[sonst] Kampf und Liebe des einfachen Soldaten





  • Kampf und Liebe des einfachen Soldaten
    -ein russischer Musketier aus der Schlacht bei Zorndorf am 25. August 1758


    Es ist früh morgens. Ich stehe in meiner Abteilung an der von Hügeln geschützten äußersten linken Flanke unserer Aufstellung. Wir verfolgen das Schlachtgeschehen aus einer zunächst relativ gesicherten hinteren Position: Ich sehe den Gegner Reihe um Reihe, Trupp um Trupp heranmarschieren, wie ein bunter blitzender Wall aus Menschen, der dumpf rumorend in rhythmischem Gleichschritt, von Trommelwirbeln begleitet und Staubwolken hinter sich her ziehend, langsam aber stetig vorrückt. Manchmal erinnern die glänzenden Kolonnenformationen an kriechende Lindwürmer.


    Dann nehmen die preußischen Truppen Aufstellung.
    Ich sehe Infanterieformationen soweit das Auge reicht, unterstützt von Kanonen, die sich zwischen ihnen positioniert haben. Es beruhigt mich zunächst, dass ich keine Kavallerie entdecke, denn die hätte aufgrund unserer Flankenposition meinen sicheren Tod bedeutet. Dann verwundert es mich aber, denn ich habe noch keine Armee ohne Kavallerie gesehen.


    Ich werde nervös. Die Fantasie übernimmt das Kommando…


    Wo sind ihre Reiter wo ist ihr berühmter Anführer? Was hecken die aus? Ich bin das perfekte Ziel, das ist nicht gut… Unsere sind nämlich drüben. Was tun die da, warum sind sie nicht hier? Wenn die kommen, dann bin ich tot, das ist sicher!


    Plötzlich eröffnen die preußischen Geschütze die Schlacht mit unglaublichem Getöse. Dieses wird jedoch noch von der prompten Antwortsalve unserer Kanonen übertroffen. Es breitet sich sofort über uns der Pulverdampf aus. Ich kann nichts sehen. Nur hören. Das Grollen und Donnern der Geschütze. Hier ein Pfeifen, da ein dumpfes Krachen. Rechts ein unverständliches Kommando aus unserem Zentrum. Dann ein Schrei. Es riecht sofort stark nach Schwarzpulver. Wir haben keine Befehle. Ich beginne zu zweifeln. Was hat sich Fermor denn dabei gedacht? Warum sind wir ungedeckt? Plant der uns als Verlust ein? Ich versuche zu begreifen, was ich gerade nicht sehen kann. Es gelingt mir nicht.


    Das macht mich unsicher. Die Fantasie übernimmt wieder das Kommando…


    Jeden Moment kann mich eine Kugel treffen und ich kann nichts dagegen tun. Vielleicht eine verirrte Musketenkugel. Vielleicht eine gezielter Kanonenschuss. Möglicherweise werde ich vielleicht noch einige Minuten schreien können, bevor ich bewusstlos werde. Die Stunden verrinnen und ich darf einfach nichts tun...


    Ich blicke die eigenen Reihen entlang, soweit ich sehen kann. Ich sehe auf eine Linie stramm stehender, uniformierter Männer, bei denen kein Muskel zuckt. Daneben stehen die Trommler. Sie sind sicherlich keine vierzehn Jahre alt. Ihre Augen zeigen noch lebhafte Fantasie. Sie sind weit aufgerissen und nehmen mehr auf, als sie verarbeiten können. Es sind noch Kinder. Viel zu früh um sie in die Kriegshölle zu schicken. Sie haben noch keinen Panzer aus Gleichgültigkeit gegen das Grauen des Krieges entwickelt. Mein Nachbar deutet auf den Hügel auf der linken Seite, der unsere Aufstellung begrenzt:


    „Meinst du wir kriegen ein Problem?“,


    Unsere rechte Flanke hatte angegriffen. Ich konnte es hören. Musketenkrachen. Wir werden sie schlagen, ich bin mir sicher. Das hat unser Offizier gesagt... Aber wenn ich es mir recht überlege... Oh Gott, wenn ich doch jetzt bloß schon wieder zu Hause wäre... Bei meiner Familie, meinen Kindern…


    „Ich weiß nicht.“


    Irgendetwas gefällt mir bei der Sache nicht… Keine Kavallerie zu sehen, offene Flanke auf der linken Seite... Hoffentlich geht das gut...


