Kapitel 1
Wahl
Der scharfe Blick des Weltenwanderers durchmaß das Rund der Versammlungshalle. Die IstuKarun[1] hatten sich eingefunden, Ausgestoßene, die, der Pfade überdrüssig, ihr Weltenschiff verlassen hatten. Ob auch nur einer von ihnen sich hatte träumen lassen, was sie da draußen, in der ersehnten Freiheit des weiten Sternenmeeres, wirklich erwartete? Immerhin, bisher hatten sie überlebt, und sie waren zurückgekommen. Das machte sie zu den Besten unter ihresgleichen. Wenn ZarAsuryan rief, kehrten seine Weltenläufer heim.
Mehrere hundert saßen auf den steil aufsteigenden Stufenrängen der ellipsenförmigen Halle. Für gewöhnlich versammelte sich der Rat der Seher hier. Wohl nur der Erste Runenprophet von ZarAsuryan, AthIdainn[2] Eathalvaén, hatte die Autorität – und die Impertinenz – diesen ehrwürdigen Ort für ein Treffen der Ausgestoßenen in Beschlag zu nehmen.
Firondhir lehnte sich zurück und versuchte, die weitgespannte Kuppel der Decke hoch über ihm im dämmrigen Dunkel auszumachen. Wie das filigrane Astwerk eines Baumes zeichneten sich gewundene Phantomkristallstreben ab. Zwischen den Zweigen fiel Licht durch halbtransparente Kristallscheiben in jeder erdenklichen Schattierung von Blau. Der Anblick erfüllte ihn mit gebührender Ehrfurcht, mehr aber noch mit Bewunderung für die Kunstfertigkeit dieses Bauwerkes.
Die wenigsten der übrigen Weltenläufer schienen ihre Umgebung in gleicher Weise wahrzunehmen. Firondhir konnte es ihnen nicht verdenken. Jedem Aeldari war einen Sinn für die Schönheit der Dinge angeboren. Doch wenn die Ausgestoßenen von ihren oft weiten und einsamen Reisen heimkehrten, lag ihr Blick auf anderen Dingen. Manche plauderten oder begrüßten lang nicht mehr gesehene Gefährten. Sicherlich prahlten auch einige mit ihren Abenteuern. Aber keine noch so fantasievoll ausgeschmückte Geschichte konnte heranreichen an die Fährnisse, die einem Wanderer tatsächlich auf dem Pfad des Ausgestoßenen begegneten.
Firondhir und Illurayon hatten wahrscheinlich schon mehr erlebt als all die jungen Aeldari hier zusammen. Aber die Reise, die ihnen jetzt bevorstand, sollte über alles Bisherige hinausgehen. Mehr allerdings wusste Firondhir auch nicht. Der AthIdainn hatte nichts mehr als vage Andeutungen gemacht, als er sie zu sich gebeten hatte. Die Zukunft des Weltenschiffs ZarAsuryan würde eine neue Wendung nehmen, zum Guten oder zum Schlechten. Das hinge nun von ihnen ab.
Aber war es nicht immer so, wenn die Runenpropheten die Weltenläufer heimriefen und den Kriegsrat sich versammeln ließen? Allerdings, Autarchen und Exarchen waren hier und heute nicht anwesend. Und auch die anhaltende Spannung, die das Bewusstsein eines Weltenschiffs durchströmte, wenn der Avatar Kaela Mensha Khaines[3] im Begriff war zu erwachen, war nicht zu spüren. Krieg stand nicht bevor. Nicht für die Bewohner des ZarAsuryans, nicht für die Aspektkrieger der Schreine der Asurya. Eine Aufgabe für die IstuKarun lag an. Heimliche Suche, stille Jagd.
Illurayon war der Vorausschauendere von ihnen beiden, und mehr als das. Seit sie sich kannten, hatte er stets so etwas wie die Führungsrolle übernommen. Wohl deshalb war er es nun auch, den der AthIdainn zu einem vertraulichen Gespräch zu sich gebeten hatte. Aber sein Freund hatte ihm noch nie etwas verheimlicht. Firondhir sah keinen Grund, über die Maße besorgt zu sein.
