Zurück am Fluss
Die drei Weltenläufer eilten den gewundenen Gang entlang, so schnell wie sie es ohne Geräusche zu verursachen vermochten. Margil führte sie an. Auch wenn sie in einem Tunnel ohne Abzweigungen den Weg nicht verlieren konnte, zog Firondhir es vor, das Richtungsgespür des blonden Weltenwanderers zu Rate zu ziehen.
Sie waren noch nicht lange gelaufen, als in ihrem Rücken die lähmende Kälte wieder zunahm, noch schwach wie ein kühler Windhauch in einer Herbstnacht, doch deutlich zu spüren. Ihre Verfolger waren ihnen auf der Spur. Firondhir hielt sich nah bei Ydrir, um ihm im Notfall beizustehen – wie, wusste er selbst nicht. Doch der Junge hielt sich tapfer und zeigte fürs erste kein Anzeichen von Schwäche.
Nach zwei oder drei Biegungen öffnete der enge Tunnel sich und das leise Rauschen fließenden Wassers drang an ihre Ohren. Sie hatten den unterirdischen Fluss wieder erreicht. Das Wasser zog so trübe leuchtend dahin wie zuvor. Die drei Aeldari nahmen ihren ursprünglichen Weg wieder auf und folgten der Strömung. Je weiter sie gingen, umso weniger spürten sie die Kälte. Schon begann Firondhir sich eine leise Hoffnung zu machen, dass die Schrecken die Verfolgung beendet, oder wenigsten in der Annahme, ihre Beute würde zum Ausgang flüchten, flussaufwärts gelaufen waren. Doch dann bleib Ydrir unvermittelt stehen.
„Sie sind hier“, flüsterte er.
Margil und Firondhir hielten inne und strengten all ihre Sinne an. Doch weder konnten sie etwas sehen oder hören noch die eisige Kälte fühlen.
„Wo?“ wollte Firondhir wissen. Ydrir wies den Tunnel hinauf.
Eben wollte Margil widersprechen, als ein kalter Hauch zu ihnen hinüberzog. Ein schwaches, purpurnes Leuchten glomm in der Entfernung auf, wo bis vor einem Augenblick noch nichts als leere Dunkelheit gewesen war.
„Wie konnte er dort hingelange, ohne uns zu überholen?“ wisperte Margil.
„Sie tauchen aus den Schatten auf“, antwortete Ydrir mit erstickter Stimme.
„Du wusstest es vorher“, stellte er staunend fest. Ydrir zuckte gleichmütig mir den Schultern. Er hatte selbst keine Erklärung dafür.
Die drei lehnten sich gegen die Wand und warteten ab. Die Schattenkreatur verharrte einige Zeit, wo sie war, dann setzte sie sich in Bewegung und kam ihnen ohne Hast entgegen. Seine eisige Aura wallte ihm voran.
Firondhir spürte, wie Ydrir erneut zu zittern begann. Ohne Umschweife legte er seine Arme um den Jungen. Ydrir nahm die Geste dankbar an und hielt sich an dem Weltenwanderer fest. Ob es dies oder etwas anderes war, vermochte er nicht zu sagen, doch etwas gab Ydrir Halt und Sicherheit, genug, um diesmal angesichts der Präsenz des schrecklichen Schattenwesens nicht in völlige Apathie zu verfallen.
Reglos, verborgen unter ihren Mänteln, standen die Weltenläufer da, während der Mandrak gebeugt mit im Wasser platschenden Füßen an ihnen vorbei schlurfte. Ohne von den Aeldari Notiz zu nehmen, setzte er seinen Weg fort und entfernte sich dann in die entgegengesetzte Richtung flussaufwärts.
„Er ist weg“, wisperte Ydrir. Firondhir ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. Durch einen kurzen Austausch von Gesten verständigten die beiden sich darüber, dass alle in Ordnung war.
„Wohin nun?“ wollte Margil wissen. „Wenn Ydrils Seelenstein in den Händen der Drukhari ist, ist er für uns verloren.“
Ydrir schüttelte den Kopf. „Wir waren auf dem falschen Weg. Wir müssen den Fluss weiter folgen.“
„Das, oder zurück“, stimmte Firondhir zu. „Einen anderen Weg gibt es von hier aus nicht mehr.“
„Und die Mandraceilan?“
„Lasst mich vorgehen“, sagte Ydrir bestimmt. „Es scheint, ich nehme ihre Anwesenheit war lange bevor ihr die Kälte verspürt. Wir gehen ihnen so gut wie möglich aus dem Weg.“
„Bist du dazu in der Lage“, fragte Firondhir besorgt.
„Ich muss“, entgegnete der Junge. „Wir sind IstuKarun. Wer bewegt sich besser ungesehen in den Schatten als wir?“
Firondhir legte ihm anerkennend die Hand auf die Schulter. Dann löste er etwas von seinem Gürtel und legte es in Ydrirs Hand.
