pan-Sey durch die Leichen der Kabalenkrieger auf sich zu trampeln sah. Gelassen blieb er stehen und schnippte mit den Fingern. Die Felchu hatten nur auf das Kommando gewartet. Augenblicke später hatten sie ihre Beute erreicht und fielen über den Space Marine her. Die schiere Wucht ihres Angriffs brachte den angeschlagenen Krieger ins Straucheln. Brüllend packte er eines der Tiere nach dem anderen am Kragen, riss sie von sich und schleuderte sie zu Boden. Doch die Falkenhunde kannten ihr Handwerkt. Wie schon zuvor rappelten sie sich immer wieder auf und griffen erneut. Ihre Schnäbel und Klauen zielten auf Kniekehlen, Ellenbogen und Leiste, als wüssten sie, welche Stellen der schweren Rüstung ihres Gegners die schwächsten waren. Gewandt wichen sie den Griffen seiner breiten Hände und Stößen des Messers aus.


    Quisar beobachtete das Spiel eine Weile, dann begann es ihn zu langweilen. Schließlich war er nicht wegen des Chem-Pan-Seys hier. Während der Losseainn noch mit den Falkenhunden rang, holte Quisar mit seiner Peitsche aus und traf den Kopf des Space Marines. Die Waffe schlang sich um seinen Hals. Reflexartig griff Bjarne zu und versuchte, das Band zu entfernen. Doch der Peiniger entfaltete seine Wirkung und jagte bioelektrische Impulse in sein Nervensystem. Unvorstellbare Schmerzen, selbst für einen Space Marine nicht auszuhalten, durchfluteten seinen Körper. Er verlor die Kontrolle über seine Servorüstung, so dass auch sie ihn nicht mehr aufrechthalten konnte. Wie in Zeitlupe brach der gepanzerte Riese zusammen.


    Dann wandte Quisar sich den Asuryani zu. Zufrieden lächelnd betrachtete er die Szene: die gefallene Bestienmeisterin, die kummervollen Gesichter ihrer Freunde, ein angenehm bitteres Bukett aus Trauer und Verzweiflung.


    „Ich habe eurer Freundin ein Versprechen gegeben“, hob er süffisant an zu sprechen. „Es war ihr ein dringender Wunsch, dass meine von ihr so geliebten Felchu bei der Jagd nicht außenvor bleiben. Und dieses Versprechen gedenke ich jetzt einzulösen. Wie bedauerlich, dass sie es nicht mehr miterleben kann.“ Er gab den Tieren das Zeichen.


    Doch es geschah nicht das, was er im Sinn hatte. Prüfend legte das rotgefiederte Leittier den Kopf zur Seite. Einige Male schaute Arithav zwischen dem Archon und den IstuKarun hin und her. Dann sammelte er mit einem kehligen Schrei sein Rudel um sich und mit federnden Schritten trabten sie zu den Asuryani herüber. Margil und Firondhir hatten sich schon bereit gemacht, ihre letzten Kräfte aufzuwenden, um sich gegen die Falkenhunde zu verteidigen. Doch die Tiere blieben im Halbkreis mit wachsam aufgerichteten Ohren vor ihnen stehen.


    Verblüfft stand Quisar da, allein inmitten seiner gefallenen Krieger. Er brüllte den Felchu Befehle zu, aber die Tiere reagierten nicht auf seine Worte. Der rotfedrige Arithav schaute mit schräggelegtem Kopf erst Firondhir an, dann an ihm vorbei zu Ànathuriel, dann wieder zu dem Weltenwanderer.


    Ruhig blickte Firondhir dem Jagdfalken in die Augen, hob beschwichtigend die Hand und sagte: „AmUiaddra.“ Der Felchu zwinkerte kurz mit den großen, goldgelben Augen. Dann wandte er sich ab und sprang davon. Die anderen folgten ihm. Wenige Augenblicke später waren die Tiere im hohen Gras des Hügellandes verschwunden.


    Quisars Fassungslosigkeit wandelte sich in Zorn und Hass. „Erbärmlicher Asuryani, was bildest du dir ein!“ kreischte er. „Ihr kommt hier nicht lebend davon, und wenn ich jeden einzelnen von euch eigenhändig umbringen muss.“ Er ließ den Peiniger knisternd durch die Luft fahren und setzte zum Angriff an.


    Firondhir sah Quisar an, sah das arrogante, wutverzerrte Gesicht des blonden Drukhari-Prinzen. Die Finsternis, die Ànathuriel zuvor in seinem Geist gespürt hatte, brach sich nun Bahn. Unbewaffnet wie er war, stürzte er sich dem Archon entgegen.


    Margil schrie erschrocken auf: „Du Narr, was tust du!“ Hastig wandte er sich Ydrir zu. „Bring sie in Sicherheit“, befahl er mit Blick auf Ànathuriel. Der junge Weltenläufer nickte. Behutsam hob er die Bewusstlose auf, sorgsam darauf achtend, den immer noch pulsierenden Seelenstein dabei nicht zu verlieren. Einige Schritte entfernt erkannte er eine runde Steinplatte im Boden. Er trat auf die flache Stufe und las die Rune, die im Boden eingegraben war: SercamBelach, das Netz der Tausend Tore.


    Sein Gedanke allein genügte. Die Spitzen der Stelen glühten auf. Streifen aus goldenem Licht flossen die Steinsäulen hinunter und wie die Speichen eines Rades auf das Zentrum des Kreises zu. Gleichzeitig erreichten sie die Steinplatte. Die Rune leuchtete auf und im nächsten Augenblick hüllte eine Kugel aus bernsteinfarbenem Licht den Weltenläufer ein. Wie durch goldenes Glas sah er, wie Margil mit dem Schwert in der Hand Firondhir nachstürzte und dabei einen schrillen, markdurchdringenden Kampfschrei ausstieß.