Eathalvaén wandelte über die verschlungenen Wege der weitläufigen Gärten in der Kuppel der Seher. Der regelmäßige Lichtwechsel in den Biodomen des Weltenschiffs hatte grade die Hälfte der Dunkelphase überschritten. Auf einem Planeten hätte man die Zeit wohl Mitternacht genannt. Das Fehlen des Tageslichts erlaubte den Blick auf die Sterne, deren weiß glänzende Lichtspitzen die hauchdünne, klare Kristallhaut der Kuppel durchdrangen. In der tiefblauen Dämmerung hatten zahlreiche Nachtblumen ihre großen, goldenen und purpurroten Kelche geöffnet und verströmten einen schweren, angenehmen Duft. Nächtliche Falter, samtviolett und groß wie Singvögel, gaukelten von einer Blüte zur anderen. Heimchen zirpten leise ihr Nachtkonzert.
Irgendwo hinter diesem Gemälde der Sinne war für den empfindsamen Geist ein sphärischer Klang zu vernehmen, eine lautlose, auf und abschwellende Melodie wie das Rauschen des Meeres. Ein Meer aus Sternen, das die weit verstreuten Inseln des Volkes der Aeldari trennte und zugleich miteinander verband. Nächte in den Gärten eines Weltenschiffs hatten ihre ganz eigene Magie.
Neben dem Runenpropheten schritt schweigend eine Gestalt, selbst für einen Aeldari hochgewachsene und in einem langen, schwarzen Mantel gehüllt. So bedacht und kontrolliert waren seine Bewegungen, dass man ihn in der Dunkelheit erst auf den zweiten Blick wahrnahm.
„Hörst du das Meeresrauschen?“ fragte Eathalvaén.
„Es sind nur die sanften Wellen, die unsere Küsten umspielen“, antwortete der Weltenwanderer. „Die wilde See liegt woanders, und mögen sich ihre Wellen nie an unseren Mauern brechen. Ich habe mich schon lange nicht mehr so weit hinausbegeben.“
„Das Sternenmeer wird diesmal nicht euer Weg und euer Ziel sein, Illurayon.“
„Ihr wisst, Eathalvaén, welchen Weg auch immer einzuschlagen Ihr mich bittet, ich werde ihn beschreiten.“
„Diesmal wage ich nicht, dich zu bitten. Auch Firondhir nicht. Keinen von euch. Ich werde euch eröffnen, was die Runen mir eröffnet haben, und dann mag jeder selbst entscheiden, ob er bereit ist, an jenen Ort zu gehen, den kein Wesen betritt, ohne von seinen Bewohnern dorthin gezerrt worden zu sein.“
Illurayon schwieg kurz. Diese rätselhafte Art zu sprechen, zeichnete Runenpropheten mitunter aus, mochte es nun sein, dass sie selbst den Runen keine klareren Begriffe hatten entlocken können, sei es, weil sie das, was sie gesehen hatten, nicht auszusprechen wagten.
Doch Illurayon kannte den Ersten Runenpropheten von ZarAsuryan schon sein halbes Leben lang. Eathalvaén sprach offen, offener als es dem Rat der Seher zuweilen recht war. Wenn er solche Formulierungen gebrauchte, dann nicht, weil er selbst das fürchtete, was er nicht beim Namen nennen wollte. Er fürchtete um den, zu dem er sprach. Eine leichte Beklemmung beschlich den Weltenwanderer, denn er wusste die dunkle Rede wohl zu deuten.
„Eathalvaén, sprecht nicht in Rätseln zu mir, zumal ich einen Teil ohnehin schon erraten habe.“
Der Runenprophet lächelte.
„Deiner Gabe entzieht sich wenig, Illurayon. Deswegen fällt es mir umso schwerer, dich auszusenden, denn sie ist der vornehmliche Grund, dass du der Einzige bist, der diese Mission zum Erfolg führen kann.“
„Was ich weiß und was ich kann, habt Ihr mich gelehrt, ArdIdainn[4]. Ihr sendet uns in das Reich der Drukhari, nach Commorragh.“
Der Runenprophet hielt in seinen Schritten inne, wandte sich dem Weltenwanderer zu und sah ihn an. Illurayon schrak zurück vor dem Blick in seinen grüngrauen Augen. Neun Jahrtausende, die man dem AthIdainn sonst nicht ansah, lagen auf seinem Gesicht. Aus dem Blick allein, ohne dass Eathalvaén ein Wort hätte sprechen müssen, wusste Illurayon, was ihm auf der Seele lastete:
„Du wirst von dort nicht zurückkehren.“
Illurayons Inneres schnürte sich zusammen. Das Leben eines Weltenwanderers war niemals sicher. Er hatte sich dafür entschieden, in dem Augenblick, da er den Pfad der Aeldari verlassen hatte. Aber der Tod war ein Risiko, das man mit Geschick und Vorsicht meiden konnte. Und Firondhir und er, sie waren sehr gut darin – bisher.
