Einsammeln
Ein schwaches, tanzendes Licht erschien, grünlich-weiß und kalt. Es glitt heran, als wiegte es sich im langsamen Takt einer unhörbaren Musik. Die Stimmen waren verstummt.
Das Licht näherte sich. Die Augen der beiden Weltenwanderer hatten sich so sehr an das Dunkel gewöhnt, dass es ihnen blenden hell erschien. Dabei waren die Granitwände so tiefschwarz, dass sie kaum mehr als eine Armlänge im Umkreis der Lichtquelle erleuchtet wurde.
Im Näherkommen zeichneten sich Gestalten ab, eine kleine Gruppe, sechs, vielleicht sieben oder acht. Nun konnten die beiden Weltenwanderer sie genauer erkennen. Es schienen Aeldari zu sein, doch war dies an ihrem entstellten Erscheinungsbild nur schwer festzumachen. Ihre Gesichter waren hinter gewölbten, metallenen Masken verborgen, die nicht mehr als einige Sehschlitze als Öffnungen hatten. Die Oberkörper waren nackt, athletisch und sehnig, doch in dem fahlen Licht blass wie Wasserleichen und überzogen mit Knoten und Narben. Aus Buckeln am Rücken entsprangen knochige Bögen und Äste, an denen gläserne Phiolen hingen. Dünne Schläuche leiteten den purpurrot glühenden Inhalt unablässig unter die Haut der Gestalten. Bei einigen Stecken die Gefäße direkt in den Muskeln.
Die schauderhaften Wesen trugen grobschlächtige Waffen und Werkzeuge: Sicheln, Beile, Messer, Injektoren. Bei manchen ersetzen sie sogar gänzlich die Hände. Bedrohlich warfen die gezackten Schneiden und fingerdicken Nadelspitzen das Licht zurück. Die einzige Kleidung der Gestalten waren weiten, knöchellangen Röcken aus etwas, das wie rohes Leder aussah. Jeder trug eine eigene Lampe in Form einer leuchtenden Kugel an einer groben Kette um seinen Hals. Sie bewegten sich in einem gemessenen Schritt, fast wie in einer Prozession. Außer dem Tappen ihrer bloßen Füße ging keinen Laut von ihnen aus.
Dann tauchte etwas anderes hinter ihnen auf, etwas Großes, Verstörendes, eine Monstrosität aus Muskeln und Gliedmaßen. Es überragte die Vorderen fast um das Doppelte. Aus den breiten Schultern entsprangen nicht nur gewaltige Arme, sondern auch drei Wirbelsäulen, die sich in einem verformten Buckel über den Rücken wölbten. Knöcherne Stacheln ragten daraus hervor. Auch dieser Kreatur steckten mit Flüssigkeiten gefüllte Schläuche und Gefäße in Rumpf und Gliedern. In der einen Hand hielt sie eine breite, einschneidige Klinge. Die andere war durch eine metallene Prothese mit dornenartigen Klauen ersetz. Der im Vergleich zum entstellten Körper kleine Kopf steckte in einer schwarzen Eisenmaske.
Das einzige Wesen dieser schaurigen Truppe, das sein Gesicht zeigte, ging direkt vor der Monstrosität. Eher schien es zu schweben, beinahe zerbrechlich im Gegensatz zu seinen grobschlächtigen Begleitern. Die spitzen Ohren und die elegante Gestalt gaben es unzweifelhaft als Aeldari zu erkennen. Doch die feinen Gesichtszüge waren ausgezehrt, die alabasterweiße Haut wie eine Maske darüber gespannt. Lange, strähnige Haare von reinstem Weiß fielen vom Scheitel. Ein schwarzes, glänzendes Mieder umspannte die zierliche Taille. An dem tiefroten, blutfleckigen Kittel glänzten an Schnüren aufgereihte Nadeln und Messer. Ein weiter Mantel aus Haut lag über den bloßen Schultern und bedeckte die Brust. Neben seinen eigenen Armen, die in schwarzen, bis zum Ellenbogen reichenden Handschuhen steckten, trug es noch ein weiteres Paar, das anstelle von Händen mit chirurgischen Werkzeugen versehen war.
Der Anblick des Geschöpfes ließ Firondhir erstarren. Erinnerungen überkamen ihn wie eine Sturzflut. Schmerzhafte, grauenvolle Erinnerungen, die er tief vergraben zu haben glaubte. Das fahlgelbe Licht, die unerklärlichen schlurfenden und kratzenden Geräusche in den tiefsten Schatten. Die schwüle Hitze. Der beißende, metallische Geruch. Erinnerungen an ungezählte Stunden der Qual, die auch dann nicht endeten, als er den Grund ihres Aufenthalts in Commorragh offenbart hatte. Der Foltermeister hatte einfach weiter gemacht. Eine brennende Flüssigkeit war in seine Adern gepumpt worden, unablässig, die ihn hinderte, das Bewusstsein zu verlieren, sodass er alles mit ansehen musste, was der Drukhari mit Illurayon getan hatte.
