Gefallener Engel – Im Niemandsland der Gefühle
(alle Rechte bleiben beim Autor)
Es war ein lauer, leicht bewölkter Abend. Einer wie er im
Herbst normal zu sein schien. Die Sonne verschwand allmählich
hinter dem Horizont und die Lichter der Stadt erwachten
langsam zum Leben.
Eifrig liefen die Menschen über die immer noch nicht leerer
werdenden Straßen. Einige saßen noch im Park oder spazierten
um den Teich in seiner Mitte. Die Bäume hier standen in den
bunten Farben der Jahreszeit. Sie wachten edel und
hochgewachsen über den Park und die umliegenden Häuser. Manch
ein fantasievolles Kind hatte bereits geglaubt sie würden die
Gebäude regelrecht beobachten.
Eines dieser Gebäude stand auf der Südseite des Parks. Es
überragte ihn um einiges und unter seinem Flachdach fanden
zwölf Familien ein Zuhause.
Alleine auf dem Dach saß ein unscheinbarer Junge. Für alle,
die an dem leicht abgenutzten Achzigerjahrebau vorbeigingen
blieb er unbemerkt. Lediglich von den höheren Gebäuden aus
konnte man seine Silhouette ausmachen, wie sie sich gegen den
grauen Beton abzeichnete.
Er saß gerne hier. Hier kam er immer hin, wenn er seinen
Gedanken nachgehen wollte. Der Lärm der Stadt schien hier weit
weg. Das Chaos der sich ständig bewegenden und sich
verändernden Menschenmaßen konnte ihn hier nicht erreichen.
Unten in der Wohnung würde ihn keiner vermissen. Seine Eltern
waren entweder noch auf der Arbeit oder zu sehr mit sich
selber beschäftigt um ihn wahrzunehmen. Im Grunde liebte er
seine Eltern. Nur vermisste er die nähe zu ihnen. Er wünschte
sich mal ein aufmunterndes Wort, einen Blick der ihm verriet,
dass er bemerkt wurde. Aufmerksamkeit erfuhr er nur, wenn er
mal etwas angestellt hatte. Eine Fünf in Mathe oder ein Brief
der Schule, in dem stand, dass er keine Hausaufgaben vorzeigen
konnte. In diesen Momenten wurde ihnen wieder klar, dass sie
einen Sohn hatten. Dann bestraften sie ihn. Anders kannte er
es nicht. Selbst letzte Woche zu seinem fünfzehnten Geburtstag
waren sie viel zu beschäftigt gewesen um ihn mal in den Arm zu
nehmen oder sich mit ihm zu beschäftigen. Er hatte natürlich
Geschenke bekommen, aber nichts was sein Herz hätte höher
schlagen lassen. Insgeheim hatte er sich einen Kuchen von
seiner Mutter gewünscht, aber sie musste Überstunden im Büro
machen. Da war zum Backen einfach keine Zeit mehr geblieben.
Gerne hätte er Freunde zum Geburtstag eingeladen. Nur hätte er
nicht gewusst wen er einladen sollte. Natürlich waren da ein,
zwei Jungen in der Schule mit denen er sich gut verstand, aber
wirklich befreundet war er mit denen nicht. Eigentlich verband
sie nicht mehr als einige lose zusammenhängende Sätze am Tag.
Trotzdem war er froh, dass er sie hatte. Die anderen in der
Klasse bedachten ihn ansonsten nur mit Spott und Hohn. Sie
ließen ihn spüren, dass er nicht dazu gehörte. Aber warum
gehörte er nicht dazu? Beim besten Willen konnte er darauf
keine Antwort finden, soviel er auch darüber nachdachte.
Nichts hätte er lieber gewollt als auch einmal dazu zugehören.
Aber sie wollten ihn nicht. Er hatte es inzwischen akzeptieren
müssen. Und er strengte sich auch nicht mehr an das zu ändern.
Es hatte eh keinen Zweck.