    ***


    Quisar lachte infernalisch, als er den schwarzhaarigen Asuryani mit wehendem Mantel auf sich zustürmen sah. Er holte mit dem Peiniger aus und ließ die knisternde Peitsche einen weiten Bogen beschreiben. Doch sie verfehlte ihr Ziel. Firondhir hatte immer noch genug Geistesgegenwart, um der Waffe seines Gegners auszuweichen. Mit den nächsten Schritten hatte er den Drukhari erreicht und sprang ihn an, um ihm mit bloßen Händen an die Kehle zu gehen.


    Die kampferprobten Reflexe des Prinzen jedoch waren dem wutentbrannten Ansturm des Weltenwanderers überlegen. Herablassend mühelos glitt der Archon zur Seite und ließ den Angriff seines Gegners ins Leere gehen. Firondhir strauchelte zwischen den Leichen der Kabalenkrieger. Ehe er sich fangen konnte, ließ Quisar den Peiniger in einem erneuten Schlag über seinen Rücken fahren. Sein Anzug hielt nur einen Teil der Wirkung ab. Ein heftiger Schmerz schoss durch Firondhirs Wirbelsäulen, warf ihn vollends zu Boden und hallte wie ein Echo in seinem Rückenmark nach. Wie betäubt blieb er liegen.


    Quisar holte die Peitsche ein, befestigte sie am Gürtel und zog sein Messer. Dann trat er an den Asuryani heran, griff in seine langen, schwarzen Haare und riss seinen Kopf nach oben.


    „Du bist die Mühe nicht wert, Eshairr“, flüsterte er Firondhir ins Ohr. „Sei dankbar, denn du und deine Liebste dürft Ihr, die Dürstet, gemeinsam gegenübertreten.“


    Ein gellender, durch Mark und Bein gehender Schrei ließ Quisar zusammenfahren. Beinahe wäre ihm seine Waffe entglitten. Mit wehender blonder Mähne sprintete der andere Asuryani ihm entgegen, in der Hand ein gebogenes, verziertes Kurzschwert. Den schwarzen Mantel der IstuKarun hatte er abgeworfen. In seinem ultramarinblauen, gepanzerten Anzug erschien er wie ein tatsächlicher Aspektkrieger.


    Quisar ließ den Kopf des Weltenwanderers fahren. Erwartungsvoll lächelnd richtet der Drukhari-Prinz sich auf und hielt dem Angreifer wie zur Antwort auf seine Herausforderung die Klinge entgegen. Gekonnt parierte er die ersten drei Schläge, mit denen sein Gegner angriff. Dann sprang er einen Schritt zurück und verharrte in Abwehrhaltung.


    „Die Ritualklinge eines Rächers Asuryans“, stellte Quisar amüsiert fest. „Ich glaube, mit dieser werde ich ein Dutzend voll haben.“


    Margil enthielt sich jeder Antwort. Er ließ das Kurzschwert in der Hand kreisen und beobachtete aufmerksam jede Bewegung seines Gegners. Jetzt war es der Drukhari, der den Angriff ausführte. Mit blitzartiger Geschwindigkeit tauschten die beiden Aeldari Schlag um Schlag aus. Margil begann die Schwäche seines linken Armes wieder zu spüren. Er kannte seine eigenen Fähigkeiten sehr genau, und sie waren denen eines Archons nicht gewachsen. Dass er überhaupt noch stand, ließ sich nur durch eins erklären: der Drukhari spielte mit ihm. Sollte er. Je länger, umso mehr Zeit verschaffte er seinen Freunden.


    Doch Quisars Interesse begann bereits zu schwinden. Die Kampfkünste der Aspektkrieger waren ihm allzu vertraut, und dieser hier hatte den Pfad wohl schon eine längere Zeit hinter sich gelassen. Er und Sirqa dagegen hatten die Kunst der Klinge schon als Kinder beherrscht, gelehrt von ihrer Mutter, als sie noch eine einfache Syren gewesen war.


    „Du enttäuschst mich, EsikCaman“, sagte der Archon. „Ich hatte mir mehr Vergnügen von dir erhofft.“


    Die schmähenden Worte verfehlten ihr Ziel nicht. Einen Moment fühlte Margil Zorn in sich aufwallen. Doch er besann sich auf die Tugenden der Rächer Asuryans und klärte seinen Geist. Er kämpfte nicht aus Stolz und Freude wie der arrogante Prinz, er hatte einen Auftrag zu erfüllen. Der Drukhari sollte bekommen, wonach ihm verlangte. Als hätte er sich von seinen Worten provozieren lassen, startete Margil einen weiteren Angriff, wilder als zuvor.


    Quisar lächelte zufrieden. Der Asuryani verlor seine Beherrschung. Er brauchte nur noch einen Fehler abzuwarten, durch den er dem Möchtegern-Krieger seine Überlegenheit vorführen konnte, indem er ihm seine Ritualklinge entwinden und sie sein Herz stoßen würde - nur so tief, dass er zusehen konnte, wie er seinem Freund das verhasste Gesicht abzog und ihm die Kehle durchschnitt, ehe er verblutete. Doch er hatte sich getäuscht. Jeder Schlag seines Gegners, Angriffe wie Paraden, war von höchster Präzision. Der Weltenwanderer bot dem jungen Archon keine Gelegenheit. Seine Geschwindigkeit allerdings ließ nach. Offensichtlich gelangte der Asuryani ans Ende seiner Kräfte.


    Grade standen die beiden Streiter sich mit gekreuzten Klingen eng gegenüber, als Quisar seine freie Hand vorschnellen ließ. Margils Reflexe waren nicht schnell genug, um sich seinem Griff zu entziehen. Der Archon bekam das Handgelenk seiner Schwerthand zu fassen und drückte mit aller Gewalt seinen Arm nach außen. Der Weltenwanderer fasst mit der Linken zu, konnte damit aber nichts ausrichten.