Er war von gleicher Art gewesen wie dieser hier. Das gleiche abstoßende Erscheinungsbild, die gleichen missgestalteten Gehilfen. Mit einem Unterschied: dieser hier war eine Frau.
Langsam zerfloss das Entsetzen und mit ihm die Erstarrung und machten Raum für eine neue Regung: abgrundtiefer Hass, der Firondhir alles andere vergessen ließ. Seine Hand tastete nach seinem Feldmesser.
Unbewusst musst er eine Körperhaltung eingenommen haben, die seine selbstzerstörerischen Absichten verraten hatten, denn auf einmal stand Margil hinter ihm und hielt ihn an beiden Armen fest.
„Begeh nicht wieder so eine Dummheit!“ raunte er ihm scharf zu. „Das sind mehr als nur ein einzelner Drukhari-Prinz.“
Firondhir schien ihn nicht zu hören oder zu verstehen. Er zerrte an seinen Armen, wand sich in seinem Griff, versucht mit aller Macht, sich loszumachen. Margil musste alle seine Kräfte aufbieten, um ihn festzuhalten, und konnte ihn dennoch kaum bändigen.
„Halt an dich, sonst entdecken sie uns“, herrschte er Firondhir mit unterdrückter Stimme an. Doch der Weltenwanderer ließ nicht ab. Inzwischen war die düstere Prozession nur noch wenige Dutzend Schritte entfernt.
„Ydrir, hilf mir!“ rief Margil in Gedanken mit einer Andeutung von Hilflosigkeit. Ydrir zögerte keinen Moment und huschte zu den miteinander ringenden Weltenwanderern hinüber. Er fasst Firondhir am rechten Arm, Margil hielt den Linken fest. Mit vereinten Kräften gelang es den beiden, ihren Gefährten von dem Durchgang fortzuziehen und in eine Nische an der gegenüberliegenden Wand zu bugsieren.
Keinen Augenblick zu früh, denn im nächsten Moment hatten die Missgestalten die Passage erreicht und durchquerten die Öffnung zwischen den Felssäulen. Margil und Ydrir stellten sich vor Firondhir und drückten ihn in die Spalte.
„Bei allem, was die Götter uns gelehrt haben, besinne dich. Wenn sie uns bemerken, ist es um uns geschehen“, flehte Ydrir. Firondhir holte tief Luft. Wer wenn nicht er wusste, was sie erwartete, wenn sie einem Haemonculus in die Hände fielen. Sein unkontrollierter Gefühlsausbruch hätte seine Freunde beinahe diesem Los ausgeliefert. Er rang um Beherrschung. Unwillkürlich fuhr seine Hand dabei an seinen Gürtel und die Finger begannen, mit der Haarlocke zu spielen. Reglos verschmolzen die drei IstuKarun mit dem Schatten um sie herum und beobachteten das Geschehen nur wenige Schritte von ihnen entfernt.
Die Frau und die Monstrosität blieben in der Pforte stehen. Die übrigen Gestalten schwärmten aus. Jede einzelne trat an eine der auf den Felsnadeln drapierten Leichen heran und begann sie mit ihren Klingen und Kanülen zu bearbeiteten, schnitt Organe heraus oder entnahm Körperflüssigkeiten. Margil hatte recht gehabt: diese grausige Sammlung war ein Vorrat.
Die Gehilfen setzten ihre abstoßende Arbeit fort. Obwohl sie kein Wort sagte, schien die Haemoncula ihren Geschöpfen Anweisungen zu erteilen, welchem Körper sie welche Teile zu entnehmen hatten. Eben hatte einer der Folterer, nur eine Armlänge von den Weltenläufern entfernt, seine widerliche Tätigkeit beendet und verstaute eine unbestimmbare, triefende Gewebemasse in einem Beutel an seiner Schürze. Seine Meisterin richtete seinen Blick auf ihn. Augenblicklich wandte er sich ihr zu und kehrte mit wiegenden Schritten zu ihr zurück.
Im selben Moment spürten Margil und Ydrir, wie auch Firondhir einen Schritt nach vorne tat. Geistesgegenwärtig stemmte Margil sich ihm entgegen. Irgendetwas verleitete ihn dazu, dem Folterer folgen zu wollen. Ohne gewaltsame Gegenwehr, doch unnachgiebig wie von einem fremden Willen gelenkt, drängte er gegen seine Gefährten an, sodass sie alle ihre Kraft aufbringen mussten, ihn zurückhalten. Dennoch wagte Margil nicht einmal, ihn in Gedanken anzusprechen, unsicher, ob die Drukhari-Frau dies bemerken würde. Ydrir fasste Firondhirs Hand, drückte sie um die Haarsträhne zusammen und hielt sie fest.