Eathalvaén richtete seinen Blick zu den Sternen auf. Wie oft in den letzten Jahrhunderten hatte er schon dem Jungen König diese Botschaft überbracht. Selten, im Vergleich zu anderen Weltenschiffen, und doch viel zu oft. Doch Illurayon war kein Exarch, der dafür lebte, sich selbst im Dienst des Kriegsgottes aufzugeben. Er hatte sich für die Freiheit des Sternenmeeres entschieden. Mit außergewöhnlicher psionischer Begabung gesegnet, doch nur wenige Schritte davon entfernt, sich in der ewigen Verdammnis zu verlieren, hatte Eathalvaén sich seiner angenommen. Auf dem Pfad des Sehers hatte auch er ihn nicht halten können, doch hatte er ihn gelehrt, seine Gabe unter Kontrolle zu halten. Wofür?
„Ihr sagtet, Ihr würdet mich nicht bitten«, hörte er den Weltenwanderer sagen. Seine Stimme, wie vom anderen Ende des Universums hinüberdringend, war gefasst, doch ließ die Furcht in ihr sich nicht verbergen. „Aber es muss einen Grund geben, warum Ihr grade an mich herangetreten seid.“
Eathalvaén sah ihn wieder an.
„Ohne dich wird die Reise fehlgehen. Keine Vision, die ich je hatte, war klarer, gleich welche Pfade der Zukunft ich verfolgt habe.“
Illurayon holte tief Luft.
„Ihr wollt mich nicht bitten. Aber eine Wahl bleibt mir trotzdem nicht.“
„Du kannst fortgehen“, entgegnete der Runenprophet. „Wie die IstuKarun es immer tun.“
„Und nie mehr zurückkehren. Weil es nichts zum Zurückkehren geben wird. Eine Ewigkeit durch die Sterne zu wandern ohne eine Heimat, um beizeiten Ruhe zu finden. ArdIdainn, ich weiß, dass Euch nichts mehr bedeutet als das Weiterbestehen ZarAsuryans.“
Eathalvaén sah einen Sekundenbruchteil zur Seite.
„In einem irrst du.“
Eine Weile gingen die beiden schweigend weiter, bis schließlich die gewaltige Kuppel der Halle der Seher sich bläulich schimmernd gegen den Sternenhimmel erhob.
Bevor sie eintraten, blieb Eathalvaén noch einmal stehen.
„Du fürchtest dich, Illurayon. Vor der Entscheidung, und vor den Folgen, die sie nach sich ziehen wird, gleich wofür du dich entschließt.“
„Es besteht wirklich keine Möglichkeit, die Dinge in eine andere Richtung zu lenken?“
Eathalvaén lachte leise.
„Ich gebe zu, auch ich bin nicht allwissend und unfehlbar. Und zeigt sich auch nur die kleinste Hoffnung, so ergreife sie und halte sie fest. Vielleicht findest du einen Weg, den ich übersehen habe. Doch bitte ich dich: Wenn du die Tore der Großen Halle durchschreitest, habe deine Entscheidung getroffen.“
Firondhir sah auf. Ein hoher, schmaler Bogen ausgefüllt mit weißem Licht tat sich auf, als die rankenverzierten Türflügel der Großen Halle sich langsam auseinanderschoben. Zwei dunkle Figuren lösten sich aus der Helligkeit.
Illurayon trat ein, gefolgt vom Ersten Runenpropheten ZarAsuryans. Ein seltsames Gefühl beschlich Firondhir beim Anblick seines Freundes, er konnte es nicht genau einordnen. Irgendetwas Bedrückendes war an ihm, an seiner Bewegung, auch wenn sein Gesicht so ruhig und gefasst wie immer war. Kaum bemerkte er, wie es um ihn her mit jedem Augenblick ruhiger wurde und sich immer mehr Augenpaare gespannt auf die Eintretenden richteten.
Lautlos huschte Illurayon durch das dämmrige Dunkel zu den Rängen und setzte sich neben Firondhir. Der sah ihn erwartungsvoll an, doch Illurayon bedeutete ihm, nicht zu sprechen und wies in Richtung des Runenpropheten.