    Im selben Moment ließen zwei Explosionen wie entferntes Donnergrollen die Luft erbeben. Überrascht schaute Quisar sich kurz um, ohne jedoch dabei seinen eisernen Griff zu lockern. Jenseits der Kraterkette legte sich die Jacht in Schräglage. Flammen schlugen an mehreren Stellen aus der Bordwand. Ein kantiges, klobiges Kriegsschiff mit gewaltigem Geschützrohr auf dem buckeligen Heck drehte von dem angeschossenen Drukhari-Schiff ab. Die Panzerung des kastenförmigen Rumpfes war blaugrau lackiert, auf den Luken und dem hohen Heckleitwerk prangte das Emblem des schwarzen Wolfskopfes.


    Das Röhren und Heulen seiner Triebwerke, als es abbremste, drang zu den beiden Aeldari herüber. Von den kurzen Tragflächen und Geschützkuppeln am Bug gingen Geschosshagel auf die Kabalenkrieger in der Ebene nieder. Explosionen schleuderten Gras, Erde und Körper gleichermaßen in die Luft. Unmittelbar nach dem Beschuss öffneten sich die Luken des Schiffs. Annähernd drei Dutzend Krieger in massiven, blaugrauen Rüstungen sprangen aus geringer Höhe ab und begannen augenblicklich, mit explosiven Feuerwaffen und surrenden Kettenschwertern unter den überraschten Drukhari zu wüten.


    Die Brände auf der treibenden Jacht erstreckten sich über sämtliche Decks. Immer mehr bekam das prächtige Schiff Schlagseite, näherte sich dem Boden und bohrte sich berstend wie in Zeitlupe in die grünen Hügel. Bei dem Anblick entfuhr Quisar einen Schrei, der so viel Schmerz und Verzweiflung in sich trug, wie Margil es bei einem Drukhari niemals für möglich gehalten hätte. Was immer den Archon grade bewegt, es musste mehr sein als der materielle Verlust seines Vergnügungskreuzers.


    Mit einer ruckartigen Kopfbewegung wandte Quisar sich wieder dem Asuryani zu. Seine violetten Augen brannten vor Hass. Hätte er es nicht besser gewusst, Margil hätte sich einbilden können, Tränen darin zu sehen. Wie ein Schraubstock presste Quisar das Handgelenkt seines Gegners zusammen, so dass der unter schmerzvollem Stöhnen die Hand öffnete und sein Schwert fallen ließ. In einer jähen Bewegung fuhren beide Hände des Archons vor und schlossen sich um den Hals des Weltenwanderers.


    ***


    Ein harter Donnerschlag holte Firondhir ins Bewusstsein zurück. Einen Moment lang wusste er nicht, wie ihm geschehen war. Das letzte, woran er sich erinnerte, war der kaum auszuhaltende Schmerz in seinem Rückenmark gewesen, die flüsternde Stimme des Drukhari-Prinzen – und das Bild eines heranstürmenden Aspektkriegers mit wehenden blonden Haaren. Margil?


    Er hob das mit Erde und Blut verschmierte Gesicht. Sofort erkannte er die beiden Kämpfer, die sich im miteinander Ringen von ihm entfernt hatte. Margil war in arger Bedrängnis. Firondhir griff sich an den Kopf. Was war nur in ihn gefahren, einen Archon der Drukhari anzugreifen?


    Eine weitere Explosion ließ den Boden erbeben. Der Weltenwanderer richtete sich halb auf. Jede einzelne Muskelfaser schmerzte. Er sah sich um und erblickte das sich neu auftuende Schlachtfeld. Dann sah er wieder zu Margil herüber, sah, wie Quisar ihm seine Waffe aus der Hand wandte. Wenn er nicht schnell handelte, war es um ihn geschehen.


    Hektisch blickte Firondhir sich um. Wenige Schritte entfernt lag das Jagdgewehr zwischen den Leichen der Kabalenkrieger. Er kroch hinüber, die Schmerzen, die immer noch durch seinen Rücken liefen, ignorierend, ergriff die Waffe und ging in den knienden Anschlag. Sein Blick senkte sich durch das Zielfernrohr. Er sah Quisars Gesicht, brennend vor Hass, und seine Hände um Margils Hals. Jede andere Sinneswahrnehmung verschwand. Firondhirs Hand legte sich um den Griff, den Finger am Abzug. ‚Nicht übereilt‘, ging es ihm durch den Kopf. ‚Übereilte Schüsse gehen fehl.‘ Er schloss die Augen. Tief atmete er ein und wieder aus, hielt den Atmen an, öffnete die Augen und schoss.


    ***


    Ein gleißender Lichtimpuls zischte jäh an Margil Kopf vorbei und brannte sich in das Gesicht des Archons. Der Griff um seinen Hals löste sich, die Hände glitten kraftlos herab, während der schwarz gerüstete Körper zu Boden sank. Margil rang nach Luft. Im Augenwinkel sah er Firondhir, wie er sich schwerfällig von den Knien erhob, das Jagdgewehr in der Hand, und ihn mit ruhiger Mine anblickte. Dann sah er wieder den Drukhari-Prinzen an, der zu seinen Füßen lag. In seiner linken Wange schwelte ein Loch, das den Blick auf den zertrümmerten Kiefer freigab. Die elfenbeinblasse Haut war an den Wundrändern schwarz und dunkelrot von verkohltem Gewebe und verkochtem Blut. Der Geruch von verbranntem Fleisch und Knochen stieg von ihm auf.


    Als der Weltenwanderer den Kopf wieder hob, erblickte er den Space Wolf am Rand des Steinkreises stehen. Unten in der Ebene hatten seine Brüder offenbar alle Drukhari niedergemacht. Nun näherten sie sich dem Hügel. Hastig hob Margil seine Ritualklinge auf.


    „Láttu þig hverfa, álfur seggur![1]“ grollte der blonde Krieger und wies auf das immer noch glühende Portal. Margil zögerte einen Moment, dann nickte er dem Losseainn zu. Bjarne erwiderte den Gruß, drehte sich um und stapfte seinen Kameraden entgegen.


    Firondhir hatte das Gewehr geschultert und erwartete Margil einige Schritte vom Tor entfernt. Es wurde höchste Zeit, zu verschwinden.


