[Sonst] Akrasia

  • Kalt. So entsetzlich kalt. Sie fror und ihre Zähne klapperten aufeinander wie Meisel auf Stein.
    Als seien es ihre ersten Schritte auf Erden, schleppte sie sich vorwärts. Langsam. Entsetzlich langsam.
    Ihre nackten Füße schleiften widerwillig durch nasses Gras, rissen nachlässig Halme heraus und nahmen sie mit sich.
    Betäubt wankte sie voran, selbstvergessen und nur ein verwischter Schmutzfleck im Regen.
    Höhnisch plätschernd ergoss sich der kalte Mantel aus Wasser aus dräuend grauen Wolken herab und durchnässte ihre zierliche Gestalt. Der so finster verhüllte Himmel selbst, schien spöttisch auf sie herab zu grienen.
    Bleiche Füße tappten durch durchweichten Sand und fügten den abgerissenen Halmen nun eine weitere Schicht Schmutz hinzu. Es war alles eine Lüge. Wut, scharf und kalt, wie die Klinge in ihrem Herzen trieb sie vorwärts.
    Einzig dies, und der unbefriedigte Puls des Zorns, die sich windende Finsternis in ihrer Seele. Er hatte gelogen.
    Wie konnte ausgerechnet er sie verraten.


    Als ihr linker Fuß gegen einen Stein prallte und sich ihre Zehen mit einem flammendheißen Schmerzensstich zum Leben
    zurückbekannten, hätte sie beinahe aufgeschrieen. Dennoch fehlte ihr die Kraft dazu, wer sollte sie hier auch hören?
    Sie war allein. Nur Kälte und Einsamkeit leisteten ihr Gesellschaft. Selbst die Landschaft schien sie vertreiben zu wollen.
    Die durchnässte Grasebene erstreckte sich wie die eingefallene Visage eines mumifizierten Barbarenkönigs vor ihr.
    Abweisend und desinteressiert, wie eine der Statuen im Atelier.


    Hell. Es war blendend hell.
    Ihr Körper rang widerstrebend nach Atem, verzweifelt wie ein Säugling. Steinstaub tanzte in der bewegungslosen Luft,
    legte sich fein wie Engelsfedern auf Haut und Lunge. Ihre Kehle schien aufgeraut und ausgetrocknet.
    Beinahe wie die sanfte Rundung einer Brust, die er soeben liebevoll mit Sand und Wasser glättete.
    Der Anblick erschien ihr fremd. Es war eindeutig ihre Brust, so vertraut in Form und Anblick,
    nd doch die einer seltsamen Fremden. Die ihres steinernen Ebenbildes. So ruhig, so blendend im grellen Licht.
    Die Kälte des Marmors, auf dem sie saß, kroch ihr durch die Glieder. Betäubte Muskeln und Verstand.
    Sehnsüchtig blickte sie auf die Wasserperlen an ihrem Zwilling, wünschte mit Macht auch nur eine davon auf ihre Zunge. Glitzernd wie ein kleiner Stern. Ein paar wenige Tropfen Wasser schienen ihr in diesem Moment so kostbar wie Diamanten. Sie sollte sein schönstes Werk werden. Strahlend schön, wie keine andere seiner Figuren, fast so lebendig wie sie selbst. Lange hatte sie sich gesträubt und nun schwieg sie aus Pflichtgefühl. Er schien so zufrieden mit sich.
    Selbstvergessen in jener Arbeit, die er so liebte.


    Die Statuen. Wie auf Gleisen einem unbekannten Kreis folgend, kehrten ihre Gedanken immer wieder dahin zurück.
    Verachtung und Angst. Marmor und Blut. Mit dieser höhnischen Konstellation hatte immerhin alles begonnen.
    Sie konnte die Schnitte an ihrem Körper immer noch brennen fühlen. Zornig heiß und bitter.
    Ganz so, wie die Schneide des Steincutters und seine Stimme.


    Warum nur sah sie noch immer jedes Detail seines wutverzerrten Gesichtes vor sich?
    Hatte er sie nicht einst geliebt, sie sein Juwel genannt? Sein liebstes Werk, einen alabasternen Engel?
    Es war grotesk, wie schnell schmeichelnde Worte und zärtliche Berührungen so leicht Schmerz und Hass weichen konnten.
    Sie hatte ihm seine Lügen bis beinahe zuletzt geglaubt. Was einst der Wunsch nach Liebe war, pulsierte nun im gierigen Durst nach Rache. Sie würde ihn finden. Finden und unter dem gelangweilten Blick seiner weißen Felsen bestrafen.
    Der Steinbruch war ganz nah.


    Mit behutsamer Langsamkeit trat sie an den Rand des Steinbruchs.
    Unregelmäßig wie eine schlecht verheilte Schnittwunde geformt, sickerte tintengleich Zwielicht auf dessen Grund
    und bildete Tümpel aus Finsternis. An dessen Grund, so wusste sie, am Ende des natürlichen Einschnitts würde er warten. Fahl und bleich wie ein Streifen Mondlicht lief ihre Gestalt den Abhang hinab, Kraft schöpfend aus dem Gedanken
    wie nahe sie ihrem Ziel gekommen war.


    Nach ihrer Flucht, blutend und panisch, verschwamm alles zu einer hässlichen Parodie all dessen, was sie als normal
    und gewohnt zu kennen glaubte. Ihr zuvor so fremder Zorn hatte sie vorangetrieben, wie einen gefallenen Racheengel.
    Beinahe schmerzhaft schön in ihrer Nacktheit, trotz ihrer Wunden, trotz ihres verzerrten Gesichtes, trotz Schmutz
    und erlebter Entwürdigung.


    Er kniete vor einer älteren Bruchstelle im Gestein, vernarbt und zerklüftet wie das Gesicht eines Greises,
    der zuviel Leid gesehen hatte. Zu seinen Füßen lag sein blutiger Steincutter.
    Obwohl sie sich eingeredet hatte, nichts könnte sie so befriedigen, wie ihn nun im Gegenzug leiden zu sehen,
    ließ sie der Anblick innehalten. Gequält und aufgelöst reckte er ihr seine zerstörten Handflächen entgegen,
    blutig zerbissen und zerschnitten. In ihrer eigenen Brust schien etwas zu zerspringen wie feine Fragmente kostbaren Steins und sie fühlte, wie sich Tränen über ihre eigenen Wangen bahnten. Langsam ließ sie sich auf ihre Knie nieder und umarmte diesen Mann, der es vermocht hatte, ihr Himmel und Hölle auf Erden zu bereiten und lauschte seinen kummervollen Schluchzern.


    Rache war keine süße Frucht.
    Sie wusste nun, wie wenig ihr deren Genuss gemundet hätte, dafür liebte sie ihn noch immer zu sehr. Weder der sich aufklarende Himmel, noch die reingewaschene Frische der Luft, oder der sanfte Schein des Mondes konnte ihr Herz derart rühren wie dieser Augenblick. Es war süßer Nektar der Vergebung, ein Lächeln der Seele - ihre ganz persönliche Erlösung.