„Ich weiß nicht, wie es wirkt, aber du brauchst es jetzt nötiger als ich.“ Ydrir öffnete die Hand und erkannte die lange, braune Haarlocke. Er empfand, wie viel Überwindung es Firondhir gekostet hatte, dieses Kleinod aus der Hand zu geben – und wie viel Vertrauen der Weltenwanderer damit in ihn setzte. Dankbar nickte er und befestigte es an einer seiner Taschen. Dann wandte er sich an Margil: „Wir werden möglicherweise Seitentunnel nehmen müssen, um den Mandraceilan auszuweichen. Ich verlasse mich auf deine Fähigkeit, uns auf dem richtigen Weg zu halten.“
Der blonde Weltenwanderer lächelte. „Ich gebe mein bestes.“
Je weiter sie flussabwärts kamen, umso mehr fächerte sich das Gewässer wieder in verschiedene Arme auf. Jeder Seitenarm floss in einem eigenen Korridor, teilweise völlig getrennt und sich in der tiefen Finsternis verlaufend, teilweise parallel lediglich hinter Reihen von Granitsäulen dahinströmend. Doch der Hauptstrom blieb diesmal erhalten und setzte beständig seinen Weg fort und die drei Aeldari folgten ihm.
Margil versucht sich auszurechnen, wie tief sie inzwischen in das Innere der Kabalenfestung vorgedrungen sein mochten. Zu seinem Missfallen musste er feststellen, dass er jedes Gefühl für den bisher zurückgelegten Weg verloren hatte.
Immerhin, ab dem Augenblick, in dem sie dem Wasser wieder flussabwärts folgten, hatte er einen Bezugspunkt für ihren weiteren Weg. Ein ums andere Mal ließ Ydrir sie anhalten und schien zu lauschen. Nie konnten die beiden Weltenwanderer etwas anderes Wahrnehmen als die bedrückende Stille. Dennoch führte der Junge sie immer wieder auf Nebentunnel, die sich wie Wurmgänge in einem morschen Baum durch das Gestein zu fressen schienen, manche sogar über oder unter dem Haupttunnel hindurch. Zumindest schien es ihnen zuweilen so, als hörten sie das Wasser über ihren Köpfen rauschen.
Eine ganze Weile kamen die drei Aeldari so unbehelligt voran. Ydrir hatte nicht zu viel versprochen. Von den Mandraks war nichts zu sehen oder zu hören, und Margil führte sie sicher immer wieder zum Fluss zurück. Beinahe war es dem blonden Weltenwanderer zu friedlich. Mochte es an seiner misstrauischen Natur liegen, doch bei allem Vertrauen in Ydrirs Fähigkeiten konnte er dennoch nicht glauben, dass sie ihre Verfolger einfach so umgangen und hinter sich gelassen hatten. Je weiter so vordrangen, um so mehr erwartete er, hinter jeder Biegung auf einen der Schatten zu treffen.
Schließlich erreichten die drei eine Gabelung, an der Tunnel in zwei gleich weite Gänge teilte, einer zur Rechten, einer zur Linken. Die schwarzen Löcher gähnten ihnen entgegen, schon wenige Schritte weit war nichts mehr darin zu erkennen.
„Wohin jetzt?“ fragte Firondhir.
Ydrir wandte sich wie suchend um. Ein dunkler Schatten begann sich hinter ihnen zusammenzuziehen, noch zu fern, um eine Bedrohung zu sein, doch nah genug, um ihn deutlich zu spüren. „Sie folgen uns“, sagte er. „Noch sind sie weit entfernt, aber sie kommen rasch näher.“
Sie traten näher an die Gabelung heran. Das Wasser verschwand in beide Löchern mit der gleichen, trägen Geschwindigkeit.
„Lasst uns schnell entschieden,“ drängte Ydrir mit zunehmender Unruhe.
„Woran?“ warf Margil ein.
„Welche Richtung sind wir bisher gegangen?“ entgegnete Ydrir.
„Seit wie wieder dem Fluss folgen in einem weiten Bogen, beinahe einem Halbkreis und dabei stetig tiefer“, antwortete der blonde Weltenwanderer.
„Wie wahrscheinlich kann es sein, dass einer der Tunnel ins von dieser Richtung fortführt?“
„Der rechte eher als der linke. Es sei denn…“
Er verstummte. Nun konnten auch er und Firondhir es spüren: ein kalter Atem, der ihnen entgegenhauchte. Nicht von hinten, sondern aus jeder der beiden Tunnelöffnungen. Bestürzt sahen die drei sich an.
„Wie nehmen den linken Weg“, entschied Firondhir. „Wenn wir Glück haben, müssen wir uns nur an einem von ihnen vorbeischleichen. Es ist uns einmal gelungen, es wir wieder gelingen.“
Während Margil und Firondhir durch die Tunnelöffnung traten, sah Ydrir sich noch einmal nach ihren Verfolgern um – und bemerkte einen leuchtenden Flecken aufgewühlten Wasser. Einer Ahnung folgend trat er näher.