    „Dies war das zweite Mal heute, dass ich dich vor einer Dummheit bewahrt habe“, grinste Margil und atmete noch einmal tief durch.


    Firondhir lächelte: „Ich kann dir nicht genug danken.“


    „Warum hast du nicht auf seine Stirn gezielt?“ wollte Margil wissen.


    „Das habe ich. Dein Gewehr zieht nach unten“, antwortet Firondhir knapp. In Wahrheit hatte er schon längst erkannt, wie er die Abweichung der Waffe ausgleichen musste, um sein Ziel zu treffen. Doch Quisars Worte auf dem Unterdeck der Jacht hatte er nicht vergessen. Der selbstverliebte Drukhari-Prinz würde sich jedes Mal an sie erinnern, wenn er in einen Spiegel schaute.


    Während sie auf die Plattform stiegen, fragte Firondhir: „Sag mir, was war das eben?“


    „SuinMure“, antwortet Margil.


    Verdutzt blieb Firondhir stehen. „Todesfeen? Wie viele Aspektpfade hast du noch beschritten? Du müsstest längst Autarch sein!“


    Margil stand schon vor der glühenden Kugel und dreht sich noch einmal um. „Könnte ich, vielleicht. Aber ich sage anderen nicht gerne, was sie zu tun haben. Und jetzt komm.“ Damit schritt er durch das Portal. Firondhir folgte ihm. Hinter ihnen verlosch das goldene Licht.


    ***


    Die beiden Weltenwanderer hatten das Tor noch nicht lange passiert, als ein kleiner Trupp Space Wolves den Steinkreis betrat. Ihre Bolter schussbereit in den Händen, sahen sich um und stießen einige der gefallenen Xenos mit den Füßen an. Keiner regte sich. Hier gab es offensichtlich nichts mehr zu tun. Sie drehte wieder um und kehrten zum Thunderhawk zurück, der in der Ebene gelandet war, um den Rettungstrupp wieder aufzunehmen.


    Erst als sie außer Reichweite waren, kam eine Handvoll Kabalenkrieger, Fleischgeborene mit hohen, reich verzierten Helmen, von der anderen Seite den Hügel herauf. Zwischen ihnen schritt eine schlanke, hochgewachsene Frau in einem langen, mitternachtsblauen Kleid. Von Sorge erfüllt wanderte ihr Blick über das Schlachtfeld, bis er schließlich auf dem leblosen Körper des Prinzen haften blieb.


    Sirqa stieß einen verzweifelten Schrei aus und stürzte zu ihrem Bruder. Sie kniete sich neben ihm nieder und berührte sein grausam entstelltes Gesicht. Quisar ließ ein schwaches Stöhnen vernehmen. Seine Hand zuckte, als wollte er die ihre ergreifen, doch fehlte ihm die Kraft. Glühender Hass stieg in Sirqa auf. Das war das Werk der verfluchten Bestienmeisterin und ihrer niederträchtigen Asuryani-Freunde. Fürs erste mochten sie entkommen sein. Aber irgendwann würden sie dafür bezahlen.


    „Hebt ihn auf!“ befahl sie den Kriegern.


    Zwei beugten sich zu dem jungen Archon hinunter. Im selben Moment packte ein dritter Sirqa von hinten und versuchte, ihr die Arme auf den Rücke zu drehen. Doch er hatte die Lhamea unterschätzt. Bevor er sie zu fassen bekam, entwand sie sich seinem Griff wie eine Schlange, zückte in der gleichen Drehung ihr Messer und stieß ihm die schmale Klinge kurz in den Rumpf. Ohne auch nur einen Moment innezuhalten, führte sie ihren Tanz fort und glitt zwischen die Krieger und ihren Bruder. Einer hatte bereits sein Messer an Quisars Hals gesetzt, als ihre Klinge sich in den seinen bohrte, um als nächste ihr Ziel in der Leiste des Dritten zu finden. Dann richtete die Prinzessin sich mitten zwischen ihnen zu ihrer vollen Größe auf, lächelte die Krieger lustvoll an und ließ das Messer in die Scheide gleiten.


    Verdutzt blieben die Krieger zunächst stehen, als hätte die Lhamea ihnen keine ernsthafte Verletzung beigebracht. Doch im nächsten Moment begannen die drei sich unter Schreien zu krümmen. Ihre Körper krampfte, so dass die Gliedmaßen sich in die unmöglichsten Richtungen bogen, bis die Knochen unter ihren eigenen Bewegungen brachen.


    Ungerührt beobachteten die beiden übrigen den Todeskampf ihrer Kameraden. Sirqa sog hörbar die Luft ein, in der Wirkung ihrer vergifteten Klinge schwelgend. Dann sah sie die verbliebenen Kabaliten an. „Hat noch jemand Einwände?“ fragte sie. Da keine Antwort folgte, wandte sie sich wieder ihrem Bruder zu, löste eine kleine Phiole mit purpurroter Flüssigkeit von ihrem Gürtel und träufelte wenige Tropfen auf seine Wunde. Augenblicklich entspannten sich seine geschundenen Gesichtszüge, als würde er in einen tiefen Schlaf hinübergleiten.


    Wortlos hob einer der Fleischgeborenen den Archon auf. Sirqa schritt zum Portal hinüber. Sie musste die Rune auf der Plattform einige Male laut und mit verschiedenen Variationen der Betonung aussprechen, ehe es ihr gelang, das Tor zu aktivieren. Der verbliebene Rest der Jagdgesellschaft betrat das Netz der Tausend Tore und schlug eilig den Weg nach Commorragh ein.


    ____________________________________

    [1] Isl.: Verschwinde, Elfenkrieger.