Eathalvaén schritt durch den Saal, groß und aufrecht. Seine feingliedrige linke Hand umschloss seinen Runenstab, ruhend, kraftvoll trotz seines hohen Alters, eher, als hielte er eine Waffe, denn eine Stütze. Er blieb in dem goldenen Lichtstrahl in der Mitte der Halle stehen. Der mitternachtsblaue Sehermantel fiel in schweren, samtenen Falten von seinen Schultern bis auf den Mosaikboden. Silberne Runen glänzten auf den morgenhimmelblauen Aufschlägen. Das silbergrau durchzogene Haar lang und offen über den Rücken fallend, die feinen, ebenmäßigen Gesichtszügen voll ruhigem Ernst, ließ er seinen Blick durch die Runde schweifen.
„IstuKarun“, hob er an zu sprechen. Seine helle, melodische Stimme, wenngleich nicht übermäßig laut, erfüllte die gesamte Halle. „Angereist, heimgekehrt, dem Ruf gefolgt aus den entferntesten Weiten des Sternenmeeres. Nicht ohne Grund habe ich euch herkommen lassen.“
Er konnte die ungeteilte Aufmerksamkeit aller seiner Zuhörer fühlen: Neugier, Abenteuerlust, Aufregung, auch Sorge und Unsicherheit bei einigen, alle nur erdenklichen Farben von Gefühlen der Erwartung. Doch ein dunkler Flecken unheilvoller Gewissheit trübte das Bild wie die Leere eines schwarzen Sterns. Einen kurzen Moment schwieg er und versuchte, seinen Geist vor diesen Empfindungen zu verschließen, bevor er weitersprechen konnte.
„Schon oft habt ihr euren Teil dazu beigetragen, Bedrohungen von ZarAsuryan abzuhalten. Wie oft habt ihr euch wohl wissend in größte Gefahren begeben, um ein dunkles Schicksal von ZarAsuryans abzuwenden?“
Auch wenn Eathalvaén es im Halbdunkel der Halle kaum sehen konnte, so spürte er doch: Kein Gesicht, dass nicht von tiefstem Ernst, keine Seele, die nicht von höchster Entschlossenheit erfüllt war.
„Nichts Geringeres trage ich in dieser Stunde an euch heran. Doch kann und will ich keinen von euch zu diesem Auftrag verpflichten.“
Erstauntes Schweigen breitete sich aus. Für gewöhnlich bestimmten die Runenpropheten jene, die auf eine Mission ausgesandt wurden, bereits vorher. Auf geheimnisvolle Weise wussten sie, wen es brauchte, damit das Unternehmen erfolgreich verlief. Fragend blickte Firondhir Illurayon an. Doch sein Freund hatte nur die Augen niedergeschlagen und starrte ins Dunkel.
Illurayon hatte seine Entscheidung bereits getroffen, als Eathalvaén ihm den Auftrag unterbreitet hatte. Wie hätte er seinem Meister seine Hilfe versagen können, welchen Preis sie ihm auch abverlangte? Er sorgte sich nicht um sich selbst. Er sorgte sich um seinen Freund. Wie der AthIdainn ihn auf dem Pfad der Seher angeleitet hatte, so hatte er den unerfahrenen Weltenläufer vor langer Zeit davor bewahrt, sich völlig auf dem Pfad der Ausgestoßenen zu verlieren. Seither waren sie unzertrennlich. Firondhir würde ihm nicht von der Seite weichen, ganz gleich was ihnen widerfahren würde. Doch dass er das Schicksal, das ihm bevorstand, teilen sollte, konnte und wollte Illurayon nicht zulassen.
„Nichts Geringeres“, fuhr der Runenprophet fort, „sondern sehr viel mehr. Die entferntesten Orte und dunkelsten Winkel der Galaxis habt ihr aufgesucht. Chem-Pan-Sey[5] und Orkead[6], illMureead[7] und Necrons, selbst den Dienern des Großen Feindes habt ihr getrotzt. Doch diesmal führt der Weg dorthin, wo der Ort und seine Bewohner gleichermaßen und auf vielfältigste Weise gefährlich sind. Nicht hinaus in die Weiten der Galaxis führt er, sondern tief in die verschlungenen Labyrinthe des SercamBelach[8].“
Ein Gemurmel ging durch die Ränge. Die ersten der Weltenläufer und Weltenwanderer begannen zu verstehen, wovon der Runenprophet sprach.