Sie mussten die Aufmerksamkeit der Drukhari erregt haben, denn auf einmal zeigte ihr hageres Gesicht genau in ihre Richtung. Erst jetzt fiel Margil auf, dass ihre Augen zwei verschiedene Farben hatten, das rechte gelb, das linke violett. Ihr Blick war verstörend, er verursachte Übelkeit. Endlose Augenblicke starrte sie zu ihnen herüber. Margil kam es wie Stunden vor. Aber sie konnte sie unmöglich gesehen haben. Sie standen im völligen Dunkel, ihre Mäntel nahmen die Farbe des Steins an, sie waren unsichtbar. Oder war an diesen unnatürlichen Augen irgendetwas, das den Schatten durchdringen konnte? Und wenn sie ihre unförmige Kreatur zu ihnen schickte…
Die Haemoncula wandte den Kopf, als würde sie etwas aus einer anderen Richtung hören. Doch es war immer noch still in dem Tunnel. Dann wies sie auf einen anderen Überrest. Ihr Gehilfen folgten ihrem unhörbaren Befehl, trottete hinüber und machte sich daran zu schaffen. Gleichzeitig ließ Firondhir von seinem Drängen ab und lehnte sich schwer atmend gegen die Wand. Sein Kopf fühlte sich leer an, seine Glieder lahm und kraftlos, als hätte eine fremde Macht die Kontrolle über sie fahren lassen, sein eigener Geist sie aber noch nicht zurückgewonnen. Das Einzige, was er spürte, war die Haarlocke in seiner Faust.
Es mochten eine Stunde oder mehr sein, die sie so verharrten, ehe die Drukhari schließlich ihre Arbeit vollendet hatten. Die Folterer sammelten sich bei ihrer Herrin, und so feierlich und gespenstisch, wie sie gekommen war, zogen die Prozession wieder davon.
Erst als auch der entfernteste Schein ihrer Lichter verschwunden war, traten die drei Aeldari aus ihrem Versteck. Firondhir holte tief Luft.
„Was war los mit dir?“ zischte Margil, und setzte hinzu: „Und ich meine nicht deinen Zornesausbruch, den musst du mir nicht erklären.“
Firondhir schüttelte betreten den Kopf. „Ich weiß es nicht“, antwortete er mit belegter Stimme. „Diese Frau. Irgendetwas war an ihr. Ich war nicht Herr meines Willens. Es war wie ein Ton, den man nicht hört.“
„Oder ein Duft, den man nicht riecht“, ergänzte Ydrir.
„Du auch?“ fragte Margil erstaunt. „Was hat dich zurückgehalten.“
Verlegen schaute er zur Seite. „Das gleiche wie Firondhir.“
Margil konnte mit der Antwort nicht viel anfangen. Firondhir dafür umso mehr. Der Gedanke an Ànathuriel hatte ihn davor bewahrt, dem unheilvollen Einfluss der Haemoncula gänzlich nachzugeben. Und offenbar verhielt es sich bei Ydrir genauso. Die besondere, psionische Verbindung, die der Junge zu ihr hatte, würde ihm selbst immer vorenthalten bleiben. Der Gedanke versetzte ihm einen Stich, der einen finstern, nagenden Schmerz irgendwo im hintersten Winkel seiner Seele hinterließ.
„Was auch immer“, seufzte Margil. „Wenn wir den Drukhari folgen wollen, müssen wir uns beeilen, sonst verlieren wir ihre Spur.“
„Warum folgen?“ entfuhr es Ydrir entsetzt. „Hast du nicht gesehen, was sie mit den Toten gemacht haben?“
„Eben deswegen“, stimmte Firondhir zu. „Wir müssen davon ausgehen, dass sie mit Ydril genauso verfahren sind. Wenn sein Seelenstein nicht irgendwo hier liegt, müssen sie ihn mitgenommen haben.“
Der Gedanke war ebenso einleuchtend wie verstörend. Dennoch schien er Ydrir falsch. „Ihr irrt euch“, sagte er bestimmt. „Wir sollten weiter dem Wasser folgen.“
„Was lässt dich so sicher sein?“ wollte Firondhir wissen. „Hast du etwas gesehen?“
„Nein“, musste Ydrir einräumen, „diesmal nicht.“
„Entscheidet euch!“ drängte Margil. „Ehe es zu spät ist.“
Widerwillig gab Ydrir nach, mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern zeigte er Resignation.
„Gut, ich gehe vor“, entschied Margil und schob sich an ihnen vorbei.
„Warum?“ fragte Firondhir verdutzt.
„Wie auch immer diese Drukhari euch beide in ihren Bann geschlagen hat, ich kann euch versichern: was Frauen betrifft, bin ich immun.“