  • Kapitel 18

    Bechareth

    Ànathuriel war, als würde sie schweben. Es gab kein Oben und kein Unten, keine Richtung. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie noch einen Körper hatte. Wenn sie versuchte, die Hände vor das Gesicht zu heben, sah sie nur ein silbriges Schimmern. Seltsamerweise beunruhigte sie dieser Zustand nicht, im Gegenteil. Sie war völlig gelassen und in sich ruhend. Ihr war weder warm noch kalt. Sie trieb in einem blauen Zwielicht, das Licht der Dämmerung zwischen Schlafen und Wache. Und wenn sie wollte, würde sie zurückkehren, wie aus einem Traum kurz vor dem Aufwachen. Aber sie wollte noch nicht. Es gab noch etwas, das sie herausfinden musste. Und sie wusste, hier würde sie es erfahren.


    Sie war erfolgreich gewesen, das wusste sie. Sie hatten die Exoditenwelt durch das Portal verlassen. Und die Drukhari waren nicht mehr da. Ànathuriel verstand, was sie getan hatte, aber nicht wie. Die Fähigkeiten der Aeldari-Seher waren unglaublich mächtig, und sie hatte nur einen Abglanz davon berührt. Jetzt noch schien es ihr, als könnte sie jeden Ort und jeden Geist im Universum sehen, wenn sie nur genau genug hinschaute. Das Gefühl war unbeschreiblich, erhebend, aber auch zutiefst ehrfurchtgebietend. Sie sah sich noch sehr weit davon entfernt, diese Fähigkeiten wirklich zu beherrschen. Es war besser, wenn sie gar nicht erst daran dachte, es erneut zu versuchen - vorerst. Denn das Wissen darum, das war ihr nun klar, war nicht von ihr selbst gekommen.


    In dem Moment, in dem sie diese Einsicht gewonnen war, fühlte sie ein zweites Bewusstsein an ihre Seite treten, fremd und vertraut zugleich, als wäre es bis eben mit ihr verbunden gewesen und hätte sich nun gelöst. Sie schaute sich nach ihm um.


    Eine weiße Flamme schwebte neben ihr. Sie glich den Formen, in denen sie ihre Freunde gesehen hatte, doch das Leuchten war matter und flackerte wie eine verlöschende Kerze. Im ersten Moment glaubte sie, es wären Firondhir oder Ydrir. Wie sehr wünschte sie sich, Firondhir noch einmal so nahe zu kommen. Aber er war es nicht. Ebenso wenig Ydrir.


    Ein Verdacht keimte in ihr auf.


    „Seid Ihr AreIdainn Eathalvaën?“ flüsterte sie ehrfurchtvoll.


    Das Licht zitterte. Ihr erschien es, als würde die Gestalt kichern.


    Auf einmal blitzten Erinnerungen in ihrem Geist auf, Bilder aus der Nacht in Quisars Saal. Bilder von den Felchu, von Firondhir und Sirqa. Der Moment, in dem sie wie vom Schlag getroffen worden war. Sie schnappte nach Luft.


    „Illurayon!“ entfuhr es ihr.


    Der obere Bereich der Flamme verkürzte sich für einen Moment, als würde die Erscheinung nicken. Ànathuriel begann zu verstehen. „Du warst die ganze Zeit bei mir, seit dieser Nacht“, flüsterte sie. „Der Schatten, der mich von IHR fortgezogen hat, das war nicht Firondhir, das warst du.“


    Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. War Illurayon immer bei ihr, bei ihnen beiden gewesen? Jedes Mal? Hatte er alles, wirklich alles miterlebt? Tiefe Scham überkam sie. Und Zweifel. Was sie für Firondhir empfand, kam es aus ihr selbst, oder am Ende durch ihn? Sie horchte in sich hinein und versucht, sich darüber klar zu werden. Immer wieder hatte sie in den vergangenen Tagen und Wochen gespürt, dass eine innere Stimme ihr Gedanken eingegeben hatte. Das war er gewesen. Illurayon hatte sie angeleitet und geschützt, wann immer sie ihre Kräfte eingesetzt hatte, das wusste sie nun. Und er war es, der Firondhir dazu gebracht hatte, sich ihr noch einmal zu öffnen, ohne dass einer von ihnen sich dessen bewusst gewesen war. Illurayon hatte sie zueinander geführt. Zuvor war sie nicht imstande gewesen, hätte sich nicht einmal vorstellen können, sich einem anderen Aeldari so tief verbunden zu fühlen. Dies wollte sie um keinen Preis mehr verlieren. Aber würde es so bleiben, wenn Illurayon sie verließ? Und wenn es ohne ihn nicht wirklich war, was war es dann wert?


    Während sie nachsann, hatte sich die Erscheinung von ihr entfernt, als wollte sie ihr Raum für ihre Gedanken lassen. Nun kam sie langsam wieder näher. Ànathuriel dachte daran, ihn zu fragen. Doch bisher hatte Illurayon nur in Gesten geantwortet. Ihr ging auf, dass sein Geist vielleicht schon zu schwach war, um Worte zu formen. Sie musste es selbst herausfinden, wenn sie zurück waren.


    „Ich danke dir für alles, was du für uns getan hast, Illurayon“, sagte sie. „Und ich bitte dich um Verzeihung für alles, was dir angetan wurde. Lass uns jetzt nach Hause gehen, zusammen.“


    Die Erscheinung bewegte sich, als würde sie mit dem Kopfschütteln. „Nein? Was meinst du damit?“ fragte sie mit Überraschung und Bestürzung.


    Erst jetzt wurde sie gewahr, dass sich ihre Umgebung verändert hatte, während sie gesprochen hatte. Die blaue Dämmerung war einem triefenden Purpurrot gewichen. Ànathuriel erkannte, was vor sich ging, sie hatte es schon einmal erlebt. Sie mussten hier weg, sofort. Sie befahl sich selbst, augenblicklich aufzuwachen. Nichts geschah. Sie versuchte es noch einmal, konzentrierte sich stärker, strengte ihren Geist an, doch ohne Erfolg. Panik machte sich in ihr breit. Hilfesuchend blickte sie Illurayon an. Seine Gestalt flackerte noch stärker, wie eine Flamme im Wind kurz vor dem Erlöschen. Mit Schrecken begriff sie, dass sie sich geirrt hatte. Sie war nicht in der Lage, aus eigener Kraft von hier fortzukommen. Es überstieg ihre Fähigkeiten.