Eathalvaén nickte langsam, während er wiederholt seinen Blick durch die Runde streifen ließ.
„Die Dunkel Stadt soll euer Ziel sein. Und wir alle wissen, dass jene, die dort leben, obwohl von unserem Volk, uns fremder nicht sein könnten. Was sie einem Lebewesen gleich welcher Art anzutun vermögen, ist für uns nicht vorstellbar. Und gleichwohl ich von jedem von euch weiß, dass er bereit wäre, selbst die schwersten Prüfungen auf sich zu nehmen, so weiß ich doch ebenso, dass dies nicht die wahre Gefahr der Dunklen Stadt ist. Schlimmer als der Tod ist die ewige Verdammnis, die unseren Seelen dort droht, und der die Schwäche unserer Natur sich nur allzu gerne hingibt. Wir wissen, wer sich dort verliert, findet niemals den Weg zurück.“
Der Saal war stumm geworden. Bedrückendes Schweigen erfüllte die Kuppel. Das Dämmerdunkel zog sich zu schwarzer, schwerer Finsternis zusammen.
„Daher kann und werde ich niemanden von euch dazu bestimmen, diese Reise zu unternehmen. Die Runen haben die Entscheidung getroffen: Fünf IstuKarun gehen aus freiem Willen in die Dunkle Stadt. Keiner mehr. Keiner weniger.“
Eine lange Pause trat ein, als ob jeder erwartete, dass der einer oder die andere etwas sagte, dass einer den Anfang machte.
„Mir ist es bereits bestimmt zu gehen“, erklang eine Stimme aus dem Dunklen. Einer der Weltenwanderer hatte sich erhoben und schaute in die Runde.
Firondhir erschrak und schaute zu Illurayon auf. Langsam schritt sein Freund die Stufen hinunter und stellte sich neben den Runenpropheten in Lichtkegel. Seine Kapuze hatte er zurückgelegt. Der Schopf aus fast weißen Haaren, die sich in einer traditionellen Frisur nur längs über die Mitte des Kopfes zogen und zu einem hohen Zopf gebunden waren, schimmerte im weißgoldenen Licht. Seine ernsten Gesichtszüge schienen noch schärfer, die dunkelblauen Augen noch tiefer als sonst.
„Wer geht mit mir?“ wandte er sich an die Anwesenden.
Ehe er noch wusste, wie ihm geschah, war Firondhir aufgesprungen. Einen langen Augenblick stand er auf den Stufen, unschlüssig, was er eigentlich hatte tun wollen. Dann wurde ihm bewusst, dass er, dass etwas in ihm damit eine Entscheidung getroffen hatte, die er nicht mehr zurücknehmen konnte. Nicht vor dem AthIdainn, nicht vor den versammelten IstuKarun und nicht vor Illurayon. Diese Reise konnte er seinen Freund, dem er sein Leben verdankte, nicht alleine antreten lassen. Nicht nach allem, was sie seither erlebt und überstanden hatten, nach allem, was sie miteinander verband. Mit schweren Schritten stieg auch er hinunter und stellte sich neben Illurayon.
Illurayon seufzte kaum hörbar. Wie er es erwartet hatte. Allein der Wunsch, nur dieses eine Mal mochte Firondhir ihn alleine ziehe lassen, wäre illusorisch gewesen. Dabei konnte er das Unbehagen seines Freundes deutlich spüren. Und zugleich seine Entschlossenheit und sein Vertrauen. Bei aller düsteren Vorbedeutung, mit er diese Reise antreten musste, war Firondhirs Treue ihm ein Funken der Zuversicht.
Der Anfang war getan. Wenige Augenblicke später erhob sich der nächste Weltenläufer, dann noch einer und zwei weitere.
Irgendwo in den hinteren Rängen stand ein junger Mann, fast noch mehr ein Junge, mit schmalem, blassem Gesicht und fast durchsichtigen Augen auf und schickte sich an, die Stufen hinunterzusteigen. Sein Sitznachbar packte ihn am Arm.
„Ydrir, was tust du? Das ist keine Aufgabe für uns!“ flüsterte er energisch.
Der Angesprochen drehte sich zu ihm um und sah ihn an, als würde er durch ihn hindurch blicken.
„Ich muss mitgehen“, sagte er mit einem Tonfall, als wäre dies das selbstverständlichste der Welt.