    Der Offizier befiehlt den Vormarsch, es ist mittlerweile Mittag.
    Der Befehl ist eine Erleichterung für mich. Er lenkt mich etwas von der Ungewissheit und Todesgefahr ab. Der Fantasie wird nun kein Raum mehr gelassen. Wir formieren uns zu einer Kolonne und unter Begleitung von Trommelwirbeln beginnen wir zu marschieren. Wohin und gegen wen es geht, weiß ich nicht. Aber wir marschieren. Inzwischen hat sich der Pulverdampf gelegt und ich kann erkennen, dass sich die beiden Armeen auf der rechten Seite ineinander verkeilt haben. Unsere Truppen scheinen dort jedoch stetig die Oberhand zu gewinnen, denn die gegnerische Flanke bröckelt langsam weg und beginnt durch unsere unnachgiebig angreifenden Männer schon zurückzuweichen. Die Sicherheit durchströmt mich. Wir werden siegen.
    Plötzlich vernehme ich ein leises aber doch nicht überhörbares Donnern von der linken Seite, wie eine entfernte Meeresbrandung bei stürmischer See und weiß sofort: Dort kommt das Ende. Ich werde nicht mehr nach Hause kommen… Nur ein unscheinbares Grab wird an mich erinnern… Ein Grab wie jedes andere auch. Nur ein graues Steinkreuz unter vielen Steinkreuzen. Dazu eine Nummer, und vielleicht ein kurzer unpersönlicher Brief an meine Familie…
    Kurz darauf kommt genau das hastige Kommando des Offiziers, das ich so gefürchtet habe:


    „Es ist die Kavallerie! Formiert ein Karree und bleibt standhaft!“


    Das Donnern wird lauter und dann ergießen sie sich über den Hügel. Ich kann trotz des beeindruckenden Anblicks ein gewisses Würgen in der Magengegend nicht verhindern.
    Schwere Kavallerie: Ein ungeheuer breiter Strom von Säbel schwingenden gepanzerten Reitern, der unaufhaltsam auf uns zu walzt.


    „Fertigmachen zum Feuern!“


    Der Offizier kommandiert weiter als wäre nichts geschehen. Sein Gesicht ist versteinert. Das gibt mir ein bisschen Mut. Wenn der Offizier so siegessicher ist, warum sollten wir das nicht auch überstehen…Ich straffe mich.


    „Feuer!“


    Wie ein Mann feuern die ersten drei Reihen ihre Musketen ab. Einige Reiter stürzen teilweise sich überschlagend zu Boden. Danach macht sich die gewisse, sich in kaum merklichem Zurückweichen äußernde Unruhe breit, die einer Kavallerie im Allgemeinen zum Durchbruch verhilft. Dann sind sie auch schon über uns. Weg, bloß weg… Ich finde mich in der nächsten Buschgruppe wieder. Wie ich dort hingekommen bin, weiß ich nicht. Mein Brustkorb schmerzt fürchterlich als würden sich riesige Nägel überall darin befinden. Ich sehe die Reiter unsere Männer einfach überreiten oder niederhacken. Ich warte ab, bis die unbeirrbar weiterdrängenden Pferde und Rüstungen und Säbel an mir vorbei sind. Dann versuche ich irgendwo hinzugehen. Weg, bloß weg…Ich stoße immer wieder gegen tote Soldaten, deren Uniformen blutgetränkt sind. Dort stand mal unsere Abteilung. Jetzt stoßen meine Füße auf verdrehte Körper, abgetrennte Gliedmaßen, hier ein einzelner Fuß, da ein Arm, der zuckt, als versuche er sich noch zu wehren. Das sind meine Kameraden… Der Schmerz wird stärker. Dann verschwimmt das Bild. Mein Mageninhalt wechselt die Position von drinnen nach draußen.
    Jetzt die Pferde. Sie haben meistens nicht das Glück, dass der Tod früher eintritt, als der Schmerz. Einige winden sich auf dem Boden liegend andere laufen völlig verstört und ziellos durch die Gegend. Es wird schwarz, um mich. Einen kurzen Augenblick später erwache ich wieder. Der Raum ist gekachelt, ich liege auf einem Bett, und blicke in zwei wohlbekannte liebende Augen. Meine Stimme ist schwach:


    „Jelena…“


    Es wird wieder schwarz. Es ist das Schwarz der Geborgenheit.



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