    Stechender, reißender Schmerz fuhr in ihre Brust, ließ sie aufstöhnen und sich zusammenkrümmen. Dann war die Stimme wieder da, jene süße, flüsternde, verführerische Stimme, die sie schon einmal vernommen hatte. Eine abstoßend schöne Gestalt leuchtete aus dem Farbenstrudel, der sie beide einhüllte, halb männlich, halb weiblich, halb Tier, halb Aeldari, mit langen, wehenden Haaren und schlanken, zugreifenden Gliedern. Einladend streckte sie ihr beide Hände entgegen.


    Wie eine Flut brach das Verlangen über Ànathuriel herein, stärker als je zuvor. Es verdrängte jede Furcht, jeden Gedanken, jeden anderen Wunsch, wie stark er eben noch gewesen sein mochte. Alles in ihr begehrte, eins mit IHR zu werden, um nur den Bruchteil eines Augenblicks an IHREN grenzenlosen Freuden teilzuhaben, selbst um den Preis ewiger Qualen – wenn diese nicht sogar ein Teil der Freuden waren. Diesmal widersetzte sie sich nicht.


    Illurayon trat zwischen sie und das Wesen. Für einen Moment glaubte Ànathuriel, seine wahre Gestalt in der weißen Flamme erkennen zu können: schlank und hochgewachsen, ein schmales Gesicht, ernst und freundlich, der Kopf kahl bis auf einen vollen Haarstreifen auf dem Scheitel, der zu einem hohen, offenen Zopf zusammengebunden war. Er sah sie aus Augen an, die nichts als Ruhe und Frieden ausstrahlten. Dann hörte sie seine Stimme, schwach und wie aus weiter Ferne: „Dies ist meine Aufgabe, für die ich hierhergekommen bin.“


    Ànathuriel spürte eine sanfte Berührung an ihrer Stirn, und dann ein Druck gegen sie Brust, als hätte er sie mit seinen Händen von sich gestoßen. Eine Wand aus orangerotem Licht glühte zwischen ihnen auf. Augenblicklich verebbten der Sog und die Schmerzen. Ihr Geist wurde wieder klar, ihr Wille und ihr Verstand gewannen die Kontrolle zurück. Sie schlug mit den Handflächen gegen die Barriere, doch sie war hart und undurchdringlich wie Glas, dabei aber warm wie Sommerwind. Voller Grauen, unfähig einzugreifen, sah sie mit an, was jenseits geschah. Es war nicht zu erkennen, ob SIE näherkam oder Illurayon zu IHR hingezogen wurde. IHR alles überstrahlendes Leuchten schloss seine Gestalt ein wie die Umarmung eines Liebhabers und die Windungen einer Riesenschlange. Ànathuriel schrie seinen Namen, aber ihre Stimme brachte keinen Laut hervor, der die Wand aus Licht hätte durchdringen können. Die matte, weiß Flamme bäumte sich kurz auf, dann verschlang sie das vielfarbige Licht.


    Zutiefst erschüttert taumelte Ànathuriel zurück. Alle Helligkeit um sie herum schwand innerhalb von Sekunden, bis einzig das orangerote Glimmen sie einhüllte. Wohin sie sich auch wandte, nichts änderte sich. Trauer und Entsetzen war alles, was blieb. Die ganze Zeit war Illurayon bei ihr gewesen. All die Zeit, in der sie seinen Wegstein getragen hatte, hätte er sich dorthin retten können. Doch nun war er fort, wie Firondhir es gesagt hatte, und sie hier, wie in einer Blase eingeschlossen. Sicher, aber vollkommen allein, verlassen und unfähig, irgendetwas zu tun, trieb sie in der Leere. Jedes Gefühl für Zeit ging verloren. Ob Stunden, Tage oder nur Minuten vergingen, konnte sie nicht sagen. Dann wurde sie einer neuen Präsenz gewahr. Eine, die ihr inzwischen lieb und vertraut war und sie mit Freude und Zuversicht erfüllt. Sie drehte sich zu ihr um.


    Ydrir nahm sie bei den Händen und sagte freundlich: „Komm nach Hause.“ Irgendwo in der Ferne erklang eine einfache, anmutige Flötenmelodie.


    ***


    Anathuriel spürte warmen Wind auf ihrer Haut und hörte sein Rascheln im hohen Gras. Die Flöte spielte immer noch klare, langsam auf- und abschwellende Töne. Ihr ruhiger Klang wurde untermalt von dem gleichförmigen Zirpen von Insekten und dem rhythmischen, pfeifenden Rufen eines Nachtvogels. Sie atmete tief ein und aus. Die Luft duftete nach Gras, Erde und wilden Blumen. Dann schlug sie die Augen auf.


    Ein prachtvoller Sternenhimmel spannte sich über ihr auf. Ohne jedes störende, fremde Licht blickte sie in die Unendlichkeit des Alls. Die Zahl der Sterne in der samtschwarzen Tiefe war überwältigend groß und nahm noch zu, je länger sie hinschaute. Sie lag noch eine kurze Weile still und versunken in dem wundervollen Anblick. Fast schien es ihr, als könnte sie hinter dem Konzert der nächtlichen Geschöpfe den sphärischen Klang des Universums hören.


    Dann drehte sie den Kopf in die Richtung, aus der das Flötenspiel gekommen war. Ydrir löste seine Hände von ihren Schläfen und half ihr, sich aufzusetzen. Ihr Blick fiel auf Firondhir, der neben ihr auf seinen Knien saß, den schwarzen Mantel über den Schulten und die kleine silberne Flöte in den Händen. Er hatte die Kapuze zurückgeschlagen. Strähnen seines langen, schwarzen Haares hatten sich aus dem Knoten gelöst und hingen über sein im blauen Sternenlicht schimmerndes Gesicht mit der Narbe auf der linken Wange. Ànathuriel sah ihn an und lächelte. Die Frage, die sie sich zuvor gestellt hatte, war beantwortet.