„Rede keinen Unsinn. Das ist eine Aufgabe für Weltenwanderer, die weitaus erfahrener sind als wir.“
„Es ist besser, du bleibst. Aber ich gehe“, entgegnete Ydrir, machte sich los und stieg die Stufen hinunter.
„Als ob ich dich allein ließe“, fauchte der andere und folgte ihm.
Am Ende standen ein gutes Dutzend Männer und Frauen im Rund der Halle.
„Ich danke euch allen“, sprach Eathalvaén in die Runde. „Niemand derer, die nun nicht hier stehen, muss beschämt sein. Nur wer ein Wagnis einzugehen bereit ist, kann auf Erfolg hoffen. Wer es nicht ist, dient dem Unternehmen umso mehr, wenn er sich nicht beteiligt.“
Dann wandte er sich an die Freiwilligen.
„Fünf, nicht mehr, nicht weniger. Über zwei hat das Schicksal bereits entschieden.“ Er sah Illurayon und Firondhir an. Firondhir vernahm die Worte mit Unbehagen. „Über die drei weiteren wird nun das Los der Runen entscheiden müssen.“
Der Runenprophet öffnete einen weißen Samtbeutel an seinem Gürtel und griff hinein. Als er die Hand öffnete, stiegen daraus drei filigran verzweigte Phantomkristall-Runen wie Leuchtkäfer empor. Goldgelbes Licht verströmend, zogen sie ihre Kreise über der Gruppe und hielten schließlich jede, eine nach der anderen, schwebend über einem der IstuKarun an.
„Die Wahl ist getroffen.“
„Nein!“ fiel ihm einer der Weltenläufer ins Wort. Überraschtes, teils empörtes Gemurmel breitete sich in der Halle aus.
Eathalvaén blieb ruhig und sah den Sprecher an. Es war ein junger Mann mit haselnussbraunen Augen und ebensolchen Haaren, die er zu einem Zopf hochgebunden hatte. Dicht neben ihm stand ein zweiter, etwas schmaler und feingliedriger von Gestalt, doch mit den gleichen Gesichtszügen, die braunen Locken in jugendlicher Haartracht kinnlang und nur das Haar über dem Scheitel am Hinterkopf zusammengebunden. Über ihm schwebte eine der Runen.
„Nenne deinen Namen“, verlangte der Runenprophet.
„Ydril, AreIdainn[9]“, antwortete der Weltenläufer. „Und dies ist mein Bruder Ydrir. Er wird die Reise antreten, doch nicht ohne mich.“
Der andere schaute betreten zu Boden.
„Ydril, deine Sorge um deinen Bruder ehrt dich. Doch die Runen haben die Wahl getroffen“, entgegnete Eathalvaén.
„Ich trete freiwillig zurück“, ließ sich eine andere Stimme vernehmen.
Der junge Weltenläufer zuckte zusammen, als hätte er gefürchtet, dass jemand diese Worte aussprach. Sie kamen von einer blonden Frau, aus deren grauen Augen die Erfahrung vieler Jahre auf dem Pfad des Ausgestoßenen sprach. Die Rune über ihr glitt auf ihre Handfläche und folgte der Bewegung, als sie die geöffnete Hand Ydril entgegenstreckte.
„Zwillinge zu trennen ist ein schlechtes Vorzeichen. Mein Tatendrang soll nicht der Grund sein, dass diese Mission fehlschlägt.“
Ydril nahm die Rune entgegen.
Eathalvaén schien für einige Augenblicke weit entfernt zu sein. Dann nickte er.
„So sei es denn. Möge deine Zurückhaltung nicht das herbeiführen, was du zu vermeiden suchst.“
„Ich danke dir“, sagte Ydril an die Frau gewandt.
Der fünfte IstuKarun, der bisher am Boden gehockt hatte, erhob sich nun, so rasch, dass die schwebende Rune sich beinahe in seinen schulterlangen, blonden Locken verfing.
„Hervorragend. Dann kann der Spaß ja beginnen.“
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[1] IstuKarun = Heimliche Jäger
[2] AthIdainn = Hoher Runenprophet (Titel)
[3] Kriegsgott der Aeldari
[4] ArdIdainn = Meister Runenprophet (Vertraute Anrede durch einen Schüler)
[5] Menschen
[6] Orks
[7] Tyraniden
[8] Das Netzt der Tausend Tore
[9] AreIdainn = Geehrter Runenprophet (Formelle Anrede)