Tag ein Tag aus schritt er mit hängenden Schultern durch die
dunklen Schulflure. Einige Lehrer sagten ihm häufig er solle
doch Haltung annehmen. Er würde seinen Rücken durch seine
Haltung schädigen. Die meisten aber bemerkten ihn kaum. Selbst
während des Unterichtes, wenn er mal eine Antwort wusste und
sich meldete, übersahen sie ihn häufig.
Er sah zu den Lichtern der Stadt hinüber und bemerkte das
leben, dass sich dort unten abzeichnete. Dort unten waren
Menschen, die feierten, trauerten oder einfach nur nichts
taten. Sie alle waren da und wussten doch nichts voneinander.
Von hier oben aus schien es dem Jungen fast, als ob es ein
Muster gäbe. Einen großen Zusammenhang, eine Verbindung
zwischen allen diesen Lichtpunkten. Es hätte nur jemand die
Punkte miteinander verbinden müssen und alles das hätte ein
überwältigendes Bild ergeben.
Aber wo war er in diesem Bild? Kein Lichtpunkt signalisierte,
dass er hier war. Würde jemand von einem anderen Haus aus auf
die Lichter schauen, würde man ihn nicht entdecken. Es war so,
als ob er gar nicht da war. Er war der unbemerkte Betrachter
der Lichter. Er konnte sie sehen und ihre Schönheit bewundern,
jedoch nie eines von ihnen sein.
In gewisser Weise glich er den Bäumen im Park. Sie sahen
tagtäglich die Menschen. Sie sahen sie, wenn sie frierend
durch die Straßen eilten oder sich an einem warmen Sommertag
ausgelassen im Teich tummelten. Und obwohl sie da waren, für
jedermann sichtbar, so blieben sie nachts doch verborgen im
dunkel der Nacht.
Während der Junge sich all diesen Gedanken hingab, regelrecht
in sie versank, rollten tränen über seine Wangen. Im Grunde
seines Herzens wusste er, dass er niemanden hatte. Niemand war
da, wenn er Hilfe braucht. Niemand baute ihn auf, wenn er
unsicher war oder tröstete ihn. So viele Menschen, die er
kannte, so viele die Tag ein Tag aus um ihn herum waren. Und
doch war er allein.
Er spürte es tagtäglich. Er spürte es, wenn er in die Schule
ging oder beim Abendessen mit seinen Eltern. Es war immer um
ihn herum. Meistens bemerkte er es nicht, denn er war zu
abgelenkt um fühlen zu können, dass es da war. Aber bei
Gelegenheiten wie dieser, merkte er es. Es war fast
überwältigend.
Heute jedoch war noch etwas anderes dabei. Eine Hoffnung. Eine
Hoffnung wie er sie schon viel zu lange nicht mehr gespürt
hatte. Ihm war bewusst, dass die Einsamkeit die er fühlte
nicht ewig andauern würde. Sie würde verfliegen, so wie alles
irgendwann vorbei geht. So wie die Bäume irgendwann ihr Laub
abwerfen, so würde er auch dies abwerfen. Er würde glücklich
sein und vergessen was war. Einem Engel gleich, der unter den
Mensch lebt, aber nie einer der ihren ist. Ein Engel, der
genug Liebe in sich trägt um die ganze Welt zu retten aber
selber ungeliebt bleibt. Ein Engel, der seine Flügel
wiederbekommt und höher und höher aufsteigt. Hin zum Licht, wo
nur Liebe und Ewigkeit ist. Wo er endlich den Frieden hat, der
ihm so lange fehlte.
Der Junge fühlte sich wie dieser Engel, der seine Flügel
ausbreitet um sich in die Lüfte zu erheben. Erleichtert und
aufgeregt zugleich. Er konnte spüren wie er fliegt, wie die
Luft um seine schwingen gleitet, immer weiter dem Licht
entgegen strebend.
Er sah die letzten Strahlen der untergegangen Sonne, die einen
kleinen Punkt am Horizont in ein tiefes Rot tauchten. Und
während er sein Ziel auf sich zukommen sah, schien es als
würden die Bäume ihr Laub verlieren als Zeichen, dass sie ihn
sahen und seinen Verlust betrauerten.