    Sie reichte ihm die Hand. Firondhir ergriff sie mit beiden Händen. Dann beugte er sich zu Ànathuriel vor und schloss sie fest in die Arme. Sein Gesicht an ihrem war feucht. Als er sie losließ, wischte sie ihm stumm lachend mit den Händen über die Wangen, während ihr selbst die Tränen herunterliefen. Firondhir nahm ihr Gesicht in die Hände und küsste sie.


    „Du bist zurück“, sagte er. „Was ist nur geschehen?“


    Ànathuriel zog den Wegstein aus ihrem Mieder. Er lag in ihrer Handfläche, rotorange und matt schimmernd. „Illurayon war bei mir, aber jetzt ist er fort. Er hat die Aufgabe, wegen der er ausgesandt wurde, erfüllt.“ Ihre Stimme brach in einem Schluchzen. Firondhir verstand. Er nahm sie in die Arme und strich zärtlich über ihr zerzaustes, braunes Haar.


    „Kommt ihr zwei“, sagte Margil sanft. „Zuhause ist noch genug Zeit.“ Er und Firondhir halfen Ànathuriel auf.


    „Sind wir denn noch nicht da?“ fragte sie.


    „Nein“, antwortete Margil. „Das Weltenschiff hat kein eigenes Netzportal mehr. Wir warten hier auf eine Fähre, die uns hinaufbringt.“


    Ànathuriel schaute sich um. Sie standen in weitem, hügeligem Grasland, direkt neben einem kleinen Teich, in dem sich das mit Sternen übersäte Firmament spielgelte. Auf der glatten, dunklen Oberfläche trieben Wasserlilien, in deren weit geöffneten, weißen Kelchen winzige, goldene Punkte tanzten. Am Horizont erhob sich über schwarzen Baumwipfeln das gewaltige Halbrund eines Gasriesen, dessen Atmosphäre aus rostroten und goldgelben Bändern und Wirbeln gemächlich rotierte. Vor seiner schimmernden Gestalt zogen mehr als ein Dutzend winziger, dunkler Punkte dahin.


    Einer dieser Monde jedoch unterschied sich von den anderen. Seine Form schien nicht rund zu sein und er strahlte das Licht unregelmäßig ab. Einzelne Bereiche glänzten heller als die Sterne, andere versanken im Schatten, als wäre die Oberfläche hier erhaben, dort tief eingeschnitten. Sein Schimmer war blau und silbern. Erst als sie genauer hinschaute, erkannte Ànathuriel, dass dies kein natürlicher Himmelskörper sein konnte.


    „Was ist das für ein seltsamer Mond?“, fragte sie. Firondhir nahm sie bei der Hand, Margil und Ydrir stellten sich neben sie. „Das ist kein Mond“, antwortete Firondhir. „Das ist ZarAsuryan.“

  • Epilog

    Das Haupt tief heruntergebeugt kniete Quisar vor den Stufen am Kopfende der Großen Halle. Ein Verband aus silbergrauem Gewebe bedeckte seine linke Gesichtshälfte unterhalb des Wangenknochens. Schon einige Minuten verharrte er in der demütigenden und unbequemen Haltung und wartete. Oben auf dem Podest thronte der Hohe Archon von DorchaKerun auf dem Sessel aus grünem Marmor. Hinter ihm überspannte das monumentale Banner des Fürsten beinahe die gesamte Wand: der grüne Sichelmonde als Bogen in den Händen Kurnous‘, der Jagdgott mit Geweihkrone, gekleidet in mitternachtsblaue Gewänder, die ihn mit dem nächtlichen Himmel verschmelzen ließen.


    Fürst Sansherashk hatte sich in dem Thronsessel zurückgelehnt und die Arme auf den Lehnen abgelegt. Auf dem fast kahlen Haupt erhob sich ein hoher, weißblonder Haarknoten, in den eine goldenen Mondsichel eingeflochten war. Die hohe blasse Stirn, von in die Haut eingesetzten violetten Edelsteinen umkränzt, missmutig in Falten gelegt, betrachtete er seinen Sohn.


    Das Schweigen hielt an. Quisars Kniegelenke und Rücken begannen zu schmerzen. Zwei Schritte hinter ihm stand Sirqa, die schlanken Hände vor dem Schoß übereinandergelegt, den Kopf leicht gesenkt, doch ließ sie dabei weder ihren Vater noch ihren Bruder aus den Augen.


    Nach schier endlosen Minuten erhob sich der Archon von seinem Sitz. Von den Schultern seiner schwarzen, grün und orange schimmernden Rüstung fiel ein Mantel, der aus Häuten verschiedenster Kreaturen zusammengesetzt war: Federn, Schuppen, Pelze, Haut, die Gesichtsformen eines Chem-Pan-Sey, Augen- und Mundöffnungen vernäht. Mit eleganten Schritten stieg er die Treppe hinab, blieb aber eine Stufe über Quisar stehen. An der Hüfte des Archons schwang in einer ledernen Schlaufe ein großes, gebogenes Schwert, das gänzlich aus Knochen gefertigt zu sein schien. Quisar kannte die Staubklinge, die bevorzugte Waffe seines Vaters, deren Stoß sämtliche Flüssigkeit im Körper ihrer Opfer aufsog und sie buchstäblich in Staub verwandelte.


    Sansherashk legte die Hand auf den wie eine Wirbelsäule geformten Schwertgriff. Quisar wagte nicht aufzuschauen.


    „Wofür hältst du dich?“, fragte der Fürst mit tiefer, geschmeidiger Stimme.


    Quisar wusste im ersten Moment nichts zu antworte.


    „Wofür hältst du dich?“ wiederholte sein Vater die Frage.


    „Ich bin Prinz Quisar, Erbe des Hauses DorchaKerun“, antwortete Quisar, ohne aufzuschauen, doch mit Trotz und Stolz.


    „Und der Prinz von DorchaKerun ist nicht fähig, seinem Fürsten Auge in Auge gegenüberzutreten?“


    Augenblicklich sprang Quisar auf die Füße. Er hob den Kopf und sah seinen Vater an. Der drehte sich leicht zur Seite und begutachtete die verbundene Verletzung auf der Wange seines Sohnes.