Es war ein Zulauf, der Wasser von irgendwo anders dem Fluss zuführte. Der Auslass lag oberhalb ihrer Kopfhöhe halb hinter einer Felskante, so dass er von weiter vorne nicht zu sehen gewesen war. Das Rinnsal, das daraus hervorkam, plätscherte in einem kleinen Wasserfall über die Kante in den Fluss. Die Öffnung selbst war niedrig, so dass ein Aeldari nur gebückt hatte hindurchgehen könne.
„Seht!“ rief er seine Freunde zurück. Die beiden Weltenwanderer drehten sich um. Sofort erkannte Firondhir, worauf der Junge hinauswollte. Sofort eilte er hinzu, reckte die Arme nach der Kante, stieß sich vom Boden ab und zog sich mit einiger Anstrengung hoch. An dem vom Wasser glattgeschliffenen Gestein gestaltete sich dies schwieriger, als er zunächst angenommen hatte. Gebückt kroch er ein Stück weit in den Tunnel hinein und vergewisserte sich, dass hier keine unerwartete Gefahr lauerte. Gleichzeitig musste er feststellen, dass die Decke auch weiter hinten nicht höher wurde. Er wandte sich um und winkte seinen Gefährten.
Während Margil sich daran machte, die Anhöhe zu erklimmen, sah Ydrir sich mit zunehmender Unruhe im weiten Korridor um. Er wusste, sie durften keine weitere Sekunde verlieren. Schließlich streckte Margil ihm die Hand entgegen und zog den Jungen hinauf. Die drei kauerten sich in den engen Tunnel, darauf bedacht, den Lauf des Rinnsals nicht zu beeinflussen und so möglicherweise ihren Aufenthaltsort preiszugeben.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, ehe sie die beißende Kälte fühlten. Vorsichtig glitt Firondhir an die Öffnung heran, legte sich flach hin und späte über die Kante. Wie aus dem Nichts erschien ein Mandrak im Korridor. Sein Licht schimmerte fahl, während er in gebücktem, lauerndem Gang dem Lauf einige Dutzend Schritte stromaufwärts folgte, sich dann umwandte und zurückkam.
An der Gabelung blieb er stehen und schien sich umzusehen. Firondhir zog sich ein Stück weit zurück und hob leicht den Kopf, um nach Ydrir zu schauen. Der Junge saß scheinbar ruhig mit gesenktem Kopf neben Margil. Sein Atem ging tief und gleichmäßig, seine Hand umschloss die Haarlocke. Mit höchster Anstrengung wehrte Ydrir sich dagegen, von der lähmenden Furcht übermannt zu werden. Für den Augenblick waren sie hier sicher, wenn er sich nur beherrschen konnte.
Firondhir schaute wieder in den Tunnel hinunter. Der Mandraceilan war immer noch da. Er erwog, sein Gewehr anzulegen und die Schattenkreatur ohne Federlesen loszuwerden. Ehe er jedoch handeln konnte, glommen in der gegenüberliegenden Einmündung weitere Lichter auf. Zwei weitere Mandraks tauchten aus der Dunkelheit auf und gesellten sich zu ihrem Artgenossen. Obwohl sie weniger als zehn Schritte entfernt waren, konnte Firondhir nicht hören, ob oder wie sie miteinander sprachen. Ihre wiegenden Bewegungen, gestikulierenden Arme, drehenden und nickenden Köpfe deuteten allerdings darauf hin, dass sie sich über irgendetwas verständigten.
Schließlich vollführte der erste eine gebieterische Geste. Die beiden anderen nickten kurz und beugten dabei leicht den Rücken. Dann trennten sie sich. Einer schlurften den Tunnel hinauf seinen Artgenossen entgegen, der andere nahm den rechten Tunnel. Schon wenige Augenblicke später waren sie im Schatten verschwunden.
Die Aeldari warteten noch einige weitere Minuten. Die Kälte hatte sich längst verzogen, doch Firondhir ließ sich erst von Ydrir versichern, dass keine Gefahr mehr drohte, ehe er sich als erstes über die Kante schwang und in den Tunnel hinunterfallen ließ. Margil folgte, dann halfen sie gemeinsam Ydrir beim Abstieg. Noch etwas steif und benommen landete er auf seinen Füßen.
„Das hast du sehr gut gemacht“, lobte Firondhir den Jungen.
Ydrir zeigte eine Geste bescheidener Dankbarkeit. „Wir sollten weitergehen, solange der Weg frei ist“, sagte er.
„Willst du dich nicht ausruhen“, fragte der Weltenwanderer.
Er schüttelte den Kopf. „Sie sind noch immer hinter uns. Wir sollten nicht zu lange an einer Stelle verweilen.“
„Dann bleibt es also bei dem linken Gang“, stellte Margil fest.“