[sonst.] Schreckensnacht

  • Schreckensnacht


    Langsam fiel die Tür ins Schloss. Selina steckte den Schlüssel hinein, verschloss ihre Kanzlei mit zwei Umdrehungen. Das tat sie immer.
    Dort lagerten Akten von Personen, bei denen sie sich wünschte, sie wäre nie Rechtsanwältin geworden. Meistens dachte sie darüber aber nicht nach. Sie machte einfach ihren Job, egal wie grausam die Tat, hauptsache die Bezahlung stimmte.
    Es war dunkel und kalt, der Wind jaulte durch die kahlen Bäume. Der Mond war zu sehen. Eine typische Dezembernacht eben.
    Selina zog Mantel und Schal enger. Hätte sie doch heute keinen Rock angezogen. Die Kälte kroch über die Beine in ihren ganzen Körper hinein. Sie musste schnell zu ihrem Auto, bevor sie sich noch eine Erkältung zuzog.
    Während sie ging, merkte sie, dass die Straßen fast wie ausgestorben waren. Weder fuhren viele Autos, noch begegnete ihr jemand.
    Doch einer.
    Hinter ihr hörte sie Schritte. Selina drehte sich um. Keiner da. Wohl schon irgendwo in eine Seitenstraße eingebogen. Sie ging weiter.
    Ein Schrei.
    Selina erschrak. Jetzt erst merkte ihr Bewusstsein, dass es ein Vogelschrei war. Die Krähe saß auf dem Baum neben ihr. Selina verlor sich in den Augen des Tieres. Es flog weg und sie schaute der Krähe noch ein wenig nach, bis sie die Kälte wieder ins hier und jetzt holte.
    Diese Nacht war seltsam… und kalt.
    Sie beschleunigte ihren Gang. Der Mond verfinsterte sich.
    Die Schritte waren wieder hinter ihr. Ein Blick nach hinten. Wieder nichts.
    Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Sie konnte kaum schlucken, als würde man ihr den Hals zuschnüren.
    Warum hatte sie heute nur im Parkhaus, so weit weg, geparkt? Ihr fiel es ein: Die Politesse.
    Die rechthaberische Erbsenzählerin. Diese verdammte Frau war heute wieder unterwegs.
    Die Strecke zu ihrem Auto wollte nicht kürzer werden.
    War das das Klappern von Schlüsseln?
    Adrenalin durchflutete ihren Körper. Die Kälte wich, Schweiß trat aus ihren Hautporen aus. Angstschweiß.
    Dann sah sie das Parkhaus. Ein Gefühl der Erleichterung tat sich in ihr auf, als sie das große Gebäude sah.
    Sie spürte eine Luftbewegung in ihren Nacken. Ein Atemstoß.
    Und nun war die Panik gekommen. Sie rannte los, rannte so schnell sie konnte. Sie wollte sich nicht umdrehen, wollte nur laufen. Über die Straße. Ins Gebäude. Sie schaute sich verzweifelt um. Durch die Tür des Treppenhauses, floh die Treppen hoch.
    Erster Stock.
    Das Hallen von Schuhen drang an den Rand ihres Bewusstseins, trieb sie noch mehr an.
    Zweiter Stock.
    Selina schnappte nach dem Geländer, um besser um die Kurve zu kommen. Der Schwung ließ sie stolpern. Zwei, drei Stufen schaffte sie, aber fiel. Sie schlug auf den Stufen auf.
    Ein kurzer Moment der Bewusstlosigkeit. Schmerzen weckten sie, stechend, in der Brust. Sie beantworteten jeden ihrer schweren Atemzüge.
    Langsam, quälend richtete sie sich auf. Es wurde immer schlimmer.
    Sie stieg die letzten Stufen hoch, beobachtete die Treppe, hoffte, dass keiner ihr hinterher kam. Sie stieß die Tür des Parkdecks auf.
    Ihr Auto stand fünf Meter vor ihr. Ein Blick nach links, nach rechts. Nichts.
    Mit letzter Kraft schleppte sie sich zum Auto, entriegelte die Tür. Sie hievte sich rein. Schloss und verschloss die Tür.
    Selina saß auf dem Fahrersitz, erschöpft, aufgelöst. Sie keuchte, hatte kaum Luft. Eine Rippe schien angeknackt, vielleicht sogar gebrochen, zu sein.
    Die Tränen rannen über ihre Wangen. Sie konnte nicht mehr. Sie wollte einfach weinen.
    Vor Angst vor ihrem Häscher.
    Vor Schmerzen, weil ihr Körper völlig erschöpft war.
    Und vor Erleichterung, dass sie es geschafft hatte.
    Zehn, Fünfzehn Minuten saß sie einfach nur da und weinte. Auf dem Beifahrersitz lag die Tageszeitung, die sie zwar von zuhause mitgenommen, aber im Auto liegen gelassen hatte. Der Teil mit den Horoskopen war aufgeschlagen. Selina warf einen Blick auf ihr Sternzeichen. Ihre Augen weiteten sich, fassungslos.
    Waage: „Analysieren sie heute ihre Situation. Vielleicht reagieren sie sonst übertrieben heftig.“
    Der Mond kam wieder hervor.


    Kommentare hier

    >>Träume ergeben erst einen Sinn, wenn man in der Realität für sie kämpft; wer sich aber nur an fremden Träumen bewegt, statt sein eigenes Leben zu leben, ist so gut wie tot.<<


    +++Motoko Kusanagi aus dem Anime "Ghost in the Shell: Stand Alone Complex"+++

    Einmal editiert, zuletzt von Zerzano ()