    „Erwarte nicht, dass das spurlos verschwindet“, sagte Sansherashk kalt. „Die Haemonculi haben Anweisung erhalten.“


    Quisar spürte Wut und Empörung in sich aufsteigen, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Wut verleitete zu Schwäche.


    Der Hohe Archon fuhr fort, immer noch ruhig und eisig. „Du hast es dir verdient. Ein Schiff vernichtet, dutzende Fleischgeborenen verloren, noch dazu einen ausgewachsenen Ath-NaranKuras. Genarrt von einer abtrünnigen Bestienmeisterin und Asuryani-Sklaven.“


    „Die Losseainn waren in der Überzahl“, entgegnete Quisar. Seine Stimme klang dumpf. Bei jedem Wort schmerzte das verbrannte, geschwollene Gewebe seiner Wange.


    „War das ein Losseainn?“ fragte sein Vater scharf und wies auf die Verletzung. Quisar schwieg. „Oder kämpfen Losseainn neuerdings mit Scharfschützengewehren der Asuryani?“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Überlegenheit ist unser Geburtsrecht, Sohn. Du aber schwächst deine eigene Überlegenheit durch Überheblichkeit. Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass eine tödliche Gefahr selbst die ärgsten Feinde zu zeitweisen Verbündeten machen kann? Dass sie mit vereinten Kräften in der Lage sein können, den größten Bedrohungen zu trotzen. Dies ist die einzige Erschwernis, die die niederen Völker uns zu bereiten vermögen. Und du machst den Fehler, das zuzulassen.“


    „Es wird sich nicht wiederholen, mein Fürst.“


    „In deinem eigenen Interesse, Sohn. Dir sollte klar sein, dass der Status des Kronprinzen nichts weiter als ein formeller Titel ist, an dem ich aus alter Tradition festhalten. Weder schützt er dich, noch verleiht er dir besondere Gunst. Die Zeiten, in denen ein Herrscher einen Erben benötigte, liegen weit in der Vergangenheit, und ich habe nicht vor, meinen Thron in näherer Zukunft abzugeben.“


    Ohne ein weiteres Wort wandte Sansherashk sich ab und stieg die Stufen wieder hinauf. Quisar verneigte sich kurz, drehte sich um und schritt in Richtung der Eingangspforte davon. Sirqa ging dicht an seiner Seite.


    „Er wird den Thron schneller frei machen, als er erwartet“, flüsterte sie ihrem Bruder zu.


    Quisar nickte zustimmend. „Es wird Zeit.“


    ***


    Bjarne saß auf einer Untersuchungsliege im Infermarium. Floki, der Wolfspriester, stand ihm gegenüber und studierte die grün leuchtende Datentafel in seiner Hand. Dann trat er an den Blutwolf heran und untersuchte noch einmal oberflächlich Arme, Beine und Oberkörper, die nur mit einer groben Leinentunika bedeckt waren.


    „Du hast dein Abenteuer gut überstanden, Bruder Bjarne. Dein Körper ist in so guter Verfassung, wie er nur sein kann, nach allem, was du berichtet hast.“


    Bjarne dachte kurz über die Worte nach. „Ihr spracht nur über meinen Körper, Bruder Wolfspriester. Hat das eine tiefere Bedeutung?“ fragte er.


    „Sag du es mir,“ entgegnete der Wolfspriester. „Du bist nicht der erste Blutwolf, der gleich in seinem ersten Gefecht sein ganzes Rudel verliert. Aber du bist, zumindest soweit ich weiß, der erste, der aus der Stadt der Dark Eldar zurückgekehrt ist. Was du überstanden hast, haben selbst die schlachterprobtesten Wolfsgardisten nicht erlebt.“


    Bjarne schwieg einige Zeit. „Ich habe auf meine Stärke vertraut und auf den Segen des Allvaters“, sagte er schließlich. „Was Ihr uns gelehrt habt.“


    Floki nickte bedächtig. „Jedenfalls hast du ein großes erstes Kapitel deiner Saga geschrieben, das die Skalden noch lange vortragen werden. Dein Name und die deiner Rudelbrüder werden noch lange in Erinnerung bleiben, Bjarne Ormur-Sigurvergari[1].“


    „Wenn der Allvater es will, werde ich noch weitere hinzufügen, Bruder Floki“, entgegnete Bjarne. „Aber diesen Sieg verdiene ich nur zum Teil. Die Xenos-Krieger habe nicht ich erschlagen.“


    Floki hob die Augenbrauen. „Wer dann?“


    Bjarne zuckte die Schultern. „Ihre Artgenossen, vermutlich. Wer versteht schon die Xenos.“


    „Versuche es gar nicht erst, junger Wolf. Sie haben nichts mit uns gemein.“


    Er nickte ergeben. „Eine Frage habe ich noch, Bruder Wolfspriester. Die Fahrt von Fenris in dieses Segmentum dauert Wochen. Mein Notsignal konnte ich erst vor einem Tag absetzen. Wie konntet ihr mich so schnell erreichen?“


    „Schon kurz nachdem euer Trupp verloren gegangen war, habe wir eine Nachricht über euren Verbleib erhalten.“


    „Eine Nachricht? Von wem.“


    „Die astropathische Codierung wies den Ordo Malleus als Absender aus.“


    Der Blutwolf gab ein missmutiges Grollen von sich. „Wie konnten sie davon wissen?“


    „Manchmal verstehen die Diener des Imperators einander nicht viel mehr als die Xenos“, sagte Floki. „Ich teile deine Abneigung gegen die Inquisition, junger Wolf. Aber die Diener des Imperators müssen gegen ihre Feinde zueinanderstehen. Niemand anderem in dieser Galaxis könne wir trauen.“


    Bjarne schwieg. In diesem Punkt war er sich nicht mehr so sicher.


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    [1] Isl.: ormur: Wurm, Schlange; sigvurvergari: Gewinner